Die Firma bittet um Diskretion

Datenschutz bei Siemens Ein beispielloser Fall von interner Spionage gegen einen unbequemen Münchner Betriebsrat

Erst jüngst ist öffentlich geworden, was sich schon im Sommer vor zwei Jahren abspielte: Das Management des Siemens-Konzerns filzte 70.000 Betriebsrats-Dateien - und das auch noch gleichsam im öffentlichen Auftrag, abgesegnet durch die Staatsanwaltschaft München. Tatort war der Münchener Siemens-Betrieb Hofmannstraße mit damals noch über 10.000 Beschäftigten und einem sehr engagierten Betriebsrat.

Die Vorgeschichte lautet wie folgt: Im August 2002, mitten in der Urlaubszeit, verkündet die Siemens AG sozusagen von jetzt auf gleich, 2.500 Arbeitsplätze beim Münchener Siemens-Betrieb Hofmannstraße, der Zentrale der Netzsparte, abbauen zu wollen. Vollzugstermin soll der 30. September 2002 sein. Doch kommt das Unternehmen mit dieser Überfalltaktik nicht durch: Im Spätherbst handelt der Betriebsrat mit Hilfe der IG Metall einen Interessenausgleich und Sozialplan aus, der unter anderem eine Arbeitszeitverkürzung für alle Betriebsangehörigen, das Angebot zum Übergang in eine Siemens-interne Beschäftigungsgesellschaft und die Möglichkeit von maximal 1.100 betriebsbedingten Kündigungen vorsieht.

Daraufhin bekommt der zuständige Betriebsrat Anfang Januar 2003 auf einen Schlag über 360 Kündigungen auf den Tisch. Die meisten verstoßen massiv gegen die Prinzipien der Sozialauswahl, wie später auch die Arbeitsgerichte unisono feststellen werden. Das Management hat angesichts des Interessenausgleichs wohl trotzdem mit dem stillschweigenden Einverständnis der Arbeitnehmervertretung gerechnet. Aber noch innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Sieben-Tage-Frist formuliert der Betriebsrat - der damals nahezu Tag und Nacht tagt - gegen fast jede beabsichtigte Kündigung einen qualifizierten Widerspruch. Und genau diese Interventionen vom Januar 2003 und ihre Protokollierung stehen im Zentrum der jetzt ruchbar gewordenen Datenspionage.

Zurück zur Vorgeschichte: Trotz der Widersprüche des Betriebsrats spricht der Konzern weit über 200 Kündigungen aus. Die meisten Betroffenen legen dagegen Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht ein. Siemens verliert sämtliche Verfahren - was nicht überraschen kann, sind doch die Widersprüche des Betriebsrates allesamt rechtlich begründet.

In den Arbeitsgerichtsverfahren erheben die Anwälte von Siemens den Vorwurf, der Betriebsrat habe in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit unmöglich alle Klagen mit der vorgeschriebenen Sorgfalt prüfen können. Dieser Tatbestand sei verschleiert worden, indem man das Protokoll der entsprechenden Betriebsratssitzung nachträglich verändert habe. Diese Argumentation stützt sich auf eine Anzeige "gegen Unbekannt", die im Frühjahr 2003 bei der Staatsanwaltschaft eingegangen ist. Gestellt hat sie ein Manager der Zentralen Personalabteilung der Siemens AG. Hintergrund ist ein angeblich beim Unternehmen eingegangener anonymer Brief, in dem der Betriebsrat der Protokollfälschung bezichtigt wird. Die Staatsanwaltschaft ermittelt pflichtgemäß, stellt ihre Nachforschungen aber im Januar 2004 ein. Es finden sich keine hinreichenden Anhaltspunkte, um den Verdacht zu erhärten. Die mit den Siemens-Kündigungen befassten Kammern des Arbeitsgerichts München bewerten zudem die Siemens-Argumente gegen die Protokolle des Betriebsrates durchgängig als "unerheblich für den Ausgang der Kündigungsschutzklagen".

Noch während die Ermittlungen laufen, geht im Juni 2003 eine weitere Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein, dieses Mal von einem "Privatmann" wegen vorgeblicher Urkundenfälschung, falscher eidesstattlicher Versicherung sowie versuchten Prozessbetrugs. Diese Anzeige richtet sich jetzt nicht mehr "gegen Unbekannt", sondern gegen zwei Mitglieder des Betriebsrates, darunter den damaligen Vorsitzenden. Der ›private‹ Kläger ist zu diesem Zeitpunkt pikanterweise Sprecher der Betriebsleitung in der Hofmannstraße - also der direkte Gegenüber des Betriebsrates.

Im Auftrag des Staatsanwalts

Diesmal findet Siemens nach einem personellen Wechsel in der Staatsanwaltschaft mehr Gehör: Die Ermittler bitten den Konzern unter anderem, "entsprechende Einträge in ihren Computern aufzubereiten" und Daten zu sichern, die in Verbindung mit den betreffenden Betriebsratssitzungen stehen.

Ein 19-seitiger Bericht des Siemens-internen Datenauswerters zeigt, wie sich die von der Staatsanwaltschaft mit Polizeiaufgaben betraute Siemens-Abteilung ihrer Aufgabe mit Feuereifer widmet und dabei weit übers Ziel hinausschießt. Der Konzern kann bei diesem denkwürdigen Stil staatsanwaltschaftlicher "Ermittlungen" dank seiner Sachkenntnis praktisch selbst vorgeben, wonach gesucht werden soll.

Als der damit beauftragte Siemens-Mitarbeiter - ein ehemaliger Polizist - beginnt, die Dateien des Betriebsrats "sicherzustellen", ist bereits klar, dass sich die Informationen, nach denen "offiziell" gesucht werden soll, gar nicht auf den Computern finden lassen. Wann welche Person eine bestimmte Version eines Protokolls geändert hat beziehungsweise wann welche Protokollkopie zu den Akten genommen wurde, ist aufgrund der Tatsache, dass entsprechende Logdaten sofort automatisch gelöscht werden, ohnehin nicht festzustellen. Im Übrigen ist auch klar, dass Protokollieren nie die Aufgabe des Betriebsratsvorsitzenden war. Das heißt, auf seinem Computer lassen sich keine entsprechenden Daten finden - und folgerichtig finden sich auch keine, um die angeblichen Protokollfälschungen nachzuweisen. Dennoch schnüffelt der Konzern-Detektiv - am Betriebsverfassungsgesetz und am Grundgesetz vorbei - weiter. Das Ergebnis: Es werden 18,3 Gigabyte an Datenmaterial "beschlagnahmt" - das bedeutet: mehr als 70.000 Dateien des Siemens-Betriebsrats.

Schon bevor das Unternehmen diese allesamt passwortgeschützten Daten ausspioniert hat, ist klar: Es gibt in der Tat mehrere Versionen des kopierten Protokolls - doch für die Kündigungsschutzklagen signifikante Differenzen zwischen ihnen existieren nicht. Das bestätigen den Ermittlern auch die Mitglieder im Personalausschuss des Betriebsrates. Niemand hätte also aus den Abweichungen in den Protokollkopien Nutzen ziehen können. Ein Schluss, zu dem die Staatsanwaltschaft schon bei ihren ersten Ermittlungen im Januar 2004 gekommen ist.

In der Bewertung dieser beispiellosen Vorgänge spricht der von den betroffenen Betriebsräten und der IG Metall beauftragte Anwalt von einer "Uferlosigkeit der Schnüffelei" und wirft der Münchener Staatsanwaltschaft vor, sie sei "blindlings der Begehrlichkeit der Unternehmensleitung" gefolgt, die Vertretung der Arbeitnehmer "auszuspähen". In der Konsequenz heißt das: Die Justiz hat sich nicht nur instrumentalisieren lassen, sondern sie hat - so der Anwalt weiter - obendrein "die selbst ernannten Ermittler bei der Siemens AG mit der Autorität von Hilfssheriffs ausgestattet und sie im Datenbestand des Betriebsrates nach Belieben wildern lassen". Die Betriebsleitung ihrerseits nutzte den Blanko-Scheck der Ermittlungsbehörden, um die Daten von Betriebsratsmitgliedern per Schleppnetz und ohne jede Differenzierung abzuschöpfen. Dass ihre Schnüffelei alle Rechtsmaßstäbe verletzte - schließlich ist die Betriebsratsarbeit gesetzlich geschützt -, war auch den verantwortlichen Siemens-Mitarbeitern bekannt. Nicht zufällig heißt es in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft: "Die Firma Siemens AG bittet um äußerste Diskretion."

Um es noch einmal klar zu sagen: Die Einsicht in Daten des Betriebsrats erfolgte ohne richterlichen Beschluss, nur mit Billigung der Staatsanwaltschaft. "Ermittelt" hat nicht etwa die Staatsanwaltschaft oder ein Richter und - auf deren Weisung - die Polizei, sondern quasi das Unternehmen selbst, das noch dazu selbst die Anzeige erstattet hatte - denn der "private" Kläger war zugleich Sprecher der Betriebsleitung am Standort. Dass der beauftragte Siemens-Daten-Rechercheur weit über den Ermittlungsauftrag hinausging (70.000 Dateien!) kann nicht verwundern. Die Staatsanwaltschaft hatte das faktisch legitimiert.

Warum die ganze Schnüffelei?

Werner Neugebauer, Chef der IG Metall Bayern, spricht in einem Brief an die Bayerische Staatskanzlei deshalb davon, dass sich die Staatsanwaltschaft München als Rechtspflegeorgan des Freistaats Bayern "allzu bereitwillig für die illegale Datenschnüffelei der Firma Siemens prostituiert hat". Neugebauer ist sicher: "Die Staatsanwaltschaft hat Recht gebrochen, indem sie völlig Unbeteiligte, in diesem Fall Beschäftigte der Siemens AG, beauftragt hat, in Betriebsratsdateien herumzuschnüffeln". Die Staatsanwaltschaft hat ihre hoheitliche Aufgabe, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, an ein Privatunternehmen übertragen, damit dieses im Eigeninteresse ungehemmt vertrauliche Daten ausspionieren konnte.

Offenbar wollte Siemens mit diesem Vorgehen gegen die Kündigungsschutzklagen sozusagen eine "flankierende Maßnahme" ergreifen. In der Tat hätte es dazu kommen können, dass die Prozesse vor den Arbeitsgerichten wegen der unterstellten Protokollfälschung in erster Instanz verloren gegangen oder zumindest bis zur rechtskräftigen Klärung dieses Vorwurfs ausgesetzt worden wären. Dann hätten die Betroffenen über längere Zeit vom Arbeitslosengeld, später von ALG II, leben müssen. Ob unter diesen Umständen alle Gekündigten den Rechtsstreit mit dem Unternehmen durchgehalten hätten, darf bezweifelt werden. Es ging also darum, dass Siemens die ganze Prozesswelle stoppen und viele Millionen Euro sparen wollte.

Gleichzeitig sollten mit dem Ermittlungsverfahren offenbar auch aktive Betriebsräte verunglimpft und exemplarisch abgestraft werden. Nicht umsonst startete die Siemens eng verbundene "Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger" (AUB) im Winter 2004 im Umkreis des Siemens-Betriebs Hofmannstraße eine Plakatkampagne auf öffentlichen Werbeflächen (!) mit massiven Angriffen gegen den damaligen Betriebsratsvorsitzenden.

Außerdem ging man wohl davon aus - bei einer solchen Datenschnüffelei bleibt immer etwas "hängen". Es sind "Zufallsfunde" denkbar, die für Abmahnungen oder andere Angriffe auf engagierte Arbeitnehmervertreter herhalten können. Nur haben auch in dieser Hinsicht die "Recherchen" nichts "Verwertbares" erbracht.

Wenn die Leitung einer Weltfirma auf die geschilderte Weise gegen Recht und gute Sitten verstößt, kann das verheerende Folgen für alle Beschäftigten und ihre Vertretungen provozieren. Das Ausspähen von Daten untergräbt die Tätigkeit der Arbeitnehmervertreter. Wer schickt seinem Betriebsrat noch vertrauliche Mails, wenn keine Sicherheit mehr besteht, dass sie vertraulich bleiben?

Betriebsräte konnten sich noch nie gewiss sein, dass ihre Unterlagen vor den interessierten Augen des Unternehmens geschützt sind. Nach diesem Skandal bei Siemens können sie es weniger denn je. Neu allerdings ist die Methode, unliebsame Betriebsräte haltlosen strafrechtlichen Ermittlungen zu unterwerfen. Bisher hat die Staatsanwaltschaft München ihre Ermittlungen in der Sache noch immer nicht eingestellt. Über den betroffenen Betriebsräten schwebt also weiter das Damoklesschwert der Strafverfolgung. Deren Anwalt hat zwar Beschwerde gegen das Vorgehen der Staatsanwaltschaft eingelegt und überprüft eine Anzeige gegen Siemens wegen Datenausspähung durch Vortäuschen einer Straftat, doch sieht der bayerische Datenschutzbeauftragte keinen Anlass für ein Eingreifen.

Der Siemens-Vorstand seinerseits gab den Fall zur Untersuchung an die interne Revision weiter, während sich der Gesamt-Betriebsrat des Unternehmens entschlossen hat, alle Daten künftig über Server laufen zu lassen, die vom Firmennetz völlig abgekoppelt sind.

Der Autor ist in München Beauftragter der IG Metall für Siemens und die IT-Branche.


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