Vor 41 Jahren verweigerte ich nicht wie viele meiner Altersgenossen den Wehrdienst. Und ich zog auch nicht nach Westberlin um. Stattdessen ging ich in die Bundeswehr, um sie – zusammen mit anderen Kameraden – von innen heraus kampfunfähig zu machen, zu zersetzen, wie es damals hieß. Also wurde ich W15, ein Wehrpflichtiger, der 15 Monate Dienst tut.
In dieser Zeit wurde ich auch Vater, und so stand ich, der Panzergrenadier Wolfgang Ratzel, am Dienstag, den 27. März 1973, vor der Kaserne in Wetzlar. Kampf- und schussbereit, das G3-Sturmgewehr quer über dem Rücken. In einem blauen Kinderwagen neben dem Schlagbaum lag vergnügt meine Tochter Lucy, gerade zwei Monate alt. Sie strampelte mit ihren Beinchen und stieß ihre winzigen Fäuste in die Luft.
Dass ein Baby in den hochgerüsteten 70er Jahren überhaupt eine Kaserne von innen zu sehen bekam, hatte verschiedene Gründe. Nach Ablauf der achtwöchigen Mutterschutzfrist musste und wollte meine Frau zurück an ihren Arbeitsplatz. Die vereinbarte Babybetreuung hatte uns kurzfristig im Stich gelassen. Und unsere Vermieterin war zwar lieb, aber auch gelähmt. Als Zuzügler hatten wir noch keine Bekannten vor Ort, und mein Dienst war unregelmäßig, mit Wochenendwachen und Sonntagsdiensten kamen schon mal 90 Wochenstunden zusammen. Die Bundeswehr war damals familienvergessen.
Am 27. März hatte ich Ausgang bis zum Wecken gehabt. Um 4.15 Uhr standen wir auf, um 5 Uhr schob ich den blauen Kinderwagen in die Wachstube am großen Tor. Meine Wachkameraden und der Unteroffizier vom Wachdienst empfingen uns mit großem Hallo – alle wollten Lucy sehen, und alle fanden, was ich machte, total in Ordnung. Der Unteroffizier wies mir Zelle 5 zu. Während die abgelösten Mannschaften der Nachtwache vor sich hin dösten, wickelte ich das Baby auf einem der Bereitschaftsbetten. Als ich zur Vergatterung abtreten musste, übernahm Panzergrenadier L. die Beaufsichtigung des Kinds. Lucy war der unbestrittene Mittelpunkt der Wache.
Schon im siebten Schwangerschaftsmonat meiner Frau hatte ich die Anerkennung als Heimschläfer beantragt – sie wurde abgelehnt. Mit Müh und Not gelang es mir, mithilfe eines ärztlichen Attests einem Manöver zu entkommen, das in die Zeit des Geburtstermins fiel. Auch nach Lucys Geburt wurde der „Ständige Ausgang bis zum Wecken“ abgelehnt. Ich musste also jedes Mal einen Antrag stellen, um über Nacht bei meiner Familie sein zu können.
Unsere finanzielle Lage damals war verheerend: Mein Monatssold betrug 135 Mark. Meine Frau und Lucy bekamen als „Unterhaltssicherung für Familienangehörige“ 387 Mark, dazu kam ein Mietzuschuss – insgesamt kamen wir auf rund 800 Mark. Das war auch 1973 für eine dreiköpfige Familie zum Leben zu wenig. Meine Ehefrau wollte nicht nur, sie musste einfach wieder arbeiten gehen. Ich meinerseits stellte den Antrag, während des Kompanieurlaubs Geld verdienen zu dürfen.
Nun also stand dieser blaue Kinderwagen inmitten der Leoparden des Panzerbataillons 134, Ungetüme aus Stahl, daneben schlanke Marder-Schützenpanzer des 133. Panzergrenadierbataillons und plumpe M113-Panzermörser meiner Kompanie, in der ich als dritter Schütze, später als Richtschütze diente. Und dazu ein blauer Kinderwagen im damals zweitgrößten Standort der Bundeswehr, ein Baby in einer reinen Männerwelt von 6.000 Soldaten.
Die Sixt-von-Armin-Kaserne war eine Werkstatt fürs Töten. Wir lernten dort, wie man es massenhaft tut. Es war ein offenes Geheimnis, dass gerade wir, die Bediener der M113-Panzermörser, dazu ausersehen waren, im Fall der Fälle taktische Atomwaffen zu verschießen. Meine 120-Millimeter-Granaten wären im Ernstfall Atomgranaten gewesen – von der US-Armee „ausgeliehen“. Sie sollten, war der Generalplan, den Vorstoß der sowjetischen Panzerarmeen stoppen. Die Bundeswehr war also bereit, das eigene Territorium zu verseuchen und ihre Bevölkerung zu töten, um den Systemfeind zu stoppen.
Fürsorgepflichten überall
Ich kontrolliere am Schlagbaum. Und Lucy strampelt im blauen Kinderwagen, überrascht beäugt von den vorbeirollenden Panzerbesatzungen, Kasernenbesuchern und Lieferanten. Das geht eine Stunde so – dann nähert sich mit schnellem Schritt mein Kompaniechef, Hauptmann J. „Achtung! Stillgestanden! Meldung!“ Auf Wunsch des Bataillonskommandeurs soll Vater Ratzel vom Wachdienst abkommandiert werden, teilt er mir mit.
Zeitgleich rast der Kübelwagen des Offiziers vom Wachdienst um die Ecke. Wieder Hacken zusammen! Panzergrenadier Ratzel meldet die Durchführung des Wachdienstes: „Keine besonderen Vorkommnisse.“ Der Offizier herrscht mich an: Was ich angestellt habe, sei verantwortungslos. Ich haspele im Stakkato den Sachverhalt herunter und verteidige mich, dienst- und väterliche Fürsorgepflicht optimal verbunden zu haben. Meine Tochter zu Hause sich selbst zu überlassen komme für mich nicht infrage. Der Offizier gerät in Rage und schreit, was mit meinem Baby geschehe, sei ihm egal – Hauptsache, ich trete meinen Dienst an!
Das Geschrei verursacht einen Auflauf, der Verkehr stockt. Die Offiziere werden nervös, jede Sekunde könnte die Wetzlarer Presse eintreffen. Und in der Kaserne ist das maoistische Soldatenkomitee „Soldatenfaust – Im Ernstfall die Gewehre umdrehen!“ aktiv, das solche Vorfälle in der Soldatenzeitung in den Kasernen verbreitet. Eile ist deswegen für die Offiziere geboten. Man entbindet mich vom Dienst und befiehlt einen Tag Sonderurlaub: „Bis morgen zum Wecken. Sofort abtreten!“ Hauptmann J. beordert den Kinderwagen zurück in Zelle 5 des Wachraums. Dort wickle ich Lucy noch einmal, gebe ihr die Flasche und warte auf den Urlaubsschein. Darauf steht: Alle Behörden werden ersucht, ihm, also mir, notfalls Schutz und Hilfe zu gewähren. Da muss ich doch laut lachen.
Abends besuchen wir eine Arbeitskollegin meiner Frau. Sie überlegt, wie sie uns helfen kann. Sie würde sich melden, sagt sie. Doch sie meldet sich nicht. Also bleibt alles wie gehabt. Am folgenden Morgen rufe ich in meiner Kompanie an: Ich könne nicht kommen, meine kleine Tochter sei sonst ohne Aufsicht. Gerade als ich Lucy wickle und für den Tag anziehe, klingelt es an der Tür. Vor mir stehen zwei Unteroffiziere, um mich zum Verhör in der Kaserne abzuholen. Ich bitte sie herein und mache das Baby fertig. Die Unteroffiziere warten sichtlich nervös. Dann fahren wir zu viert im rumpligen Iltis-Geländewagen in die Kaserne.
Keine bleibenden Schäden
Ich warte mit Lucy eineinhalb Stunden im Dienstraum des Unteroffiziers vom Dienst. Lucy wird quengelig und beginnt zu weinen. Hauptmann J. schreit mich beim Eintreten sofort an. Er will mir Befehlsverweigerung anhängen. Auch ich werde laut. Lucy liegt jetzt vor Schreck ganz still im Kinderwagen. Nach einer Stunde Hin und Her bekomme ich noch einmal Sonderurlaub, und wir können tatsächlich gehen. Wenig später erhalte ich die Quittung, eine Disziplinarmaßnahme. Panzergrenadier Ratzel wird mit zehn Tagen Ausgangsbeschränkung bestraft. Die Vollstreckung beginnt am 15. April 1973. Da ist meine Tochter 79 Tage alt.
Diese Daten kann ich deshalb so genau benennen, weil ich darüber ein kurzes Tagebuch geschrieben habe. Wie es aber mit Lucys Betreuung später weiterging, daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr genau erinnern. Irgendeine Lösung müssen wir wohl gefunden haben. Jedenfalls hat sie keine bleibenden Schäden davongetragen. Unmittelbar nach der Ausgangsbeschränkung wurde ich Anfang Mai 1973 ins Lager Oerbke des Panzerschießplatzes Bergen-Hohne kommandiert. Weitere Lager sollten folgen.
Am 31. Dezember 1973 war mein familienfeindliches W15-Dasein vorbei. Aber die Bundeswehr ließ mich nicht los. Obschon ohne Dienstgrad und als maoistischer Zersetzer erkannt, unterwarf sie mich der 24-Stunden-Alarmbereitschaft, mit voller Ausrüstung im heimischen Keller. Da war Lucy 238 Tage alt.
Wolfgang Ratzel, 65, verantwortet heute das Autonome Seminar der Humboldt-Universität Berlin und arbeitet als Volkshochschuldozent
Extramaterial
Original-Dokumente aus Wolfgang Ratzels Bundeswehr-Zeit (Urlaubsschein und Disziplinarmaßnahme)
Eine gepamperte Armee?
Die Bundeswehr hat Nachwuchssorgen. Es ist kein Geheimnis, dass sich keineswegs „die Besten eines Jahrgangs“, wie es sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wünscht, für den Soldatenberuf entscheiden. Deshalb peilt die ehrgeizige Ministerin ein neues Ziel an: Die Bundeswehr zu einem der attraktivsten Arbeitgeber der Republik zu machen, am besten ausgezeichnet als „familienfreundlichster Betrieb“. Von der Leyen verspricht ihren Untergebenen flexiblere Dienstzeiten, mehr Teilzeitarbeit und Home-Office, eine bessere Kinderbetreuung durch Bundeswehr-Kitas und Tagesmütter, aber auch weniger Versetzungen von einem Standort zum anderen sowie eine verlässlichere Karriereplanung.
100 Millionen Euro will sie für ihr in der vergangenen Woche vorgestelltes 29-Punkte-Programm aus dem Verteidigungshaushalt investieren. Dass sie dafür auch Spott und Häme erntet – von der Leyen agiere wie eine gute Hausfrau und Mutter, wird ihr vorgehalten – und sich die Bundeswehr vom Image der Softies, Heimschläfer und Warmduscher teils dankend distanziert, war zu erwarten. Auf der Strecke bleibt bei der Diskussion aber vor allem, dass die oberste Dienstherrin mit ihrer gepamperten Armee davon ablenken will, dass sie bereit ist, ihre Teilzeit arbeitenden Mütter und Väter immer öfter in den Krieg zu schicken. Und dort, liest man in einem Gutachten, gilt keine EU-Arbeitszeitrichtlinie mehr. uba
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