Die Internet-Mafia

VON DER BASISDEMOKRATIE ZUR HIGHTECH-WILLKÜR Im worldwide web beherrscht Big Business die Szene, definiert die Regeln und missbraucht massenhaft die anfallenden Daten

Vor Jahren hatte Jerry Barlow, früher einmal Texter der San Francisco-Rocklegende Grateful Dead, in einem Manifest proklamiert, Staaten, Regierungen und Politiker sollten bitte schön die Finger vom Internet lassen. Die www-Community könne selbst die nötigen Regeln etablieren. Das war zu Zeiten, als die Visionen der libertären Unschuld und der basisdemokratischen Potentiale des Internets noch nicht ganz von den Dollar-Realitäten widerlegt waren. Heute dagegen ist rund um das worldwide web längst ein Milliarden-Markt entstanden.

In den USA, deren Konzerne das Internet dominieren, werden nicht nur die technischen, sondern auch die gesellschaftlichen und juristischen de-facto-Standards für das Internet definiert. Hier zeigt sich inzwischen, was die Forderung nach Selbstregulierung bedeutet: Hinter verschlossenen Türen entscheiden Firmen und deren Verbände über das wichtigste Zukunftsmedium. Dagegen sind bislang alle Vorstöße von Verbraucherschützern, Bürgerrechts-Koalitionen und Gewerkschaften gescheitert, Bundesgesetze zum Schutz der Bürger einzufordern.

Vor zwei Jahren hatte Clinton-Berater Ira Magaziner in der Denkschrift Rahmen für den globalen elektronischen Handel die Position der Regierung begründet: Der Staat soll sich grundsätzlich raushalten und selbst dort, wo es gewisse Regeln geben müsse, etwa beim Schutz der Privatsphäre und bei der Besteuerung, seien halbstaatliche internationale Organisationen wie die OECD am besten für die Kontrolle geeignet. Die Gremien dieser Organisationen sind allerdings nicht gewählt, sie sind niemandem zur Rechenschaft verpflichtet, es gibt kaum Regeln über angemessene Prozesse und Verfahren. Während die Bürger auf Kommunalebene über Schulen und Straßenbau mitentscheiden können, soll das Internet eine demokratiefreie Zone bleiben.

Cybersquatting

Zu welchen Konsequenzen dieses Politikverständnis führt, zeigt der Streit um das sogenannte »Cybersquatting«. Squatter sind Hausbesetzer, und mit Cybersquatting ist die Eintragung von solchen, bislang freien Internet-Domain-Namen gemeint, die mit dem Namen eines Markenartikels identisch sind. Bislang wurden diese Konflikte mit viel Geld gelöst. Findige Cybersquatter haben auf diese Weise Millionen gemacht. Um sich nun das Vorrecht auf alle Domain-Namen zu sichern, die ihre Markennamen enthalten, haben US-Unternehmen von Ford über Time-Warner bis Walt Disney die für geistiges Eigentum zuständige World Intellectual Property Organization (WIPO) intensiv bearbeitet. Verbraucherschützer und Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen erfuhren erst Monate später von den Anhörungen in Sidney, Brüssel und anderswo. Nicht überraschend hat die WIPO entschieden, dass es im Konfliktfall zur Zwangsschlichtung kommt, wenn der Eigentümer eines geschützten Markennamens es verlangt. Die unterlegene Seite muß die Anwaltskosten der anderen Seite tragen. Die Kapitalinteressen haben sich also voll durchgesetzt.

Doppelklick-Verträge

In den USA sind elektronische Kaufverträge zu einem weiteren Streitpunkt geworden. Viele Firmen, die im Internet Produkte und Dienste vertreiben, reduzieren ihr Haftungsrisiko durch einseitige Vertragsbedingungen. Durch Doppelklick stimmt der Käufer den Vertragsbedingungen zu. Die Möglichkeit, andere Bedingungen auszuhandeln, gibt es nicht. Wenn schon bei Versicherungs- oder Mobilfunkverträgen in Papierform kaum jemand das Kleingedruckte liest, um wieviel weniger dann elektronisch auf dem Bildschirm. Auch hier hat ein halböffentliches Gremium im Auftrag der Clinton-Administration und unter heftigem Einsatz der E-Commerce-Mafia entschieden, dass Doppelklick-Kontrakte legal sind. Damit wird der Verbraucherschutz, der in den USA weiter entwickelt ist als in Europa, im Internet ausgehebelt. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Deregulierung vom elektronischen auf andere Marktplätze übergreift.

Data Mining
Orwell's Big Brother ist die Vision des omnipotenten HighTech-Polizeistaats. »Little Brother« ist banaler: Es ist der Manager des lokalen Supermarkts oder der Datenbank-Verwalter von VisaCard, der jedes Detail über die Konsumgewohnheiten der Kundschaft kennt. Anders als für Big Brother ist die konkrete Person uninteressant, nur die Verbrauchsgewohnheiten interessieren. »Electronic Profiling« nennt sich die neue Geheimwaffe. Diese Daten sind so begehrt, dass eine ganze Industrie hier entsteht. Die New Yorker Firma DoubleClick erfaßt jeden Maus klick bei der Benutzung eines Web-Browsers und nutzt die gewonnene Information, um Werbung präzise auf Benutzervorlieben anzupassen. Firefly, Microsoft und Netscape interessieren sich für persönliche Vorlieben von Web-Seiten bis zu Musikstilen. Jede elektronische Transaktion - vom Kauf per Internet über einen Anruf bis zum Bezahlen mit Kreditkarte - hinterläßt Datenspuren, die an andere Firmen weitergegeben werden. In den USA gibt es bislang keine Vorschriften darüber, welche Daten verkauft oder gekauft werden dürfen.

Schon lange gab es in den USA Warnungen vor den Datenbanken der Firmen und ihren Dossiers. Aber ebenso wie die Stasi mit ihren gewaltigen Datenbeständen wenig anfangen konnte, so war es bis vor wenigen Jahren zu schwierig und einfach zu teuer, relevante Informationen aus verschiedenen inkonsistenten Datenbanken zu gewinnen. Aber durch den Verbund von Internet, riesigen elek tronischen Datenspeichern und neuer »Data Mining«-Software ist alles anders geworden.

Data Mining ist eine Technologie, die mit Hilfe von mathematischen und statistischen Modellen Verhaltensmuster aus riesigen Datenbeständen herausfiltert. Diese Software wird beispielsweise vom Kaufhaus-Konzern Wal-Mart genutzt, um Käufer-Loyalitäts-Programme zu entwickeln und das Sortiment nach saisonalen Anforderungen präziser zu steuern. Citibank, Visa, IBM und andere Firmen entwickeln Programme, mit denen frühzeitig eine Überschuldung bei Bankkunden prognostiziert werden kann - quasi eine elektronische »Schwarze Liste«.

Ein Traum im Direkt-Marketing
Die Telefon-Gesellschaft MCI-Worldcom verbindet ihre eigenen Kundendaten mit den demographischen Daten von Marketingfirmen und auch mit Mailinglisten von Magazinen wie Rolling Stone, um die Kundenvorlieben noch präziser zu erfassen. Die Firma FirstData in Atlanta, die mehr als 80 Prozent aller Kreditkarten-Transaktionen für US-Banken abwickelt, benutzt die Software, um genaue Verbraucherprofile zu gewinnen und zu verkaufen. Wer zum Beispiel regelmäßig in einem bestimmten Restaurant isst, bekommt dann vielleicht Post von der nahegelegenen Konkurrenz, die das Essen 15 Prozent billiger anbietet. Dieses zielgenaue Marketing ist der Traum der Branche: First Data berichtet, dass teilweise 20 Prozent der Verbraucher auf solche Angebote reagiert haben - ein Traum im Direkt-Marketing.

Diesen Missbrauch seiner Daten hat kein Verbraucher jemals explizit erlaubt. Zwar haben alle Kreditkarten-Inhaber in den USA die Möglichkeit, die profitable Nutzung ihrer Daten durch Anruf bei einer 0800-Nummer oder durch expliziten Vermerk auf ihren Abrechnungen auszuschließen. Aber die Kritiker des Datenmissbrauchs argumentieren zu Recht, das normale Prozedere sollte umgekehrt werden: Nicht-Weiterverwendung der Transaktionsdaten als Regelfall und Weitergabe nur bei expliziter Zustimmung des Kunden.

Die gesellschaftliche Diskussion über Gesetze für das Internet enzündete sich bislang vor allem an einzelnen Fällen von Pornographie und rechtsradikaler Agitation. Alltägliche Praxis ist dagegen der kommerzielle Mißbrauch, den man nur mit klaren internationalen Regeln eindämmen könnte. Überfällig ist eine Debatte darüber, wer mit welcher Legitimation die Rahmenbedingungen setzen darf. An einem Flickwerk inkonsistenter lokaler Regeln - europäischer Datenschutz, arabische oder bayerische Moralvorschriften, chinesische Zensur oder weltweit divergierende Steuersätze - haben schließlich auch die Unternehmen kein Interesse.

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