Die Kanzlerin schwieg, also musste mal wieder jemand von gestern „klare Kante“ zeigen. Ex-CDU-Generalsekretär Peter Tauber nahm die gehässigen Reaktionen auf die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zum Anlass, „rechten Hetzern“ den Entzug der Grundrechte anzudrohen. Denn in Artikel 18 des Grundgesetzes heißt es: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht zum Kampfe gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“
Drei Mal haben Bundesinnenminister der CDU bislang versucht, rechten Hetzern mittels Artikel 18 das Handwerk zu legen, drei Mal scheiterten sie am Widerstand des Bundesverfassungsgerichts. Ihre Anträge wurden gar nicht erst zugelassen.
Am 28. April 1952 beantragte Bundesinnenminister Robert Lehr eine Grundrechtsverwirkung gegen Otto Ernst Remer, den zweiten Vorsitzenden der Sozialistischen Reichspartei (SRP). Remer hatte als Wehrmachtsoffizier des Berliner Wachregiments „Großdeutschland“ geholfen, Oberst Stauffenbergs Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 niederzuschlagen. Aber auch nach dem Krieg nannte Remer die Mitglieder des Widerstands offen „Landesverräter“. Lehr stellte 1951 Strafantrag wegen Verleumdung und betrieb 1952 das erste bundesdeutsche Parteiverbotsverfahren gegen die NSDAP-Nachfolgepartei SRP. Mit Erfolg. Nur der Antrag zu Artikel 18 lag weiter wie Blei. Erst acht Jahre später wiesen die Richter Lehrs Begehren am 25. Juli 1960 als „nicht ausreichend begründet“ zurück. „Insbesondere“ habe die Bundesregierung „weder auf die Verteidigungsschriften des Antragsgegners sich geäußert, noch hat sie auf die Anfragen des Gerichts neue Tatsachen vorgetragen.“
Am 20. März 1969 stellte Bundesinnenminister Ernst Benda einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung gegen den Verleger der rechtsextremen Deutschen Nationalzeitung, Gerhard Frey. Aber das Verfassungsgericht lehnte Bendas Antrag am 2. Juli 1974 ab. „Die Bundesregierung“, so der Zweite Senat, „hat, obwohl ihr vor dieser Entscheidung noch einmal dazu Gelegenheit geboten war, weder auf die ... Verteidigungsschriften erwidert noch – wie vom Gericht angeregt – zur Frage der gegenwärtigen Gefährlichkeit der Antragsgegner Stellung genommen. Sie hat auch keine neuen Tatsachen mehr vorgetragen.“
Karlsruher Bedenken
Am 9. Dezember 1992, wenige Wochen nach dem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Mölln, stellte Bundesinnenminister Rudolf Seiters einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung gegen die beiden Neonazis Thomas Dienel und Heinz Reisz. Seiters wollte damit ein „deutliches Zeichen gegen rechtsextremistische Gewalt und Propaganda“ setzen. Dienel hatte in einer Rede gesagt: „In Auschwitz wurde niemand umgebracht. LEIDER wurde niemand umgebracht.“ Wegen Volksverhetzung musste er ins Gefängnis. Danach arbeitete er für den Verfassungsschutz. Der hessische Neonazi Heinz Reisz mobilisierte bereits 1970 in der „Aktion Widerstand“ gegen Willy Brandts Ostpolitik („Brandt an die Wand!“). Später gehörte er dem engeren Kreis des militanten Neonazi-Führers Michael Kühnen an. Doch auch die Anträge gegen Dienel und Reisz lehnte das Verfassungsgericht am 18. Juli 1996 als „unzureichend begründet“ ab.
In allen drei Fällen schien den Richtern das Strafrecht ausreichend und schneller wirksam zu sein als die langsamen Mühlen des Verfassungsgerichts. Aber weshalb zögerten die Karlsruher Richter die anhängigen Verfahren so lange hinaus, bis selbst die Antragsteller das Interesse verloren und die Nachfragen des Gerichts unbeantwortet blieben?
Eine mögliche Antwort könnte sein: weil Artikel 18 verfassungswidrig ist. Denn in Artikel 19 des Grundgesetzes steht, dass Grundrechte nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen. Grundrechtseinschränkungen sind Sache des Parlaments, nicht der Justiz. Die Verfassungsrichter entzogen sich allen Entscheidungen zu Artikel 18, weil ihnen bewusst war, dass ein solcher Artikel in einer demokratischen Verfassung nichts zu suchen hat.
Aber wie ist er dann ins Grundgesetz gekommen? Offenbar wollte der Parlamentarische Rat mit Artikel 18 an die Tradition der Republikschutzgesetze von Weimar anknüpfen. Nach dem gescheiterten Kapp-Putsch vom 13. März 1920 und einer Serie rechtsextremistischer Attentate, denen bis zum 24. Juni 1922 die Politiker Kurt Eisner, Karl Gareis, Matthias Erzberger und Walther Rathenau zum Opfer fielen, hatte sich die Regierung unter Reichskanzler Joseph Wirth entschlossen, verbale und tätliche Angriffe auf republikanische Politiker künftig mit drakonischen Strafen zu ahnden, die Schließung von Zeitungen zu ermöglichen und das Versammlungs- und Vereinigungsrecht drastisch einzuschränken. Die Regierung müsse „scharf durchgreifen“, wenn sie sich nicht selber aufgeben wolle, so der spätere Gründer des Freitag-Vorgängers Deutsche Volkszeitung, Joseph Wirth.
Schon dieses allererste Republikschutzgesetz, das von einer großen Koalition aus SPD, USPD, Zentrum, DDP und Teilen der DVP getragen wurde, war im Kern verfassungswidrig und konnte nur mit einer „verfassungsdurchbrechenden“ Zweidrittelmehrheit vom Reichstag verabschiedet werden. Genützt hat es wenig, im Gegenteil, je weiter sich der öffentliche Diskurs nach rechts verschob, desto häufiger wurde das Gesetz gegen Linke eingesetzt. 1933 diente es den Nazis als Vorbild für die sogenannte Reichstagsbrandverordnung. Mit ihr wurden die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt.
Trotz dieser offenkundigen Tendenz zum Missbrauch wurde auch nach 1945 immer wieder versucht, die Demokratie mit untauglichen Mitteln zu schützen, vom autoritären Entwurf eines Bundespressegesetzes 1952, das Presseorgane einer staatlichen Aufsicht unterwerfen wollte, bis zum im Jahr 2017 verabschiedeten Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Dabei reichen die Paragrafen des Strafgesetzbuches vollkommen aus.
Taubers Empfehlung, Artikel 18 des Grundgesetzes zu aktivieren, ist also nur ein Schaufenstervorschlag. Als promovierter Historiker müsste er wissen, wie fruchtlos seine Anregung angesichts der bisherigen Rechtsprechung ist.
Teile der Union wollen eine Diskursverschiebung: weg von der Klimagerechtigkeit hin zur inneren Sicherheit. Ihnen spielt Tauber – womöglich unwissentlich – in die Hände. Denn sie verfolgen vor den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen die Strategie, eine Polarisierung zwischen einer „mutig intoleranten“ CDU und einem staatsgefährdenden „Duo Infernale“ aus Grünen und AfD zu erzeugen.
Die Beispiele für eine solche Diskursverschiebung häufen sich: Altbundespräsident Joachim Gauck zieht durch die Talkshows, um den Begriff „rechts“ zu „entgiften“. In bewusster Vieldeutigkeit fordert er „eine erweiterte Toleranz in Richtung rechts“. Friedrich Merz äußert in Sandra Maischbergers Talkshow: „Wir müssen das Nationalgefühl in Deutschland ernst nehmen und wieder als ein wichtiges Thema ansehen.“ In Sachsen-Anhalt erklären die stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden Ulrich Thomas und Lars-Jörn Zimmer: „Es muss wieder gelingen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen.“ Die CDU sei „multikulturellen Strömungen linker Parteien und Gruppen“ zuletzt „nicht ausreichend entgegengetreten.“ Hans-Georg Maaßen, bis 2018 Verfassungsschutz-Präsident, schlägt in dieselbe Kerbe: „Ich sehe, dass bei vielen Menschen ein sehr großer Bedarf nach konservativen Werten und Positionen besteht. Diese Positionen muss die CDU, wenn sie eine Partei der Mitte sein will und nicht eine Klientelpartei im links-grünen Bereich, auch bedienen.“
Springer zündelt wieder
Die Springer-Blätter unterstützen die krampfhaften Polarisierungsversuche, indem sie AfD und Grüne gleichsetzen. Unter der Schlagzeile „Die neue Macht der Emotionen: Was Grüne und AfD gemeinsam haben“ werden beide Parteien als ruchlose Populisten entlarvt. Auch die Neue Zürcher Zeitung übt sich im Grünen-Bashing und übernimmt so besorgt wie sorglos die Sprachregelung von Hardcore-Rechten: „Vom öffentlichen Fernsehen über investigative Nachrichtenmagazine bis zu großen Tageszeitungen gibt es in deutschen Medien einen neuen Mainstream: grün.“
Doch „grün“ sei in Wahrheit nur ein getarntes „links“. Die Aufmärsche und Blockaden der „selbst ernannten Klimaretter“ von Fridays for Future und Ende Gelände in Aachen und Garzweiler beweisen es: Hier handeln nicht liebe Bürgerkinder, sondern linksradikale Systemveränderer, die Polizisten angreifen und Arbeitsplätze gefährden! Nicht nur die Befürworter einer „schwer konservativen“ CDU, sondern auch die Befürworter einer schwer rechten SPD ergreifen derzeit jede Chance, um gegen die „postmodern-internationalistische Hyper-Moral“ der Grünen und das „rückwärtsgewandte, braune Nationalisten-Pack“ der AfD vom Leder zu ziehen.
Die von den schrumpfenden etablierten Parteien und manchen Medien hochgespielte Polarisierung – hier braune Nazipartei, dort grüne Verbotspartei – führt durch bedenkenlose Übertreibung auch zu fatalen Reaktionen an den ausfransenden, für jede Art von „Hetze“ empfänglichen Rändern des politischen Diskurses. Am äußeren rechten Rand zeigen sich terroristische Tendenzen („Wir wollen Taten, nicht Worte!“) nun früher und brutaler, weil den Rechten nachgerade eingebläut wird, dass ihnen eine „links-grün versiffte“ Regierung drohe. Es war auch kein Zufall, dass die rechte Mordserie der „ersten Generation“ um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe während der ersten rot-grünen Koalition begann.
Wie also können die Auswüchse einer fahrlässig herbeigeredeten Polarisierung vermieden werden? Die Grünen müssen höllisch aufpassen, dass ihre Themen nicht zugunsten der inneren Sicherheit untergehen. Aber auch die Linken müssen aufpassen, dass die Abwehr des Rechtsterrorismus nicht als Vorwand dient, um Bürgerrechte insgesamt zu beschneiden.
Das Vorgehen ist ja bekannt: Dem ersten CDU-Antrag auf Anwendung des Grundgesetz-Artikels 18 folgte das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), dem zweiten folgte der Radikalenerlass, dem dritten die Verschärfung des Asylrechts. Innenminister Horst Seehofer hat angekündigt, er werde Taubers Vorschlag „ernsthaft prüfen“ und „alle Register ziehen, um die Sicherheit zu erhöhen“.
Der Anruf des Artikels 18 ist immer ein großes Alarmzeichen. Auf den ersten Blick mutet er an wie ein strategisch motivierter Schaufenstervorschlag, doch er kann auch zum Auftakt werden für eine Politik, die den „starken Staat“ gegen die Bürgerrechte und die aufbegehrende Zivilgesellschaft in Stellung bringt.
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