Im ersten Teil seiner China-Analyse hatte sich Wolfgang Müller mit der These von der ungebremsten außenwirtschaftlichen Expansion der Volksrepublik befasst und darauf verwiesen, dass chinesische Betriebe oft nur Teilproduzenten in den globalen Fertigungsketten multinationaler Unternehmen sind. Die Wertschöpfung bleibe dabei ebenso gering wie der Gewinnanteil. Auch seien, so der Autor, die Preise für Chinas Ausfuhren im Vergleich zu seinen Einfuhren seit 1985 um etwa 30 Prozent gefallen.
Im Juli berichtete die britische Mail on Sunday - und bezog sich dabei auf einen Bericht der China Business News - über die schlechten Arbeitsbedingungen in der iPod-City Shenzhen, wo zumeist junge Frauen für umgerechnet 100 Euro Monatslohn in Zwölf-Stunden-Schichten (in der Regel sechs Tage pro Woche) iPods fertigen und nach der Arbeit in Schlafsäle mit 100 Betten wandern. Unbezahlte Überstunden jenseits der 12-Stunden-Fron seien die Regel, hieß es.
Umgehend beteuerte die in Shenzhen engagierte Kultfirma Apple, an den hohen sozialen Standards des eigenen Unternehmens werde nicht gerüttelt, und verwies im Übrigen auf den taiwanesischen Auftragnehmer Foxconn, der in Shenzhen auch für HP, Dell, Nokia, Sony und so weiter fertigen lasse. Allerdings kam Apple nicht umhin, eine private Auditfirma mit dem schönen Namen Verite ("Wahrheit") nach iPod-City zu schicken, nachdem man zuvor erklärt hatte, eine unabhängige Untersuchung komme nicht in Frage. Immerhin kam Verite mit der Nachricht aus Shenzhen zurück, dass dort tatsächlich einiges im Argen liege. Man konnte daraus entnehmen, für multinationale Konzerne wie Apple sind Chinas "Ökonomische Sonderzonen" wie Shenzhen oder Xiamen Teil globaler Produktionslinien, empfehlen sich durch flache Lohnkurven und extrem lange Arbeitszeiten, besonders aber durch den Umstand, eine soziale Kontrolle der jeweiligen Produktionsfilialen auf ein Minimum zu reduzieren. Denn die Beschäftigten können sich nicht in Gewerkschaften organisieren, und die regionalen Behörden sind zu korrumpiert, um chinesischem Arbeitsrecht Geltung zu verschaffen.
Dass die internationalen Konzerne in China damit das gleiche Erpressungsspiel betreiben wie in Europa oder den USA, zeigen die Einlassungen der US- und EU-Handelsmissionen in Peking zur Novellierung des chinesischen Arbeitsrechts. "Ausländische Unternehmer weisen den Entwurf des Arbeitsvertragsgesetzes zurück - Rückzug von Investitionen aus China angedroht", titelte das 21 Century Economy Journal am 11. Mai 2006. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollten beispielsweise bei Auslaufen eines befristeten Arbeitsvertrages - in China die Regel - Abfindungen von bis zu zwei Jahreseinkommen fällig werden. "Wenn ein solches Gesetz verabschiedet wird, müssen wir unsere Investitionen zurück ziehen", erklärte umgehend Frau Xu Tingting für die Assoziation der multinationalen Unternehmens Shanghais, die 54 Betriebe mit 260.000 Beschäftigten vertritt. Und die EU-Mission in China drohte: "Die strengen Verordnungen im neuen Gesetz werden die Beschäftigungsflexibilität der Arbeitgeber in hohem Maße beschränken und damit die Produktionskosten in China erhöhen. Erhöhte Produktionskosten aber werden die ausländischen Unternehmen zwingen, weitere Investitionen und den Ausbau ihrer Chinageschäfte zu überdenken." In Malaysia und auf den Philippinen seien die Lohnkosten (noch) niedriger. Der chinesische Sozialwissenschaftler Guo Jun hielt dagegen: "Was Chinas Ökonomie tatsächlich schwächt, das ist die übermäßige Verletzung von Interessen der Arbeitnehmer. Dadurch wird die Qualität der Arbeit gesenkt und unsere Wirtschaft vorsätzlich auf einem niedrigen Entwicklungsniveau gehalten. Sollte dieses Gesetz etwas beeinträchtigen, dann die übermäßigen Gewinne ..."
Die Volksrepublik China investierte in den vergangenen zehn Jahren im Durchschnitt etwa 40 Prozent des erwirtschafteten Bruttoinlandprodukts (BIP). Diese Überakkumulation von Kapital - in Ländern auf vergleichbarer Entwicklungsstufe sind Quoten von 25 Prozent die Regel, in kapitalistischen Metropolen wie Deutschland 20 Prozent - ist ein weiteres Indiz dafür, dass Chinas Bevölkerung durch Niedriglöhne und Konsumverzicht die Kosten des ökonomischen Aufstiegs trägt. Der Boom in den Küstenregionen, der Lebensstandard einer wohl situierten Mittelschicht, der Ausbau der Infrastruktur sind vorzugsweise von Bauern und Wanderarbeitern finanziert. Bislang war die Steuerbelastung auf dem Land pro Kopf dreimal höher als für die Stadtbevölkerung, andererseits entfallen auf den bäuerlichen Teil Chinas derzeit nur 23 Prozent aller Bildungsausgaben.
Dabei ist die enorme Investitionsrate alles andere als rational: Wie sich in den Glitzermetropolen Peking, Shanghai und Guangzhou besichtigen lässt, fließt das Kapital hauptsächlich in die Immobilienspekulation. Nach chinesischen Angaben liegt die Leerstandsrate der eindrucksvollen Wolkenkratzer in den Mega-Citys inzwischen partiell bei 50 Prozent, da Teile der zahlungskräftigen Mittelschicht sich an dem auch in den USA und Großbritannien beliebten Spiel beteiligen, durch Kauf und umgehenden Weiterverkauf von Wohnungen und Büroflächen reicher zu werden, bis die Immobilienblase platzt.
Die massive Fehlallokation von Kapital treibt auch in der Industrie ihre Blüten: Die chinesische Automobilindustrie hat Kapazitäten vorzuweisen, die weit über eine für die nächsten Jahre absehbare Binnennachfrage hinausgehen und das Resultat der Chinabesoffenheit westlicher und japanischer Autokonzerne darstellen. Sie alle wollen künftig auf dem vermeintlich größten Automarkt der Welt präsent sein und sind deshalb Partnerschaften mit chinesischen Staatskonzernen eingegangen. In der Stahlbranche bietet sich ein ähnliches Bild: Zwar feuert die Nachfrage aus dem Reich der Mitte seit Jahren die Stahlpreise auf dem Weltmarkt an, doch sind zugleich neue nationale Kapazitäten entstanden, so dass bei einem Einbruch der Weltkonjunktur China den Weltmarkt mit billigem Stahl überschwemmen dürfte. In der Elektronikindustrie ist es bereits soweit - dank des gnadenlosen Preiskampfes bei Mobiltelefonen oder Laptop-PCs lässt sich hier kaum noch Geld verdienen.
Dieser exzessive Aufbau von Kapazitäten führt zwangsläufig zu Preisverfall und Deflation. In China wird ein großes Rad gedreht, aber wenig Geld verdient, denn die Kapitalproduktivität nimmt rapide ab: Kein anderes Land braucht einen solchen Kapitaleinsatz: Für einen Dollar Bruttoinlandsprodukt werden 40 Cents investiert! Man kann es auch so ausdrücken: Die ineffizienteste Volkswirtschaft der Welt erzeugt derzeit das höchste Wachstum der Welt. Und es wird immer mehr Kapital gebraucht, um zweistellige Wachstumsraten zu halten, was zur Folge hat, dass der spekulative Kapitalzufluss (2004: geschätzte 500 Milliarden Dollar) wegen der erwarteten Aufwertung des Renminbi weiter zunimmt und zusätzlich die Kreditmenge aufbläht, die dreimal schneller wächst als das Bruttoinlandsprodukt.
Unter diesen Bedingungen wird das Entwicklungsmodell Chinas auf Dauer nicht durchzuhalten sein: Alles, was die Volksrepublik braucht (vornehmlich Energie und Rohstoffe), wird teurer - aber alles, was sie liefert, wird billiger. Angesichts des dadurch forcierten Raubbaus an der menschlichen Arbeitskraft wie der Umwelt sind schwere soziale Konflikte absehbar.
Wollte man dem entgehen, müssten die Einkommen generell - besonders jedoch für Arbeitsmigranten - steigen, auch wenn dadurch der Inflationsdruck wächst. Mit anderen Worten, das Beste, was der Weltwirtschaft passieren kann: Chinas Ökonomie wird statt durch Überakkumulation künftig durch mehr private Nachfrage angetrieben.
Der Autor ist Mitglied des Aufsichtsrates der Siemens AG und arbeitet für die IG Metall in Bayern.
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