Jeder über 35 ist erledigt

IMPORT VON COMPUTER-SPEZIALISTEN Schröders Vorstoß bedient vor allem das Interesse der Unternehmen an jungen, flexiblen und billigen Fachkräften

Die HighTech-Industrie produziert nicht nur Hardware und Software, sondern auch viel »vaporware«, zu deutsch: »heisse Luft«. So gelten Microsoft und IBM als Firmen, die immer wieder vaporware annoncieren - Produkte, die es noch gar nicht gibt. Die vaporware hält die Kundschaft erfolgreich davon ab, bei der Konkurrenz einzukaufen. Der letzte Schrei bei vaporware ist allerdings kein neues HighTech-Produkt, sondern der in jeder Sonntagsrede und auf jeder Computermesse behauptete dramatische Mangel an Spezialisten für die Informationstechnik (IT). Inwieweit aber gibt es überhaupt den Bedarf, den Schröder jetzt mit seiner Import-Offensive für IT-Fachkräfte bedienen will? Und wie ist die Situation in den USA, die vom Kanzler so gern als Vorbild zitiert werden?

Im Moment erleben wir eine verkehrte Welt: Dieselben Wirtschaftskreise, die gegen die doppelte Staatsbürgerschaft sind und die noch nie gegen die staatliche Abschiebepraxis protestiert haben, setzen sich jetzt mit ihrer Forderung durch, zunächst 30.000 IT-Spezialisten aus Ländern außerhalb der EU eine befristete Arbeitserlaubnis (»green card«) zu erteilen. Menno Harms, der Chef von Hewlett-Packard Deutschland, und Volker Jung vom Siemens-Zentralvorstand haben dafür lange geworben. In den Gewerkschaften dagegen ist heftiger Streit entbrannt. Der DGB ist gegen eine generelle Aufhebung des Anwerbestopps für Spezialisten, in den Einzelgewerkschaften sind die Positionen geteilt.

Der DGB verweist auf die zirca 30.000 Arbeitslosen im IT-Bereich, beklagt die Diskriminierung von Älteren, sieht Gefahren für die ohnehin gedrosselten Ausbildungsanstrengungen der Branche und befürchtet Lohndumping, wenn der aktuelle Boom einmal nachlässt. Schließlich haben IBM, Siemens, Digital Equipment und andere noch Anfang der neunziger Jahre Ingenieure und Entwickler zu Tausenden auf die Straße gesetzt. Der behauptete Fachkräftemangel wäre also von denen mitverschuldet, die ihn heute bejammern. Die mit der Ingenieursausbildung befassten Hochschullehrer können davon ein Lied singen. Manche weigern sich bis heute, Praktikanten zu Siemens zu schicken, weil der Konzern vor zehn Jahren massiv eine Ingenieurschwemme beschworen hatte.

Aber es gibt auch viele Anhaltspunkte dafür, dass der von der Branche beschworene Fachkräftemangel so schlimm gar nicht ist. Konzerne wie IBM Deutschland sind nach wie vor eifrig bemüht, alle Beschäftigten über 49 per Aufhebungsvertrag loszuwerden. Selbst im boomenden Südbayern sind Elektronikingenieure und Software-Entwickler arbeitslos gemeldet. Weil die Beschäftigten wissen, dass man/frau jenseits von 35 oder 40 Jahren kaum noch vermittelbar ist, entwickelt sich die Altersdiskriminierung zu einem der heißesten Themen auf Betriebsversammlungen. Die Vermutung liegt also nahe, dass der angebliche IT-Fachkräftemangel vor allem ein gut platzierter Marketing-Ballon ist, um durch Arbeitskräfte-Import die Gehälter in der Branche zu drücken und nötige Investitionen für Qualifizierung zu sparen.

In den USA hat die HighTech-Industrie seit Jahren überaus erfolgreich die Anwerbung von IT-Fachkräften aus Übersee forciert. Immer wieder sind vom US-Kongress Quoten für entsprechende »green cards« beschlossen worden. Begründung: Der Fachkräftemangel gefährde den Boom der wichtigsten Wirtschaftslokomotive der USA und damit die Gesamtkonjunktur. Entgegen dieser These machen die US-Gewerkschaften allerdings die Erfahrung, dass es den Firmen vor allem darum geht, Gehälter zu drücken, weitere Flexibilisierung herbeizuführen und ältere, meist gutbezahlte Fachkräfte gegen jüngere und billigere auszutauschen. In einer ausführlichen Studie zum Thema bekräftigt Norman Matloff von der University of California: »Es gibt keinen verzweifelten Mangel an Software-Spezialisten. Arbeitgeber stellen nur zwei Prozent aller Bewerber ein. Wenn die Arbeitgeber so verzweifelt wären, könnten sie nicht so wählerisch sein. Das durchschnittliche Gehaltswachstum für Programmierer ist moderat. Die angeblich so verzweifelten US-Arbeitgeber haben es aktuell nur auf drei Untergruppen des Pools an Software-Spezialisten abgesehen: erstens frische Hochschulabsolventen, die weniger Gehalt bekommen als erfahrene Programmierer und die - weil typischerweise Singles - eher bereit sind, unbezahlte Mehrarbeit zu leisten; zweitens billige Ausländer mit Visum; drittens Programmierer, die das Glück haben, Erfahrungen in einer aktuell gefragten, ›heißen‹ Programmiersprache zu haben.«

Die Altersdiskriminierung ist in der IT-Industrie der USA weit verbreitet. Die offizielle Arbeitslosigkeit bei Programmierern über 50 beträgt 17 Prozent, obwohl die Arbeitgeber behaupten, sie seien händeringend auf der Suche nach Bewerbern. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit liegt noch höher, weil viele Programmierer die Stellensuche aufgeben und nicht mehr in der Statistik auftauchen. Unter den College-Absolventen mit IT-Abschluss sind nach 20 Jahren nur noch 19 Prozent in der Branche tätig. Viele Branchenvertreter haben zugegeben, dass sie ihre Rekrutierungsbemühungen auf diejenigen konzentrieren, die gerade das College verlassen. Ein Dokument von Sun Microsystems, einem der Hauptakteure der Arbeitgeberkampagne, qualifiziert jeden mit sechs Jahren Berufserfahrung als »Senior«. Wer direkt nach dem College anfing, ist dann 28 Jahre alt! Cypress Semiconductor annoncierte einen »Senior«-Job für Entwickler mit nur drei Jahren Berufspraxis.

Jung, flexibel, billig - das ist auch die Maxime für die Anwerbung ausländischer IT-Spezialisten, deren Gehälter 15 bis 30 Prozent unter den sonst üblichen liegen. Im kalifornischen Silicon Valley - also im Zentrum der IT-Branche - sind immerhin 35 Prozent aller Entwickler und Softwerker nicht in den USA geboren, und die meisten kamen ursprünglich per Arbeitserlaubnis ins Land. Ohne dieses Reservoir ausländischer Spezialisten könnten die Unternehmen nicht so rücksichtslos mit den Beschäftigten umgehen, die nicht mehr 25 sind. Das Magazin Upside zitiert eine Studie des IEEE, des US-Pendants zum deutschen Ingenieurverband VDI, wonach jedes zusätzliche Lebensjahr einen arbeitslosen US-Ingenieur zwei Wochen mehr Arbeitssuche kostet. Im Silicon Valley spricht man bereits von den »throw-away professionals«, also den Wegwerf-Spezialisten, die bis weit über die Grenzen der Belastbarkeit ausgebeutet und dann gekündigt werden. Viele von ihnen bekommen niemals wieder einen adäquaten Job. Die Zeitschrift Information Week zitiert den Chef einer IT-Personalberatung: »Es ist die vorherrschende Meinung in der Branche, dass jeder über 35 erledigt ist.«

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