Ukraine-Krieg und Entspannungspolitik: Die Angst der SPD
Analyse In der Debatte über Krieg und Frieden scheinen sich die Sozialdemokraten ein Schweigegelübde auferlegt zu haben. Hat ein USA- und NATO-Kurs längst die Entspannungspolitik abgelöst? Und: Trägt die Basis der Partei das?
Während die innenpolitische Krisenbewältigung die Schlagzeilen beherrscht, hört man außenpolitisch aus der SPD kaum etwas. Seit Kriegsbeginn wirkt die Partei wie traumatisiert. Auf Krawall gebürstete Journalisten, rechte europäische Regierungen oder ukrainische Botschafter können noch so rüpelhaft auf die SPD eindreschen, ihr eine „verfehlte Russlandpolitik“ vorwerfen, die Entspannungspolitik in die Tonne treten und Manuela Schwesig, Gerhard Schröder, Matthias Platzeck und all die anderen, die sich um deutsch-russische Verständigung bemühten, als Putin-Versteher und Russland-Liebchen abqualifizieren – die SPD verteidigt sich nicht, sie erduldet. Ihre Führungsfiguren ziehen im Büßergewand durch die Repub
publik: Ja, wir haben Fehler gemacht, wir waren blind, wir haben geschlafen, mea culpa, mea culpa, wir sind uns unserer Schuld bewusst und kriechen zu Kreuze. Wir geloben Änderung. Weder trauen sie sich, inquisitorischen Talkmastern Contra zu geben, noch wagen sie es, laut zu fragen, wer ihre jahrelang als wichtiges Wirtschaftsprojekt gefeierte sündteure Gaspipeline in die Luft gejagt hat. Schweigend gehen sie darüber hinweg, es wird schon seine Ordnung haben, wir hätten das Ding nicht bauen dürfen. Doch die Selbstkasteiung nützt nichts. In Umfragen ist die SPD seit Kriegsbeginn von 26 auf 19 Prozent abgerutscht.Was ist los mit den Sozialdemokraten? Haben sie jede Selbstachtung verloren? Plappern sie nur noch nach, was US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vorgeben? Gibt es keine eigene Idee von Ost- und Entspannungspolitik? Traut man sich diplomatische Initiativen nicht zu? Schämt man sich gar der Tradition einer „Friedenspartei“?Was Scholz und Klingbeil sagenWenige Reden haben das defensive Schweigegelübde der SPD bislang unterbrochen: Olaf Scholz’ Bundestagsrede zur „Zeitenwende“, in der er – ohne vorherige Debatte in der Partei – ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm verkündete, sowie die Rede des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil anlässlich des 100. Geburtstags von Egon Bahr in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Beide gingen keinen Deut über das hinaus, was die Schutz- und Weltmacht USA von Deutschland verlangt: das Ende der bisherigen Zurückhaltung, das Auftreten als „Führungsmacht Europas“, die schnelle Erweiterung von EU und Nato nach Osten sowie die militärische Abschreckung und politische Isolierung Russlands, mit all den Belastungen für die eigene Bevölkerung, die eine derart hegemoniale Geostrategie kosten wird. Weder Scholz noch Klingbeil formulierten auch nur eine einzige politische Idee, die über das geostrategische Nato-Programm hinausweist. Der SPD-Vorsitzende kündigte lediglich an, eine parteiinterne „Kommission Internationale Politik“ unter seiner Leitung werde in den kommenden Monaten „sozialdemokratische Grundsätze einer neuen Ostpolitik“ erarbeiten. Die Genossinnen und Genossen seien aufgefordert, „breit“ darüber zu diskutieren. Denn Außen- und Sicherheitspolitik dürfe man nicht den exklusiven Zirkeln überlassen.Klingbeils Ankündigung ist ein halbes Jahr her. Von der geplanten Kommission hat man nichts mehr gehört. Den aktuellen Kriegsdebatten steht die Basis der Partei recht ratlos gegenüber. Immerhin weiß sie jetzt, dass die Sätze „Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben“ aus dem Programm zur Bundestagswahl 2021 und „Die strategische Partnerschaft mit Russland ist für Deutschland und die EU unverzichtbar“ aus dem Grundsatzprogramm eiligst begraben werden sollen. „Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren“, sagte Klingbeil dieser Tage vor SPD-Grundwertekommission und -Geschichtsforum.Seit Kriegsbeginn gab es in der SPD nur einen einzigen Versuch, eine echte Debatte über Krieg und Frieden anzustoßen. Mit ihrem Appell „Die Waffen müssen schweigen!“ anlässlich des Antikriegstags am 1. September versuchten einige Dutzend Sozialdemokraten, die atomaren Gefahren des Krieges und die Bedingungen einer Friedensvermittlung auszuloten, darunter der Historiker Peter Brandt (ein Sohn Willy Brandts), fünf Bundestagsabgeordnete, drei Europaparlamentarier, einige DGB-, Falken- und Naturfreundefunktionäre, der ehemalige Bremer Bürgermeister Carsten Sieling, der Bremer SPD-Vorsitzende Reinhold Wetjen und der Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal. „Frieden“, so argumentieren sie, „kann nicht errüstet werden“, und die Neuauflage des Kalten Krieges sei nun mal keine fortschrittliche SPD-Politik: „Wir wollen nicht in eine Ära zurückfallen, die jederzeit an der Schwelle eines Atomkriegs steht, da sowohl Russland als auch die Nato nicht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten.“Diesen verzweifelten Versuch der Parteilinken, die einst so erfolgreiche Entspannungspolitik auch in die neue Zeit zu retten, ließ die außenpolitisch unerfahrene SPD-Spitze ins Leere laufen, unterstützt von hämischen Leitmedien, die bei der Ausgrenzung der Appellanten freudig mithalfen: alles Außenseiter, Ewig-Gestrige, die üblichen Verdächtigen. Im Grunde nämlich fürchtet die SPD-Führung genau jene Debatte, zu der Lars Klingbeil so scheinheilig aufgerufen hat. Die Parteioberen wissen, dass der innerparteiliche Friede dann schnell auf dem Spiel stehen könnte. Denn in der Geschichte der SPD waren es stets die fundamentalen Fragen von „Krieg und Frieden“, welche die Partei innerlich aufgewühlt, zerrissen und geschwächt haben. Immer, so der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, „wenn sie von den Prinzipien einer konsequenten Friedenspolitik abwich“, habe die SPD „ihre größten Niederlagen“ erlitten. Sie mündeten meist „in Niederlagen der gesamten Arbeiterbewegung und der Demokratie“: Bis heute gilt die Bewilligung der Kriegskredite durch die Reichstagsfraktion der SPD am 4. August 1914 als „Ursünde“ der SPD. Noch am 25. Juli hatte die Partei zu Massenkundgebungen gegen alle „Kriegshetzer“ aufgerufen. Dieser „radikale Bruch … mit ihrer eigenen Vergangenheit“ (so der damalige SPD-Mitvorsitzende Hugo Haase) zerstörte nicht nur die Sozialistische Internationale, sondern fast auch die SPD.Eine Partei, vier ZeitenwendenZwei Drittel der Mitglieder verließen die Partei bis Ende 1916. Und als die Kriegsbefürworter die Kriegsgegner Anfang 1917 endgültig aus der SPD warfen, entstand, als linke Alternative, die USPD. Zu ihr gehörten neben Hugo Haase und Georg Ledebour auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Franz Mehring, Kurt Eisner, Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Erst fünf Jahre später fanden die beiden Parteien wieder zusammen. Ihre gegenseitige Lähmung hatte es Rechten und Reaktionären ermöglicht, die Stabilität der Weimarer Republik zu untergraben.Zur zweiten Zerreißprobe kam es in der Panzerkreuzerfrage. Im Wahlkampf 1928 hatten die Sozialdemokraten mit der Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ großen Erfolg. Doch nach der Wahl stimmten die SPD-Minister überraschend für die umstrittene Aufrüstung der Flotte. Die Parteibasis lief dagegen Sturm. Die Führung versuchte, den Protest in eine Debatte über ein neues Wehrprogramm zu lenken, doch die Befriedung währte nur kurz. Im September 1931 lehnten neun SPD-Abgeordnete um Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz das „Sondervermögen Panzerkreuzer“ ab. Sie wurden umgehend aus der SPD ausgeschlossen und gründeten die linke SAP, zu der sich auch der junge Willy Brandt gesellte. Die neuerliche Spaltung schwächte den Widerstand gegen die Nationalsozialisten.Die dritte Auseinandersetzung um Krieg und Frieden begann 1949, als Konrad Adenauers Geheimpläne zur Wiederbewaffnung bekannt wurden. Nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zählte die Ablehnung jedweder Remilitarisierung zu den Grundüberzeugungen der SPD. Rudolf Augstein schrieb damals: „Die neue deutsche Armee wurde nicht gegründet, um den Bonner Staat zu schützen, sondern der neue Staat wurde gegründet, um eine Armee gegen die Sowjets ins Feld zu stellen.“ In den Wehrdebatten des Bundestags weigerte sich die SPD kategorisch, der Wiederaufrüstung zuzustimmen, ihren Wahlkampf führte sie mit der Parole „Nie wieder Krieg!“ 1955 unterstützte die SPD die außerparlamentarische Paulskirchenbewegung, in der sich friedensbewegte Intellektuelle, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Vertreter der Evangelischen Kirche und der Gesamtdeutschen Volkspartei engagierten. Aus letzterer stießen Johannes Rau, Erhard Eppler und Gustav Heinemann zur SPD. 1957 ging dieser Protest praktisch nahtlos in die „Anti-Atomtod“-Kampagne über, denn Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß plante, die Bundeswehr atomar zu bewaffnen. Erst 1959 machte die SPD ihren Frieden mit dem Nato-Beitritt und der Bundeswehr.Die Stimmung verändert sichUngleich dramatischer gestaltete sich der innerparteiliche Streit um die Nachrüstung: Die Nato beabsichtigte, in Westdeutschland 108 US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II sowie 464 Marschflugkörper zu stationieren. Die SPD billigte das Vorhaben auf ihrem Berliner Parteitag im Dezember 1979 mit großer Mehrheit. Zwei Wochen später marschierten die Sowjets in Afghanistan ein und der neu gewählte US-Präsident Ronald Reagan begann seinen „Kreuzzug gegen den Kommunismus“. Der Frieden in Europa stand auf der Kippe.Zwar traute sich die SPD damals noch, die von den USA geforderten Sanktionen abzulehnen und gegen eine Ausweitung des Nato-Einsatzgebietes zu stimmen, doch an der Aufstellung der Pershing-Raketen rüttelte sie nicht. Erst als mehrere SPD-Bezirke und die Jusos rebellierten, als der Bielefelder Friedensappell von Zigtausenden Sozialdemokraten unterzeichnet wurde, Erhard Eppler auf der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten gefeiert wurde und die linken SPD-Bundestagsabgeordneten Manfred Coppik und Karl-Heinz Hansen aus der SPD austraten, wandelte sich die Haltung der SPD-Führung. 1983, kurz nach dem Machtverlust in Bonn, stimmte ein Kölner Sonderparteitag mit überwältigender Mehrheit gegen die Nachrüstung. Die Friedensbewegung hatte die SPD erfolgreich „umgedreht“.Es ist das Wissen um diese Geschichte, welches die SPD-Führung heute auf Tauchstation gehen lässt. Die Parteistrategen hoffen, dass die von Scholz und Klingbeil betriebene Kursänderung von der SPD-Basis eher geschluckt wird, wenn man die Genossen nicht allzu sehr aufwühlt, sondern die einstigen Friedensgrundsätze behutsam, ja mit demonstrativer Zögerlichkeit über Bord wirft. Würde sich die SPD-Spitze – wie in den beschriebenen vier „Zeitenwenden“ – in lange und nervenaufreibende Debatten verstricken, könnte sie in Erklärungsnot geraten. Die SPD ruhig zu halten ist deshalb „das Gebot der Stunde“.Doch die Stimmung „draußen im Lande“ verändert sich. Laut Deutschlandtrend der ARD halten inzwischen 60 Prozent der Bundesbürger eine diplomatische Friedensinitiative der Regierung für überfällig. Die Parteibasis wird dieses Verlangen nicht dauerhaft ignorieren können. Sie muss in die Offensive gehen, selbst wenn die Erlaubnis der Parteiführung dazu nicht ausdrücklich erteilt worden ist.Placeholder infobox-1
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