Heidegger und der Nationalsozialismus

Neujahrsgruss - und Jahresendsammelsurium

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Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin – seit 1998 - Das Autonome Seminar wird ehrenamtlich organisiert und ist offen und entgeltfrei für alle.

Verantwortlich und Infos: Wolfgang Ratzel, Tel. 030-42857090 - eMail: autonomes.seminar@t-online.de - http://autonomes-seminar-humboldt.webs.com/

Berlin, den 30. Dezember 2013

Sammelsurium 17

Im Januar 2014 macht das Autonome Seminar Denk-Pause. Unser erster Termin im Neuen Jahr wird am Do, 30. Januar 2014 sein. Die Yoga-Übungen aber gehen weiter.

Das Jahresend-Sammelsurium steht im Zeichen einer aufs Neue am Horizont heraufziehenden Debatte über Heidegger und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus – emotionsgeladen wie nie zuvor.

Darauf freue ich mich, zumal diese Debatte unmittelbar fruchtbar werden wird für unser Experimentieren über das, was wir derzeit hilfsweise „Lebens- und Politikformen jenseits des Wertdenkens“ nennen.

Wir wollten schließlich schon im laufenden Wintersemester genau dieses Thema in den Mittelpunkt stellen. Nun overwhelmen uns die Ereignisse – siehe nachfolgende Texte.

Anno 2013 haben sich zwei Weichenstellungen ereignet: Erstens haben wir begonnen, das, was mensch „Kritik des Wertdenkens“ bzw. „Kritik des Denkens in Werten“ bzw. „Kritik des Subjektivismus“ oder (positiv) „Seinsdenken“ nennen könnte, anzuwenden – und zwar in Gestalt von Orientierungspunkten hinsichtlich der Frage der Immigration („Wer darf rein und wer muss draußen bleiben?“).

Am Anfang stand jedoch der Versuch einer Positionierung zum „Dritten Geschlecht“, genauer: zur Überwindung der willkürlichen Geschlechterdualität und der Hinwendung zum Begreifen der vielgeschlechtlichen Erscheinungsformen unseres Daseins in der Welt und auf der Erde.

Es folgte der Versuch einer Kritik des verwertungsgeleiteten Verhältnisses zwischen Mensch und Tier in Gestalt der vielmillionenfachen grauenhaften Tötung „überflüssiger“ männlicher Küken, und zwar sowohl durch die herkömmlichen Eier- als auch durch Ökoeier-Produzenten (inclusive Demeter-Betriebe!).

Zweitens haben wir versucht, ein Denken jenseits des reflexiven Denkens zu lernen.

Beide Experimente erwiesen sich als Aufgaben, die uns an die Grenze des Scheiterns brachten. Wer solches versucht, begibt sich immer schon in steilwändige Vertikalspannungen.

Es ist ein guter Brauch, zwischen den Jahren Vorsätze zu fassen. Und vielleicht kehrt in der Sylvesternacht Apollos Befehl aus dem Stein wieder: „Du mußt dein Leben ändern!“ - diesmal vielleicht von ganz woanders her.

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(1) Die nächsten Yoga-Termine und Übungsorte:

Wann? Do, 2. Januar und Do, 9. Januar 2014 - Zeit: jeweils 17:00 bis 18:15 Uhr

Wo? Raumänderung! Jeweils in den Räumen der Freireligiösen Gemeinde, Pappelallee 9, 10437 Berlin-Prenzlauer Berg (U-Bf Eberswalder Strasse und Tram 12, Haltestelle Eberswalder Str. /Pappelallee).

Die Übung am Do, 16. Januar 2014 muss leider ausfallen.

Am Do, 23. Januar 2014, treffen wir uns wieder wie gehabt um 17:00 Uhr im Raum 293 des Seminargebäudes der Humboldt-Universität in der Invalidenstrasse 110.

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(2) Die nächsten Lektürekurse Martin Heidegger: „Was heißt Denken?“

Do, 30.01.14 - "Die Zeit im Abendland" (1. Hälfte von Kapitel X: S.61-64).

Do, 13.02.14 - "Erlösung von der Rache" - 2. Hälfte des Kap. X, also den Schluss des Buches behandeln (S. 64-72)

Do, 27.02.14 - Abschließende, rekapitulierende Sitzung, die die verschiedenen Themen zusammenschaut: Denken, Vorstellen, Nachstellen, Wille, Widerwille gegen die Zeit und ihr 'es war', Rache, die Wüste wächst. Technik, "ständig rotierende Wiederkehr des Gleichen" (S. 71). Erlösung von der Rache. - "die Ausflüchte vor der Dunkelheit des Gedankens der ewigen Wiederkehr" (S.71)

- jeweils 18:30 bis 20:30 Uhr

Wo? Seminargebäude der Humboldt-Uni, Invalidenstrasse 110, Raum 293 (beim U6-Bf Naturkundemuseum)

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Die nächsten Übungen des „An-Denkens“ (eines Denkens jenseits des reflexiven Denkens) finden jeweils um 15:45 Uhr vor dem Osteopathischen Yoga und den Lektürekursen statt. Nächster Termin: Do, 30.1.2014, 15:45 Uhr – Raum 293

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Heidegger und der Nationalsozialismus

- Stellungnahme des Martin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität Wuppertal zur Veröffentlichung der "Überlegungen" aus den "Schwarzen Heften" Martin Heideggers

http://www.heidegger.uni-wuppertal.de/aktuelles.html

„Die erste Reihe von Martin Heideggers "Schwarzen Heften" (die sogenannten "Überlegungen" II bis XV) werden in den Bänden 94 bis 96 der Gesamtausgabe Anfang 2014 erscheinen. Die Herausgabe der Hefte ist eine der Aufgaben des Martin-Heidegger-Instituts. Im Vorfeld ist durch eine Indiskretion in Paris bekannt geworden, dass es in ihnen antisemitische Passagen gibt. Das Institut wird sich zu gegebener Zeit mit den Heften in Form einer Tagung beschäftigen. Am 28. April 2014 werde ich an der Bergischen Universität einen Vortrag mit dem Titel "Heidegger und das ,Weltjudentum'" halten.“ (Peter Trawny, zur Zeit Leiter des Martin-Heidegger-Instituts)

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- Verlagsinformation über die Martin Heidegger Gesamtausgabe - Fundstelle: http://www.klostermann.de/Buecher/Seite-/-Kategorie

[…] Für die IV. Abteilung sind Hinweise, teils zu schon veröffentlichten Schriften, Aufzeichnungen zu Seminaren, Denksplitter, ausgewählte Briefe und Verdichtetes vorgesehen. Als erster Band erschien 1999 Band 85 Vom Wesen der Sprache mit den Aufzeichnungen und Protokollen eines Herder-Seminars vom Sommersemester 1939.

"Verdichtetes" sind die 33 sogenannten "Schwarzen Hefte", in die Martin Heidegger wichtige Einsichten und Erfahrungen seiner denkerischen Bemühungen über mehr als vier Jahrzehnte hinweg niedergeschrieben hatte. Die Veröffentlichung dieser "Schwarzen Hefte" wird nach seiner Entscheidung am Ende der Gesamtausgabe erfolgen.

Zwei "Schwarze Hefte": "Überlegungen I" (von 1931/32) und "Anmerkungen I" (von 1945/46) fehlen im Nachlaß, der im Deutschen Literaturarchiv (Postfach 1162 - D-71666 Marbach am Neckar) aufbewahrt wird. Die Familie vermutet, dass Heidegger diese Hefte vor langer Zeit ausgeliehen und nicht zurückerhalten habe. Derzeitige Besitzer werden gebeten, sich beim Verlag Klostermann, beim Deutschen Literaturarchiv oder beim Nachlassverwalter, Dr. Hermann Heidegger, Attental 4, 79252 Stegen, zu melden.

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- Stellungnahme der Heidegger-Gesellschaft zu den »Schwarzen Heften< - http://www.heidegger-gesellschaft.de/anklaenge/stellungnahme-zu-den-schwarzen-heften/

Über die Presse ist mittlerweile bekannt geworden, dass die Bände von Martin Heideggers »Schwarzen Heften«, die im Frühjahr 2014 veröffentlicht werden sollen, einige antisemitische Passagen enthalten. Diese Passagen sind in die dreißiger und frühen vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zu datieren. Was sie genau für Heideggers Denken bedeuten, lässt sich erst sagen, wenn sie im Kontext gelesen und interpretiert werden können. Insofern ist eine sachlich fundierte Erörterung erst möglich, wenn die ersten Bände der »Schwarzen Hefte« veröffentlicht sind.

Die Martin-Heidegger-Gesellschaft wird die wissenschaftliche und öffentliche Erörterung der »Schwarzen Hefte« fördern und alles ihr Mögliche dafür tun, dass diese Erörterung umfassend und ohne jede Apologie geführt wird. Entsprechende Initiativen der Gesellschaft sind für 2014 geplant.

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Antisemitismus bei Heidegger - Ein Debakel für Frankreichs Philosophie - Von Jürg Altwegg, Genf – In: F.A.Z. vom 13.12.2013

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/antisemitismus-bei-heidegger-ein-debakel-fuer-frankreichs-philosophie-12710158.html

Paris, die Hauptstadt des Heidegger-Kults, reagiert heftig auf neu aufgetauchte antisemitische Passagen des Philosophen. Mancher will ihre Publikation verhindern.

Es ist gewissermaßen ein Samisdat, mit dem man für Zensur sorgen will. Ein Störmanöver, das die Bombe im Voraus entschärfen soll. Sie platzt in Paris, der unheimlichen Hauptstadt des irrationalsten Heidegger-Kults. Unter den französischen Freunden des deutschen Philosophen kursieren Fotokopien aus den „Schwarzen Heften“. Es sind Zitate, die Heidegger als Antisemiten ausweisen. Das ist nicht nur ein schwerer Schlag für die unverbesserlichen Verehrer, sondern ein Debakel für die französische Nachkriegsphilosophie schlechthin. Eine ihrer Schlüsselfiguren bleibt Jacques Derrida, dessen Gesamtwerk George Steiner als „Fußnoten zu Heidegger“ bezeichnet hat.

Martin Heideggers „Schwarze Hefte“ werden als „Tagebuch seines Denkens“ beschrieben. Die Einträge erschließen die Jahre 1931 bis 1975. Der Philosoph hatte sie durchaus für eine Veröffentlichung bestimmt. Mit ihr soll im Rahmen der bei Vittorio Klostermann erscheinenden Gesamtausgabe im kommenden Frühjahr begonnen werden. Für den 13. März 2014 sind drei Bände mit den Notizen aus den Jahren des Nationalsozialismus angekündigt: 1933 bis 1941. Die Aufzeichnungen von 1931 und 1932 sind verschollen.

Heideggers französische Gralshüter

Die Edition wird von Peter Trawny betreut, der vor einem Jahr in Wuppertal an der Bergischen Universität das erste Martin-Heidegger-Institut im deutschsprachigen Raum begründet hat. Parallel zu den „Schwarzen Heften“ kündigt er ein Buch über Heidegger und das Weltjudentum an. Wie es unter befreundeten Wissenschaftlern Brauch ist, hat Trawny von seinen Studien, Funden und Plänen den Pariser Kollegen berichtet. Aber auch direkt aus Freiburg sind Heideggers Gralshüter in Frankreich informiert worden. Sie machen nun ganz offensichtlich Druck, um eine Veröffentlichung zu verhindern: auf den Verlag, die Familie, den Herausgeber.

Weil diese Versuche kaum erfolgreich sein werden, bekämpfen sie die Enthüllungen mit ihrer Guerrilla-Strategie der Entschärfung. Vor wenigen Tagen wurden im Pariser Kino Saint-Germain-des-Prés bei einer von Bernard-Henri Lévys Zeitschrift „La règle du jeu“ organisierten Veranstaltung Passagen vorgelesen, die keine Zweifel mehr offenlassen: Heidegger hat sich während des Dritten Reichs übler antisemitischer Klischees bedient.

Heideggers Wurzeln in der neueren französischen Philosophie

Heidegger hatte im Windschatten der deutschen Panzer Einzug in Paris gehalten. Joseph Rovan und andere lasen ihn im Widerstand. Jean-Paul Sartre diskutiert mit einem Priester im Kriegsgefangenenlager über ihn. Jean Beaufret, sein wichtigster Vermittler in Frankreich, dem Heidegger den „Brief über den Humanismus“ widmete, hatte ausgerechnet am 6. Juni 1944 die Erleuchtung: Ein Kollege betrat sein Klassenzimmer, in dem Beaufret, „Sein und Zeit“ lesend, die Abiturprüfungen überwachte, und rief: „Sie sind gelandet.“ Worauf Beaufret nur entgegnete: „Ich habe gerade Heidegger verstanden.“

Auf dem Todtnauberg bekam Heidegger Besuch von Angehörigen der französischen Besatzungsarmee in Deutschland. Sein Einfluss auf das französische Denken hat den Cartesianismus in die Krise gestürzt. Er ist von Sartre bis Foucault und Lacan auszumachen. Auch Alain Finkielkraut und Philippe Sollers haben sich zu Heidegger bekannt, ebenso der Dichter René Char. Im Bereich der Politik reicht sein Wirken von den Linksextremen über die Grünen bis zu den Neofaschisten von der Nouvelle Droite. Heidegger war der Vater der Dekonstruktion, welche die Realität durch den Diskurs ersetzt hat. Von Victor Farias bis Emmanuel Faye hat es immer wieder Angriffe auf seine braune Vergangenheit gegeben. Sein Denken wurde mit der NS-Ideologie in Zusammenhang gebracht. Aber noch André Glucksmann, der Heidegger zu den leicht totalitären „Meisterdenkern“ zählte, nahm ihn vom Vorwurf des Antisemitismus aus.

Kampf um Heidegger

Eine Übersetzung von „Sein und Zeit“ erschien erst 1985 in Paris, zunächst als Raubdruck. Heideggers Vergangenheit wurde noch hartnäckiger, erfolgreicher und länger verdrängt als Vichy. Als eifrigster Jünger kämpft der Beaufret-Schüler François Fédier um seine politische Ehre. Fédier betreut Heidegger bei Gallimard. Er hatte bereits versucht, die Veröffentlichung der Rektoratsrede zu verhindern – sie wurde um zwei Jahre verzögert. Jetzt wirkt er als Drahtzieher der Verhinderungsstrategie gegen die „Schwarzen Hefte“.

Im Vorfeld ihrer Veröffentlichung ist in Paris eine erstaunliche publizistische Aktivität zu beobachten. Von Emmanuel Faye erscheint im Januar „Heidegger. Le sol, la communauté, la race“ – Boden, Gemeinschaft, Rasse. Auch die Philosophin Sylviane Agacinski, die mit Derrida verheiratet war und es mit Lionel Jospin ist, kündigt ein Buch über Heidegger an. Sie kämpft als Gegenspielerin von Elisabeth Badinter für ein Verbot der Prostitution und der Leihmutterschaft. Die Veranstaltung im Kino Saint-Germain war eine Buchpräsentation. Es ging um den von François Fédier mitbetreuten „Dictionnaire Heidegger“.

„Im ganzen bislang gedruckten Werk gibt es keinen einzigen antisemitischen Satz“, schreibt Adrien France-Lanord. Er selber hat aus den zirkulierenden Fotokopien vorgelesen: „Mein Kapitel über den Antisemitismus ist obsolet. Es muss neu geschrieben werden.“ Aber lieber in Paris, unter der Kontrolle der französischen Heideggerianer.

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- Thomas W. empfiehlt: Die Zeit, Nummer 1, Seiten 48 und 49, 27. Dezember 2013 - (PDF-Datei)

Martin Heideggers Antisemitismus

Anfang des Jahres erscheinen die Schwarzen Hefte von Martin Heidegger aus dem Nachlass. Schon jetzt sind in Frankreich einige Stellen dieser philosophischen Notizen bekannt geworden. Sie enthalten antisemitische Bemerkungen von bislang nicht bekannter Vehemenz. War Heidegger, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, stärker als bislang bekannt dem Nationalsozialismus verfallen?

Inhalt: Thomas Assheuer berichtet über die aufgetauchten Zitate, der Herausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe, Peter Trawny, versucht sie einzuordnen, der Philosoph Emmanuel Faye wundert sich nicht.

- »Er spricht vom Rasseprinzip« - Von Thomas Assheuer - (S. 1 der PDF-Datei)

Nach seinen jetzt bekannt gewordenen Ausfällen gegen die Juden lässt sich Heidegger nur noch schlecht verteidigen.

- »Eine neue Dimension« (S. 3 der PDF-Datei)

Die antisemitischen Aussagen Heideggers sind schwer erträglich, findet der Herausgeber der »Schwarzen Hefte« Peter Trawny – und sieht sich einer Medienkampagne ausgesetzt. Nun ist klar, dass Heidegger sein antisemitisches Ressentiment zum Anlass philosophischer Gedanken machte. Glaubte Heidegger auch nach 1945 an seine antisemitischen Äußerungen der Schwarzen Hefte? Das ist kaum zu glauben.

- »Die Krönung der Gesamtausgabe« (S. 7 der PDF-Datei)

Ein Gespräch mit dem französischen Philosophen Emmanuel Faye über die »Schwarzen Hefte« und Heideggers düsteres Vermächtnis. Emmanuel Faye (geb. 1956) ist Philosophie-Professor an der Universität Rouen. Faye veröffentlichte das aufsehenerregende Buch »Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie« (Berlin 2009). Im Januar 2014 wird er den Band »Heidegger, le sol, la communauté, la race« (»Heidegger, der Boden, die Gemeinschaft, die Rasse«) in Paris herausgeben.

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Martin Heidegger - Sein und „Zeit“- Von Jürgen Kaube – In: F.A.Z. vom 27.12.2013 - http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/martin-heidegger-sein-und-zeit-12728791.html

Martin Heidegger und die ewige Wiederkehr des gleichen Skandals: In der Wochenzeitung „Die Zeit“ wird die These vertreten, wegen bisher unbekannter Zitate lasse sich der Philosoph „nur noch schlecht verteidigen“. Wie bitte?

Martin Heidegger lasse sich jetzt „nur noch schlecht verteidigen“, meint Thomas Assheuer. Der Redakteur der „Zeit“, der es zum Glück auch noch nie versucht hat, fasst so zusammen, was sich für ihn aus einigen bislang unbekannten Zitaten des Philosophen ergibt.

Im kommenden März werden sie in einer Edition von Heideggers sogenannten Schwarzen Heften nachzulesen sein. In ihnen hatte sich der Philosoph von 1931 an Notizen gemacht, unter anderem antisemitische. Welcher Art sie genau sind, weiß außer einer Handvoll Leute niemand. „Kleinste philosophische Partikel“ (Assheuer), vulgo: ein paar Halbsätze sind über Pariser Lautsprecher bekannt geworden.

Mithin ist jetzt publik, dass Heidegger vom „Rasseprinzip“ schrieb, eine „Begabung“ der Juden für „das Rechnerische“ erkannt haben wollte und eine „Entwurzelung“ und „Weltlosigkeit“ des „Weltjudentums“. Weshalb man den Autor dieser Phrasen jetzt „nur noch schlecht“ verteidigen kann, bleibt Hamburger Redaktionsgeheimnis. Denn klarerweise kann man es überhaupt nicht und konnte es auch noch nie.

Das Weltunglück im Allgemeinen

Heideggers Diagnose war, das Weltunglück im Allgemeinen wie die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts im Besonderen entsprängen der Rechenhaftigkeit und Technizität des abendländischen Denkens. Dafür machte er abwechselnd alle Philosophen nach Heraklit und vor Heidegger, insbesondere aber Descartes, außerdem – von Hölderlin abgesehen – das neunzehnte Jahrhundert sowie die Amerikaner und die Russen verantwortlich. Und hier nun also auch die Juden. Das alles war seit jeher als krauses, eines Schülers von Edmund Husserl unwürdiges Gerede erkennbar; Guido Schneebergers Dokumentation der nationalsozialistischen Sprüche Heideggers stammt von 1962.

Thomas Assheuer jedoch hält den Gedanken, die Durchrationalisierung der Welt habe eine „neue Undurchsichtigkeit“ und diese das Ungeheuerliche erzeugt, für „originell“. Er schlägt nur vor, die Rechenhaftigkeit nicht wie Heidegger in das Judentum zu projizieren, sondern – „wie Horkheimer und Adorno“ – dem ökonomischen Zweckdenken zuzuschreiben, das eine „dämonische Intransparenz“ geschaffen habe.

An der Weltverdüsterung wäre also die betriebswirtschaftliche Rationalität schuld? Das ist ebenso intelligent wie das Gerede von einer „totalisierten Vernunft“, unter der die Menschheit leide, weil sie in „totale Unvernunft“ umgeschlagen sei. Oder die These, Heidegger habe einen „Kampf gegen das ,Weltjudentum‘ geführt“ – in unpublizierten Notizheften.

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Holger Zaborowski: Eine Frage von Irre und Schuld? Vom Verhängnis der Fremdbestimmung - Von DIETER THOMÄ – In: F.A.Z. vom 07.07.2010 ·

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/holger-zaborowski-eine-frage-von-irre-und-schuld-vom-verhaengnis-der-fremdbestimmung-1999098.html

Martin Heidegger und der Nationalsozialismus: Eines der großen philosophisch- politischen Dramen des zwanzigsten Jahrhunderts wird von Holger Zaborowski neu aufgeführt - auf 794 Seiten, aber seine Argumentation hat eine Schlagseite.

Wenn alle sich streiten wie die Kesselflicker, wenn der Streit kein Ende nehmen will, dann kommt - egal, worum es geht - irgendwann das Bedürfnis hoch, dass jemand sich endlich ein Herz nimmt und sagt: Basta! Ich sag' euch, wie es ist! Holger Zaborowskis Buch über Martin Heidegger und den Nationalsozialismus ist zweifellos der Absicht entsprungen, ein solches Schlusswort zu sprechen. In Zaborowskis eigener, etwas bemühter und verdruckster Ausdrucksweise hört sich dies so an: „Es mag heute geboten sein, die Diskussion auf einer Ebene zu führen, die der Komplexität dessen, was geschah, und seiner Ambivalenz gerecht wird.“

Gerechtigkeit will Zaborowski also walten lassen in jenem Streit um Heideggers Liaison mit dem Nationalsozialismus, die seit siebenundsiebzig Jahren, seit 1933 große und kleine Geister beschäftigt. In Freiburg ist die Nervosität immer noch groß - so auch in Paris, wo vor kurzem Emmanuel Faye nassforsch forderte, Heideggers Bücher sollten aus den philosophischen Bibliotheken entfernt werden. Die Erfüllung dieser Forderung wäre zwar beschäftigungsfördernd für Umzugshelfer weltweit, aber doch ziemlich unsinnig. Wo auch immer die knapp hundert Bände der blau-roten Werkausgabe aufgestellt sind, sie gehören zum philosophischen und - wie Zaborowski ergänzt - auch zum historischen Erbe des 20. Jahrhunderts.

Mit der Objektivität des Historikers

Genau diese Doppelperspektive ist es auch, mit der er nun einen neuen Standard setzen will: Mit der „Objektivität“ des „Historikers“ will er Heidegger als „Person der Zeitgeschichte“ behandeln und sich zugleich als Philosoph dessen „begrifflich anspruchsvollem“ Werk gewachsen zeigen. Seine (übertriebene) Behauptung, diese Verbindung sei bislang sträflich vernachlässigt worden, nimmt er als Rechtfertigung, um die Sekundärliteratur zum Streitfall Heidegger um weitere 794 Seiten anwachsen zu lassen.

Ein Schlusswort also oder mindestens ein Buch, das den state of the art neu definiert? Wie kein Zweiter hat Zaborowski alle erreichbaren Quellen studiert und Archive gesichtet. Der Spannungsbogen des Buches beschränkt sich keineswegs auf die NS-Zeit, sondern reicht von der Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre. Sorgfältig, ein wenig umständlich wird das Material ausgebreitet und neu arrangiert, den Kennern mag das allermeiste bekannt sein, doch mancher bisher unbekannte Brief wirft interessante Schlaglichter. Heideggers Weg ins Freiburger Rektorat 1933 wird genau rekonstruiert, man erfährt Neues über die Diskussion zu Heidegger im Deutschland der NS-Zeit. Und doch bleibt Zaborowski in der selbstgesetzten Aufgabe, als Philosoph und Historiker zugleich zu agieren, stecken. Was sich hätte befruchten können, hat sich gegenseitig gelähmt. Sein Buch ist verdienstvoll und im Ganzen doch kraftlos, es ist gut gemeint, aber nicht wirklich gut gelungen.

Zaborowski schwächelt als Historiker. Er stellt immer wieder die Gretchenfrage, ob und in welchem Ausmaß Heidegger nationalsozialistisch gedacht oder gehandelt habe, ob also etwa das frühe Hauptwerk „Sein und Zeit“ ein „Dokument des Protofaschismus“ sei. Seine Antwort fällt in diesem Fall ähnlich aus wie bei anderen Gelegenheiten; sie lautet: „Die Wahrheit liegt - wieder einmal - in der Mitte zwischen den Extrempositionen.“ Das mag vielleicht stimmen, aber bevor man sich auf diesen Mittelweg begibt, sollte man erst einmal sagen, was man damit überhaupt meint: Nationalsozialismus, Faschismus, Protofaschismus und so weiter. Mit Blick auf Heidegger geht gar das Wort vom „Privatnationalsozialismus“ um; man muss also etwas über den nichtprivaten Nationalsozialismus wissen, wenn man Heidegger auf die Finger schauen will. Zaborowski verzichtet leider vollständig darauf, ein eigenes Bild der ideologischen Gemengelage zu präsentieren, auf die er sich doch laufend beziehen muss. Wie steht es mit der Totalitarismustheorie? Was ist mit dem langwierigen, schwerwiegenden Streit um die Frage, ob der Nationalsozialismus „antimodern“ oder auf eine verdrehte Weise „modern“ gewesen sei? Diese neueren Forschungsfragen kommen bei Zaborowski nicht vor, sie sind aber gerade mit Blick auf Heidegger bedeutsam, denn bei ihm spielt das „Totale“ ebenso wie das „Moderne“ eine Schlüsselrolle. Zaborowskis Buch trägt den Untertitel „Martin Heidegger und der Nationalsozialismus“, aber es hat eine Schlagseite in Richtung Heidegger, die es zum Kentern bringt.

Verhängnis der Fremdbestimmung

Nicht nur als Historiker, auch als Philosoph will sich Zaborowski Heidegger nähern. Sein Respekt für dessen philosophische Leistungen kommt in seinem Buch ebenso glaubwürdig zum Ausdruck wie seine Vorbehalte. Es fällt ihm allerdings sichtlich schwer, von der historischen Person zu den philosophischen Positionen zu wechseln. Lohnenden, ja fast unvermeidlichen Streitfragen weicht er aus.

Ein Beispiel. Viele renommierte Heidegger-Interpreten meinen, in „Sein und Zeit“ und anderen frühen Texten fänden sich Elemente eines Konzepts von Selbst und Mitwelt, die jenem Verhängnis der Fremdbestimmung entgegengehalten werden können, welches sowohl im Kollektivismus der NS-Ideologie wie auch in Heideggers eigener Spätphilosophie auftrete. Andere ebenso renommierte Forscher halten sich gerade an diese Spätphilosophie und stellen etwa die „Gelassenheit“ oder das „Schonen“ gegen die Machtphantasien, die sie sowohl bei den NS-Ideologen wie auch beim frühen Heidegger, der „Herr der Macht, die wir selbst sind“, werden wollte, entdecken. Mal sind es Gedanken des frühen, mal solche des späten Heidegger, die man dem Nationalsozialismus entgegenhält - und diese Gedanken sind nicht dieselben.

Diese und andere Kontroversen kommen bei Zaborowski überhaupt nicht vor. Er fragt nach der Verantwortung der Person, er interessiert sich für den einen Kopf, die eine Hand, aus der dieses große Werk mit all dem Falschen und Abwegigen, Richtigen und Wegweisenden entsprungen ist. Statt sich hart am Wind der Positionen zu halten, statt den Gedanken ihre Eigenständigkeit zu gönnen, zieht er sich zurück auf den Befund, das ganze Werk sei eben zwiespältig - wie die Person selbst. Das Gleiche könnte man auch, alles in allem, über das Wetter in Deutschland sagen, aber etwas genauer hätte man es schon gern.

In der Feststellung von Ambivalenzen erschöpft

Zaborowskis Grundidee, die Rollen des Historikers und des Philosophen zusammenzuspannen, ist prächtig, deren Umsetzung mittelprächtig. Als Historiker sieht er sich einer „sachgemäßen Hermeneutik“ verpflichtet; faktisch führt dies dazu, dass sein Buch von Sätzen überquillt, die Selbstverständlichkeiten festhalten: „Weniger als sieben Jahre nach der Veröffentlichung von ,Sein und Zeit' - im Jahr 1933 - begann die nationalsozialistische Diktatur.“ Gut, dass das endlich mal jemand gesagt hat. Als Philosoph will er zu einem abgewogenen Urteil gelangen; faktisch führt dies dazu, dass er sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in der Feststellung von Ambivalenzen erschöpft: „Was dabei zunächst einmal deutlich geworden sein dürfte, ist, was oft betont wurde, dass nämlich die Frage nach Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus äußerst komplex ist.“

Genau, das kann man nicht häufig genug wiederholen. Wenn man die zahllosen Sätze solcher Art überspringt, dann bleibt immerhin noch ein taugliches Buch übrig: eine gründliche Aufbereitung des Materials zu einem der großen philosophisch-politischen Dramen des 20. Jahrhunderts.

Holger Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld?“ Martin Heidegger und der National-sozialismus. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010. 794 S., 16,95 Euro.

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DIES UND DAS - Oliver empfiehlt:

- Die neoklassische Arbeitsmarkttheorie | flassbeck-economics http://www.flassbeck-economics.de/die-neoklassische-arbeitsmarkttheorie/

- Dramatisches Missverhältnis - Die Subventionen für fossile Energien sind weltweit auf 523 Milliarden US-Dollar gestiegen. Das ist sechsmal mehr als die weltweiten Subventionen für Erneuerbare Energien.

http://www.fr-online.de/klimawandel/gastbeitrag-klimapolitik-subventionen-dramatisches-missverhaeltnis,1473244,25028764.html

- Linux Federation | Linux For Everyone http://www.linuxfederation.com/linux-everywhere/

- How gay is Islam? http://www.patcondell.net/how-gay-is-islam/

- Die Utopie leben - ARTE-Doku über Anarchismus und Bürgerkrieg in Spanien 1936 - http://www.youtube.com/watch?v=0uNSjlCkxwA

Der Dokumentarfilm Vivir la utopía! gibt einen Überblick über die Geschichte der anarchistischen Bewegung Spaniens seit dem 19.Jahrhundert […] und insbesondere die Einrichtung und das Funktionieren der Kollektivbetriebe in den ländlichen und städtischen Gebieten.

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ciao, Wolfgang Ratzel

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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