ANDERER ANFANG - BUEN VIVIR

SPURENSUCHE 1 - Auf der Suche nach Lebens- und Politikformen jenseits Subjektivismus und Wertdenken

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ANDERER ANFANG – BUENOS VIVIRES - Lebens- und Politikformen jenseits des Wertdenkens

Kontakt: anderer.anfang@t-online.de - V.i.S.d.P: Wolfgang Ratzel – Tel. 030-42857090

SPURENSUCHE 1

Buen Vivir (Das gute Leben) bezeichnet ein aus Lateinamerika kommendes plurales Konzept, das eine globale Plattform für Denkweisen, Haltungen und Verhaltensweisen jenseits des Wert- und Verwertungsdenken bieten könnte (konsequenterweise müsste deshalb von buenos vivires gesprochen werden (vgl. Gudynas, S.30)). Vor allem aber erlaubt dieses Konzept, eine Plattform in der "Form der Juxtaposition" zu denken, d.h. als "ein Nebeneinander ohne Vermischungen" (S.20).

Die Bolivianerin Silvia Rivera Cusicanqui bezeichnet das Wesen der Plattform Buen Vivir als ch'íxi. ch'íxi ist ein Wort aus der Sprache des hauptsächlich in Bolivien beheimateten Volkes der Aymara, das eine Farbe beschreibt, "die sich aus dem Nebeneinander zweier Komplementärfarben ergibt, also eine Farbe, die gleichzeitig ist und nicht ist." (S. 20). "ch'ixi" beschreibt somit Buenos Vivires "als ein Nebeneinander von indigener, mestizischer oder westlicher Kritik an der Moderne, bei dem jede Kritik ihren eigenen Kern behält, alle Ansatzpunkte sich aber darin ergänzen, dass sie das herrschende Entwicklungs- und Wachstumsparadigma hinterfragen." (Gudynas, S. 20).

Mensch kann hier getrost auch die buddhistisch-daoistische, die afrikanische und nordamerikanisch-indigene Kritik hinzufügen.

(Die Seitenangaben beziehen sich auf: Eduardo Gudynas: Buen Vivir. Das Gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum. Die Broschüre wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben. Fundstelle: http://www.rosalux.de/publication/38264/buen-vivir.html)

Worum geht es der Reihe „Anderer Anfang – Buen Vivir“ des Autonomen Seminars?

Nachdem Gott schon längst gestornben ist, leben wir im und auch schon jenseits des Scheiterns der Heils-, Emanzipations- und Erlösungsversprechungen der abendländisch Ideologien und -ismen, die allesamt als Ausgestaltungen des neuzeitlichen Subjektivismus daherkommen: Kommunismus, Sozialismus, Nationalsozialismus, Faschismus, Nationalismus, Regionalismus, Demokratismus, Feminismus, Ökologismus .... Übrig bleibt allein der Nihilismus, der seiner Vollendung entgegengeht.

Und auch alle von den Weltanschauungen und –ismen ernannten „revolutionären Subjekten“ haben „versagt“ und sich als Irrtum erwiesen: BürgerInnen, ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern, ArierInnen, Weiße, Frauen, Schwule, Lesben, Psychisch-Kranke, die „farbigen Völker der Dritten Welt“, SelbstversorgerInnen uswusf..

Angesichts dieser nihilistischen Leere und Verlassenheit ist die Versuchung groß, das Konzept Buen Vivir als neuen exotischen Hoffnungshorizont zu importieren – nach dem Motto „Hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen ist alles tausendmal schöner als hier.“ Noch mehr lockt die Vorstellung, einzelne Aspekte dieser Lebensweise in unsere abendländischen Gesellschaften zu integrieren, d.h. Buen Vivir als Heilmittel gegen die untergehende, bankrotte, korrupte und „kranke“ westliche Lebensweise zu verkaufen.

Was aber dann? Letztlich muss es darum gehen, die Grundzüge des technischen Weltalters zu erfahren und Zeichen der Ankunft des Anderen Anfangs zu entziffern. Wir müssen mit allen unseren Sinnen auf Spurensuche gehen und selber Spuren für Andere hinterlassen. Wir müssen offen-bleiben und bereit sein, diese Zeichen überhaupt wahrzunehmen. Heidegger hat im Spiegel-Interview uns AbendländerInnen sogar eine besondere Verantwortung zugewiesen:

„Meine Überzeugung ist, dass nur von demselben Weltort aus, an dem die moderne technische Welt entstanden ist, auch eine Umkehr sich vorbereiten kann, dass sie nicht durch Übernahme von Zen-Buddhismus oder anderen östlichen Welterfahrungen geschehen kann. Es bedarf zum Umdenken der Hilfe der europäischen Überlieferung und ihrer Neuaneignung. Denken wird nur durch Denken verwandelt, das dieselbe Herkunft und Bestimmung hat.“ (Spiegel-Interview. In: „Antwort – Martin Heidegger im Gespräch“, Neske-Verlag, S. 107)

Unsere Aufgabe bestünde dann darin, den Kern der westlich-abendländischen Kritik an der Moderne zu formulieren und in die Plattform einzubringen. Das würde bedeuten, die Denkweise der abendländischen „Anderen Aufklärung“ (Silvio Vietta) in eine Form des „Guten Lebens“ zu über-setzen, die über die Verwertungs-Logik von Wert- und Unwertsetzungen hinauskommt.

Aber was heißt das? Vielleicht geht es darum, das Verhältnis zwischen Mensch und Sein als Treuhänderschaft und Inobhutnahme zu bestimmen: Der Mensch als Treuhänder und Hüter des Seins?

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Nachfolgend habe ich einige Beiträge zusammengestellt, die eine von mehreren lateinamerikanische Interpretationen des Konzepts BUEN VIVIR dokumentieren. Hier kommen staats-orientierte Sichtweisen zum Tragen.

Exponenten dieser Interpretation sind z.B. der Präsident Ecuadors Rafael Correa, Ecuadors Arbeitsminister Carlos Marx Carrasco, Juan Meriguet von der Movimiento Alianza PAIS - Patria Altiva i Soberana und vor allem Alberto Acosta, Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors von 2008, Minister und Wirtschaftswissenschaftler, der mit der Bewegung Pachakutik gegen Correa von der PAIS antrat (und verlor) Pachakutik bezeichnet die „Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik – Nuevo País (MUPP-NP) und ist der Name einer Partei in Ecuador, die mit der indianischen Dachorganisation CONAIE verbündet ist und die Interessen der indigenen Bevölkerung ganz Ecuadors vertritt. Der Name leitet sich vom Kichwa-Wort Pachakuti ab, was "Zeitenwende" bedeutet.“ (Wikipedia)

Acosta ist derzeit zusammen mit „Grupo Sal“ auf einer Europatournee und sprach in 12 Städten. Wie es der „Zufall“ will, spricht er soeben jetzt in Berlin (was ich leider vorher nicht wusste):

Neue Töne aus Lateinamerika - Fundstelle: http://info.brot-fuer-die-welt.de/blog/buen-vivir-recht-auf-ein-gutes-leben

Die vorherrschenden Konzepte von Entwicklung und Fortschritt bauen unbeirrt auf Wachstum. Sie respektieren die Grenzen des Planeten nicht. Weltweit nehmen daher ökologische und soziale Krisen zu. Diese sind Ausdruck des Scheiterns nicht zukunftsfähiger Wirtschafts- und Lebensweisen. Ein Paradigmenwechsel ist zunehmend eine Frage des Überlebens. Deshalb engagiert sich Brot für die Welt für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Buen Vivir – ursprünglich eine Lebensanschauung der indigenen Andenvölker – bekommt weltweit wachsende Aufmerksamkeit, weil es Ideen umfasst, die Veränderung jenseits des Gegebenen aufzeigen. Mit der Veranstaltung möchte Brot für die Welt diese neuen Töne aus Lateinamerika auf ungewöhnliche Weise erfahrbar machen.

Der Ökonom und ehemalige Energieminister Ecuadors Alberto Acosta trägt seine Ideen zum Thema vor und berichtet über seine Erfahrungen bei der politischen Umsetzung. Als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung setzte er sich dafür ein, Buen Vivir zum Staatsziel zu erklären. Er gehörte zu den Initiatoren der Yasuní-ITT-Initiative: Ecuador hatte angeboten, einen Teil seines Erdöls nicht zu fördern, wenn die Weltgemeinschaft sich an dem Projekt beteiligt. Mangels politischen Willens – auch in der deutschen Regierung – ist die Initiative vorerst gescheitert.

Um die Diskussion über das Buen Vivir im deutschsprachigen Raum zu befeuern, eröffnet Grupo Sal gemeinsam mit Alberto Acosta einen informativen und künstlerischen Zugang zu den Fragen: Wie funktioniert Buen Vivir? Welche Perspektiven sind damit verbunden? Lässt sich dieses indigene Konzept auch in unsere westliche Lebenswelt einbinden? Ist es mehr als ein schöner Traum, dass das Erdöl im Boden bleibt? Die Veranstaltung möchte Denkanstöße bieten und Lust machen, über die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in einer globalisierten Welt und einer bedrohten Umwelt zu diskutieren.

Wann: Montag, 12. Mai 2014, 19 Uhr - Wo: Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, Caroline-Michaelis-Str.1, 10115 Berlin

Yasuní Think Tank & Kunstinstallation

Die interaktive Kunstinstallation „Challenge Yasuní: Entwicklungsforschung und Buen Vivir“ zeigt Video-Interviews von Yasuní-Expert/innen und Vertreter/innen der indigenen Völker aus Ecuador. Die Kunstinstallation lädt Online- und Offline-Teilnehmende ein, Vorschläge für alternative Entwicklungspolitik und Forschungsprojekte auszutauschen.

Mit den Künstlern Stella Veciana und Dan Norton.

Wann und wo siehe oben! Die Teilnahme an beiden Veranstaltungen ist kostenfrei, um eine Spende wird gebeten.

Kontakt: stefan.tuschen@brot-fuer-die-welt.de - Tel.: +49 (0) 30-65211-1816

buen.vivir@brot-fuer-die-welt.de

Kontakt zur Grupo Sal: http://grupo-sal.de/html/buenvivir.htm

Kontakt zur Kunstinstallation „Challenge Yasuní: Entwicklungsforschung und Buen Vivir“:

http://challengeyasuni.net/

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"Schule des ecuadorianischen Guten Lebens und der Bürgerrevolution" in Quito - Von Tobias Baumann, Quito - In: Portal america 21.de

https://amerika21.de/blog/2014/04/99190/schule-buen-vivir-ecuador

Quito. Vom 7. bis 15. April 2014 findet in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito die "Schule des ecuadorianischen Guten Lebens und der Bürgerrevolution" statt. Die Teilnehmer, davon wenige Ecuadorianer und rund 70 internationale Studierende und junge Professionelle, reisten am vergangenen Freitagabend nach Lago Agrio, um dort die von Chevron-Texaco verseuchten Regenwaldgebiete mit eigenen Augen zu sehen und die Welt anschließend auf diese größte Erdölkatastrophe aufmerksam zu machen, welche immer noch anhält, da aufgrund von Texacos obsoleten Ölförderungsmethoden kontinuierlich giftige Rückstände in die Umwelt sickern.

In der ersten Woche der intensiven Fortbildung gab es unter anderem zwei Kurse zu sozialen Netzwerken und zur Technologiepolitik Ecuadors mit einem Forscher der FLOKSociety, die sich für den Zugang aller Menschen zur Information als Gemeingut einsetzt. Außerdem referierten Historiker über das ecuadorianische Konzept des Guten Lebens (Buen Vivir) sowie die Geschichte Ecuadors vor und nach der Wahl des Präsidenten Rafael Correa und der durch ihn angestoßenen verfassunggebenden Versammlung.

Am 10. April sprach der ecuadorianische Politiker Juan Meriguet, Sohn eines französisch-ecuadorianischen Revolutionärs, über die Gründe, weshalb Ecuador das einzige Pazifik-Land ist, dass keinen Freihandelsvertrag mit den USA unterzeichnet hat. Zudem berichtete Eduardo Paredes, Mitgründer der Bewegung Alianza PAIS, die seit 2007 das Land regiert, über die Basisarbeit während des Wahlkampfs 2006, als seine linke Bewegung Familienkomitees lancierte, um zusätzlich zu gewerkschaftlicher und anderen Organisationsformen jeden einzelnen Staatsbürger zu erreichen und für die politischen Ziele der Bewegung – wie Volkssouveränität und regionale Integration – zu gewinnen. Außerdem stellten Mitarbeiter des ecuadorianischen Außenministeriums den Fall Chevron-Texaco vor und Teilnehmer aus Spanien, Rumänien, Deutschland und Großbritannien schilderten ihre Solidaritätsarbeit hierzu. Zum Abschluss des Tages besuchten sie das Ministerium "Technisches Sekretariat zu Behinderungen", das dem Vizepräsidialamt angegliedert ist: In nur drei Jahren hat es die Regierung des Präsidenten Correa geschafft, 80 Prozent der Ecuadorianer mit Behinderung zu erreichen, das heißt, sie kostenlos mit technischem Zubehör, etwa spezieller Wohnungsausstattung zu versorgen und unter anderem monatliche Unterhaltszuschüsse zu zahlen.

Am 11. April hielt Ecuadors Arbeitsminister Carlos Marx Carrasco einen Vortrag, in welchem er hervorhob, dass de facto 100 ecuadorianische Familien, insbesondere Bankiers, von der steigenden Staatsverschuldung seit den 1980er Jahren profitierten. Diese und korrupte Staatsbedienstete raubten so dem Volk Ecuadors 1999 bei der verheerenden Bankenkrise, als etwa 80 Prozent der ecuadorianischen Kreditinstitute Bankrott gingen, ihre langjährigen Ersparnisse.

Zum Abschluss des Intensivkurses werden nächste Woche Minister Ecuadors referieren und Präsident Correa begrüßt fünf der Teilnehmer auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Carondelet.

Die internationalen Gäste des ecuadorianischen Außenministeriums, das diese Fortbildung seit 2011 organisiert, kommen aus Europa (Spanien, Italien, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Rumänien), Afrika (Ägypten, Marokko), aus Palästina und aus Lateinamerika (Brasilien, Mexiko, Honduras, Kuba, Venezuela, Kolumbien, Argentinien, Chile, Peru).

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Konzertlesung „Buen Vivir“ in der Citykirche

Von: Julia Gröbbels – In : Aachener Zeitung vom 2. Mai 2014

http://www.aachener-zeitung.de/lokales/aachen/konzertlesung-buen-vivir-in-der-citykirche-1.818507

AACHEN. „Buen Vivir“ bedeutet nicht nur „Gutes Leben“, sondern umfasst weit mehr. Es ist eine Denkanschauung der indigenen Andenvölker, die in den letzten Jahren vermehrt internationale Aufmerksamkeit erregt hat. Der Grund dafür liegt in der Aufforderung lateinamerikanischer Politiker, zentrale Aspekte dieser Lebensweise auch in industrielle Gesellschaften zu integrieren.

„Buen Vivir“ zielt nicht nur auf ein Leben in Einklang mit der Natur und allen Geschöpfen, es bedeutet auch eine neue „Ethik der Entwicklung“, es fordert ein soziales und solidarisches Wirtschaften und eine Abkehr von Wirtschaftswachstum als zentralem Entwicklungskriterium. Der Ecuadorianer Alberto Acosta gehört zu den führenden Intellektuellen Lateinamerikas und ist der bedeutendste Verfechter des Konzeptes.

Um die Diskussion über das „Buen Vivir“ auch in Aachen anzuregen und zu befeuern, präsentiert die lateinamerikanische Musikgruppe „Grupo Sal“ mit Alberto Acosta am Freitag, 9. Mai, in der Citykirche ihr neues Programm, das einen informativen, aber auch künstlerischen Zugang zu der Frage nach einem guten Zusammenleben ermöglichen soll.

Alberto Acosta wird seine Ideen und Visionen zu dem Thema vortragen und über seine Erfahrungen bei der politischen Umsetzung berichten. Im Dialog mit dem Journalisten Thomas Pampuch werden Aussagen aus seinem Vortrag vertieft. Im Anschluss bietet Acosta die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

„Eine solche Veranstaltung passt wunderbar zum offenen und abwechslungsreichen Konzept der Citykirche“, sagt der Pastoralreferent der Citykirche, Dieter Spoo. Die Konzertlesung geht im Rahmen des 30-jährigen Jubiläums des „Eine Welt Forums“ über die Bühne. „Das Konzept des Buen Vivir entspricht auch unseren vier Themen-Schwerpunkten: Gerechtigkeit, Menschenrechte, Völkerverständigung und internationale Solidarität“, erklärt Mona Pursey vom Eine Welt Forum.

Und weil „Gutes Leben“ immer auch etwas mit Kultur zu tun hat, will die Veranstaltung der politischen Debatte mit der Begleitung durch die „Grupo Sal“ auch eine künstlerische Dimension verleihen. „Die Veranstaltung soll in Zeiten einer Krise, die uns alle mittlerweile betrifft Denkanstöße aus dem Süden in den Norden bringen“, sagt Jürgen Jansen vom eine Welt Forum. Ein Anstoß zum Diskurs, der in dieser Zeit mehr als überfällig sei.

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Vor der Zeitenwende? - Interview mit Alberto Costa

http://www.das-ist-rostock.de/artikel/50360_2014-05-02_vor-der-zeitenwende/

Am Montag kommt Alberto Acosta in die Nikolaikirche. Der Politiker und Wirtschaftswissenschaftler aus Ecuador hält einen Vortrag über die Prinzipien "Buen Vivir" und "Recht der Natur", die seit 2008 in der Verfassung Ecuadors festgeschrieben sind. Frank Schlösser sprach mit ihm.

das-ist-rostock.de:

Alberto Acosta, Sie waren Präsident der verfassungsgebenden Versammlung, als 2008 das Existenzrecht der Umwelt im Grundgesetz Ecuadors verankert wurde.

Alberto Acosta:

Das ist wirklich ein großer und weltweit einmaliger Schritt gewesen. Wir sehen die Natur erstmals als ein Rechtssubjekt. Genau heißt es im Artikel 72, die Natur "besitzt das Recht, dass die Existenz, der Erhalt und die Regenerierung ihrer Lebenszyklen, Struktur, Funktionen und Evolutionsprozesse respektiert werden". Dahinter steht Pachamama, die alte Natur-Idee unserer indigenen Völker als allumfassende Göttin. Entscheidend ist aber für uns das, was wir Menschen heute daraus ableiten müssen: Wir müssen uns Menschen als Teil der Natur begreifen und nicht mehr als diejenigen, die ihr Leben aufbauen, indem sie die Natur ausbeuten.

das-ist-rostock.de:

Wie soll die Natur denn das machen – als Rechtssubjekt für ihre Rechte eintreten?

Alberto Acosta:

Das kann die Natur natürlich nicht selbst. Das müssen die Menschen machen, das steht auch in der Verfassung, im Artikel 71. Die Menschen sollen als Individuen und als Gemeinschaft als Anwälte für die Natur eintreten.

das-ist-rostock.de:

Die andere Neuerung in dieser Verfassung ist, dass alle das Recht auf ein gutes Leben haben. Hört sich hübsch an. Aber das dürfte doch juristisch schwer umzusetzen sein.

Alberto Acosta:

"Buen Vivir" ist in der Präambel und im Artikel 3 der Verfassung als Staatsziel formuliert. Wir wollen dahin kommen, dass wir alle ein gutes Leben haben und nicht mehr, dass einige wenige alles haben und andere arm sind. Wir wollen den Egoismus des Neoliberalismus durch eine solidarische Lebensweise ersetzen. Dabei wollen wir nicht die Rechte des Individuums negieren. Aber wir sagen, dass auch eine Gemeinschaft ihre Rechte hat. Weil wir die Harmonie verteidigen müssen, in der Individuum und Gemeinschaft sich befinden. Das hängt natürlich auch eng mit dem Recht der Natur zusammen.

das-ist-rostock.de:

Wie funktioniert das juristisch?

Alberto Acosta:

Man kann das einklagen, wenn es nötig ist. Das ist ein langer Prozess, denn so eine Rechtsprechung muss natürlich langsam aufgebaut werden. Leider geschieht das nicht, denn die jetzige Regierung respektiert diese Teile der Verfassung nicht. Das ist die alte Tragödie von Ecuador: Wir haben seit unserer Unabhängigkeit im Jahre 1830 zwanzig verschiedene Verfassungen gehabt. Und wir hatten in Ecuador noch nie eine selbständige und unabhängige Justiz. Immer hat sich der Staat dort massiv eingemischt – und das ist auch jetzt so: Präsident Rafael Correa hat es im Jahr 2011 mit einer Volksbefragung geschafft, wieder seine Finger in die Justiz zu stecken.

das-ist-rostock.de:

Rafael Correa und Sie sind in einer Partei, der Alianza Pais.

Alberto Acosta:

Ich bin gegen ihn angetreten bei den Präsidentschaftswahlen 2013 – als Repräsentant einer Union der linken Kräfte. Die haben früher alle Rafael Correa unterstützt, ich war Energieminister in seiner Regierung. Jetzt wissen wir, dass er sich verhält wie ein Geisterfahrer: Links blinken und rechts reinfahren. Er macht das Gegenteil von dem, was er sagt und von dem, wofür die Alianza Pais steht.

das-ist-rostock.de:

Wenn Sie "Buen vivir" bisher in Ecuador nicht umsetzen konnten, warum reisen Sie mit der Idee durch andere Länder?

Alberto Acosta:

Weil wir daran auch gesehen haben, dass wir diese Idee überall umsetzen müssen. Ich fühle mich nicht als Propagandist für "Buen vivir" – oder "Sumak kawsay", wie es auf Quetchua heißt. Ich fahre durch die Welt und suche nach Beispielen, mit denen woanders das "Buen Vivir" umgesetzt wird. Denn diese Idee hat viele Ursprünge und es gibt viele Wege, ein gutes Leben für alle zu erreichen. Entscheidend ist, dass wir dafür gemeinsame Prinzipien respektieren – wie eben das Prinzip, dass wir Menschen zur Natur gehören und nicht gegen sie wirken dürfen. Wir müssen den Zustand überwinden, dass viele arbeiten, um nur wenigen den Wohlstand zu ermöglichen. Derzeit besitzen 58 Personen ein höheres Einkommen als 1,7 Milliarden Menschen. Diese Ungleichheit hat schon der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter (1883-1950) als Sackgasse erkannt – allerdings ist sie wesentlich für das Funktionieren der Volkswirtschaft im Kapitalismus.

das-ist-rostock.de:

Dabei fällt auch immer wieder der Begriff Pachakuti – Zeitenwende. Was ist das? Revolution?

Alberto Acosta:

Nein, das ist mehr als nur eine Revolution. Der Begriff Pachakuti stammt aus der Geschichte unserer indigenenen Völker, aber heute ist Pachakuti auch der Name einer politischen Partei in Ecuador, die schon lange nicht mehr nur die indigenen Völker vertritt. Somit bedeutet Pachakuti heute auch: Es ist Zeit, die Welt zu verändern.

das-ist-rostock.de:

Sehen Sie Pachakuti auch in Deutschland?

Alberto Acosta:

Ja, so etwas fängt im Kleinen an. Hier gibt es zum Beispiel die Diskussion darüber, wie fair die Rohstoffe gefördert und gehandelt werden, mit denen in Deutschland oder in China produziert wird. Das gleiche gilt für die Genmais-Diskussion, den Emissionshandel oder das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten. Das sind alles Beispiele dafür, dass die nationalen Gesetze nicht ausreichen, um globale Probleme zu lösen. Das muss sich ändern. Dafür gibt es überall kleine Ansätze – wie zum Beispiel die Rechtsform der Genossenschaften. Das ist eine sehr komplexe Situation und "Buen vivir" ist bisher eine Utopie.

das-ist-rostock.de:

Gesellschaftliche Utopien gibt es genügend. Das Problem ist immer: Wie kommt man dahin?

Alberto Acosta:

Gute Frage. Unbefriedigende Antwort: Auf vielen verschiedenen langen Wegen. Aber heute gibt es gute Möglichkeiten, die Ansätze des "Buen Vivir" zu sammeln und unsere Erfahrungen auszutauschen. Im Kleinen wird sie ja schon gelebt. Und ein größeres Beispiel war die Yasuni-ITT-Initiative: Sie wollte verhindern, dass in unserem Yasuni-Regenwald-Nationalpark, der auch das Lebensgebiet einiger indigener Völker ist, kein Öl gefördert wird. Zum Schutz der Natur sollte die internationale Gemeinschaft Ausgleichsgelder zahlen. Dieser Versuch ist gescheitert, inzwischen wird dort nach Erdöl gebohrt. Aber die Idee war lange sehr populär und es gibt sicher noch viele Möglichkeiten, sie in anderen Entwicklungsländern anzuwenden.

das-ist-rostock.de: Alberto Acosta, danke für das Gespräch.

Am 5. Mai um 19.30 Uhr kommt Alberto Acosta in die Nikolaikirche. Begleitet wird er von der lateinamerikanischen Band "Grupo Sal". Karten zu zwölf, ermäßigt acht Euro und weitere Informationen gibt es beim Rostocker Partner der Veranstaltung, dem Verein Talide.

............................... Fortsetzung folgt.......................

ciao, Wolfgang Ratzel

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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