Hommage an Heideggers Denken des Seins Teil 2

Leitfragen - Wo finden wir in Heideggers Denken Andockpunkte für völkische und antisemitische Denkfiguren und Ressentiments?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität – autonomes.seminar@t-online.de

Leit-Fragen zur 2. Hommage am Do, 26.3.2015:

(1) Wo genau liefert Heideggers Denkweg Andockpunkte für völkische, nationalsozialistische und antisemitische Ideologien, Denkfiguren und Ressentiments?

(1a) Sind diese Andockpunkte zwingend-logische oder "nur" mögliche Folgen des Seinsdenkens?

(1b) Muss eine Denkweise, die Andockpunkte für Nationalsozialismus und Antisemitismus liefert, verurteilt werden, weil sie diese Andockpunkte möglich macht?

(2) Wie vereinnahmen völkisch-rechtsextreme Gruppen das Heideggersche Denken des Seins für ihre Zwecke? - genauer: Liegt überhaupt eine Vereinnahmung sprechen?

....................................................................................................

Wolfgang Ratzel: Wo in Heideggers Seinsdenken finden wir Andockpunkte für nationalsozialistische, völkische und antisemitische Denkfiguren?

Zu 1) Der wichtigste Andockpunkt für völkische und antisemitische Ressentiments ist die metaphysische Umdeutung dessen, was Heidegger „Seinsgeschichte“ nennt:

Die Leitfrage der Metaphysik lautet: Was ist Seiendes? Wie funktioniert Seiendes? Warum ist und woher kommt Seiendes. Was hält die Welt im Innersten zusammen?

Das, was Seiendes wesentlich ist, wird dann je nach DenkerXin verschieden als Geist, als Stoff, Kraft, Werden und Leben, Vorstellung, Willen, Substanz, Subjekt, als Wiederkehr des Gleichen usw. bezeichnet.

Da sich das metaphysische Denken auf das Sein des Seienden bezieht, ist es immer auch (ver-)wertend-rechnendes, vorstellendes Denken, in dem sich der Mensch als Maß-und-Mitte und Subjekt von allem sieht, was ist.

Heideggers Denkweg geschah als Hinauskommen über die Metaphysik. Heidegger fragte nach dem entbergend-verbergenden Wesen des Seins und deshalb nach dem Grund, in dem „der Baum der Metaphysik“ wurzelt. Dieses Hinauskommen über das rechnende Denken der Metaphysik geschah als besinnliches Denken des Seins, das nach der Wahrheit des Seins fragt.

Anfang der 30er-Jahre „vergaß“ Heidegger diese Grundrichtung seines Denkens. Er vergaß das Denken des Seins und ging zurück in den DenkRaum der Metaphysik. Dort geriet er in der Tat unter den „Willen zur Macht“ (Jan). Dieses Zurückgehen zeigt sich meines Erachtens insbesondere in der Umdeutung der Denkfigur der Seinsgeschichte

Andockpunkt: Seinsgeschichte als Seins-Schickung und als Seins-Geschick.

Im besinnlichen (An-)Denken des Seins bedeutet Seinsgeschichte, dass sich das Spiel der Verbergung und Entbergung des Seins als Geschichte in Zeit und Raum zeigt. Das Sein schickt sich, d.h. entbirgt und verbirgt sich dem Menschen verräumlicht und verzeitlicht als Seinsgeschichte.

Seinsgeschichte ist Seins-Geschick, d.h.: Nicht der Mensch „macht“ Geschichte, sondern das Sein schickt sich dem Menschen als Welt, d.h. als Horizont seines Daseins, zu. Warum schickt es sich dem Menschen zu? Weil das Sein nur im Menschen (derzeit noch) „da“ sein kann. Das Sein zeigt sich dem Menschen somit geschichtlich-geschicklich als „Schicksal“, in dessen Horizont der Mensch steht.

Das Sein zeigt und schickt sich als unergründliche, unverfügbare, geheimnisvolle und unsteuerbare Ordnung des Seins, die so ist, wie sie ist und so funktioniert, wie sie funktioniert. In diese unverfügbare und sinn-lose Ordnung ist der Mensch eingebunden.

Diese sinn-lose Ordnung des Seins verfolgt keinen Zweck. Sie trauert nicht, belohnt nicht, erlöst nicht. In Anlehnung an Arthur Schopenhauer und Wilhelm Szabo kann mensch sagen: „ens non contristatur“ – Das Sein trauert nicht! Die Ordnung des Seins schickt dem Menschen keinen Erlösungshorizont, kein paradiesisches Ende, auf das hin die Seinsgeschichte verläuft.

Die höchsterreichbare Glückseligkeit kann in der Verschmelzung, im Eins-Werden mit dieser Ordnung des Seins erreicht werden (oder auch nicht). Marlen Haushofer beschreibt diesen Zustand in ihrem Roman „Die Wand“.

Glückseligkeit kann auch entstehen im Staunen über die Erhabenheit, mit der sich die große Ordnung des Seins vollzieht. Mehr geht nicht.

Der Mensch kann also auf keine Erlösung hoffen. Paradise lost for ever. Für den (abendländischen) Menschen ist ein Sein ohne hoffnungsfrohe Aussicht auf jenseitige oder diesseitige Erlösung von Leid, Schmerz, Armut und Tod das Allerschlimmste, was ihm widerfahren kann.

Meines Erachtens hält Heidegger diese Konsequenz aus seinem Denken des Seins nicht aus. Er braucht einen Erlösungshorizont und schafft ihn sich durch Umdeutung seiner Seinsgeschichte.

Heideggers Irrweg beginnt, wenn er glaubt denken zu müssen, dass das Sein seinsgeschichtliche Aufgaben an das „Volksdasein“ bestimmter Völker schickt.

Den alten Griechen wird die Aufgabe des ersten Anfangs des Seinsdenkens geschickt, dem dann der Verfall dieses Denkens zur Metaphysik folgt.

Den Deutschen wird die Aufgabe der Vollendung der Metaphysik (durch Nietzsche) und des Anderen Anfangs des Seinsdenkens (durch Heidegger) geschickt.

Dem Russentum wird die Aufgabe der Bewahrung der Verwurzelung alles Seienden im Sein, den Amerikanern und Angelsachsen die Aufgabe der Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein geschickt. Dem Judentum als „schlechthin ungebundener Menschentümlichkeit“, das bei „ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip lebt“, wird schließlich die Vollendung dieser Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche Aufgabe zugeschickt.

Seltsamer- und auffälligerweise schickt das Sein dem Afrikanertum, dem Asiatentum und dem Lateinamerikanertum sowie den archaischen Völkern keine Aufgaben zu.

Heidegger verwandelt somit das Sein in eine Wirkmacht, die Ziele und Zwecke verfolgt. Ein Sein, das intentional und zielgerichtet wirkt und Aufgaben schickt, wird aber selbst zu einem Seienden; es wird zum obersten Seienden.

Indem Heidegger die Seinsgeschichte metaphysisch umdeutet, können seine lange schon vorhandenen völkischen und antisemitischen Ressentiments andocken.

Letztlich schickt aber nicht das Sein dem Volksdasein seine je-verschiedenen seinsgeschichtlichen Aufgaben zu, sondern Heidegger schickt seinen Fiktionen von Volksdasein seine Ressentiments zu.

...................................................

(2) Wie vereinnahmen völkisch-rechtsextreme Gruppen das Heideggersche Denken des Seins für ihre weltanschaulich-politischen Zwecke? - genauer:

Liegt hier überhaupt von Vereinnahmung vor?

Andockpunkte des modernen völkischen Denkens an Heideggers Denken (anhand der Zeitschrift „Sezession“ Nr. 64 vom Februar 2015)

Andockpunkt: Seinsgeschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes:

Das Volksverständnis der Zeitschrift „Sezession“ denkt ein „Volk, das ohne Riss an seiner Zukunft baut“ (Kubitschek, S.1) Das ist klassische Volksgemeinschafts-Ideologie. Wie gehabt wird der Riss durch Ausmerze der StörerXinnen oder gewaltsame Einfügung derjenigen, die das Volk zerreißen, geschlossen.

Gemäß „Sezession Nr.64“ ist das (z.B. auf den Pegida-Kundgebungen) vorfindliche real-existierende deutsche Volk „[…] vor allem ein ins Gestell jedweder denkbaren Machenschaft (Heidegger) gezwängtes, ausgehöhltes Gebilde, das von sich selbst, von seiner Seele und von Gott nicht mehr viel weiß.“ (ebd.).

Kubitschek verwendet hier die NS-Denkfigur der „Volkwerdung der Deutschen“ (Rosenberg. Fundstelle: https://www.youtube.com/watch?v=ZnJpQThY7V8 ), die im NS-Denken durch ideologische Erziehung und biologische Reinigung des „durch Rassenmischung verdorbenen Bluts“ (heute: des Genom) erst noch erfolgen muss. Das deutsche Volk, das in einem erbärmlichen geistigen und körperlichen Zustand dahinvegetiert, muss sozusagen „aufgevolkt“ werden, um seiner seinsgeschichtlichen Mission nachkommen zu können. Die arische Rasse bzw. das deutsche Volk ist immer erst das Produkt eines langen Prozesses einer gewalttätig-kriegerischen und ausmerzenden Rasse- und Volkwerdung. Erst als aufgevolktes Volk kann es seine seinsgeschichtliche Mission erfüllen.

Martin Sellner (Identitäre Bewegung Wien) bezieht die besagte „seinsgeschichtliche Sonderstellung“ nicht mehr auf das deutsche Volk sondern auf das „rechte Lager“.

Diese dem rechten Lager vom Sein selbst zugewiesene „besondere Aufgabe“ klingt so:

„Im tiefsten >Kali-Yuga< (wie die traditionalistische Schule das späte, >dunkle< Zeitalter nennt), im postmodernen >Ende der Geschichte<, in dem Sozialismus und Liberalismus zum zähen Brei der >political correctness< zusammenfließen, vermeintliche, subjektive >Freiheit< und Totalitarismus sich zu einem Gestell verschränken, trotzt es gerade mit seiner Exzentrik, seinem Hang zum Extrem, seiner ungesunden Spannung dem Wärmetod und der >Not der Notlosigkeit<.“ (ebd., S.13) Sellner hofft, dass jenes rechte Lager die richtige Sprache finden und den entscheidenden Nerv treffen wird. Dann nämlich kann „eine Botschaft das ganze Volk ergreifen und eine Wende herbeiführen.“ Sellners Zukunftsvision kulminiert in: „Kurz: Ich hoffe, dass ein Gott uns rettet. (ebd.)

....................

Andockpunkt: Warten auf den letzten Gott

Fundstelle: Sezession Nr. 64 und „Gespräch zwischen Prof. Alexandre Dugin und Prof. Friedrich-Wilhelm von Herrmann“ In: https://www.youtube.com/watch?v=b93z2yPo4pA

In allererster Linie docken die Neurechten und Völkischen an Heideggers Gottesbegriff an, und zwar deshalb, weil hiervon auch die Instanz des Führers abgeleitet werden kann. Zu Gott gehört nämlich immer ein Messias, d.h. ein von Gott erwählter und bevollmächtigter Mensch, der das auserwählte Volk Gottes zum Heilszustand führt.

Heidegger denkt in „Sein und Zeit“ Gott als „sich bekundete Person“, die als „fremde Machtäußerung“ ins Dasein hineinragt (§ 57, S. 275). Der Mensch stellt sich Gott als „Fülle des Seins vor, aus der die Schöpfung geschieht“ (von Herrmann). In solcher Vorstellung ist Gott das oberste Seiende.

Später, in der Perspektive, in der Sein als Ereignis erfahren wird, versucht Heidegger eine ursprüngliche Erfahrung des Göttlichen aus der Wahrheit des Seins zu denken (Beiträge zur Philosophie, S.404ff.) Er denkt diesen Gott gegen die gewesenen Götter, insbesondere gegen den christlichen Gott und nennt ihn den letzten Gott. Dieser letzte Gott bedarf des Ereignisses als Geschick des Seins, um zu erscheinen (ebd., S.409).

Auf diesen „letzten Gott“ wartet Heidegger. Wenn er ruft „Nur ein Gott kann uns retten!“ (SPIEGEL-Interview), dann meint er diesen letzten Gott.

Heidegger fügt diesen „letzten Gott“ rein spekulativ in das Denken des Seins ein. Er ist phänomenologisch nicht aufzuweisen (vgl. von Herrmann). Die Ordnung des Seins, in der sich das Sein entbirgt (oder nicht) bedarf aber nicht dieses letzten Gottes. Wer auf diesen Gott wartet, wartet auf Godot. Im Warten auf den letzten Gott zeigt sich eine weitere Schwäche Heideggers: Er kann letztlich nicht den Tod Gottes aushalten, den er selbst gedacht hat. Er muss ihn neu erfinden.

................................

Andockpunkt: Verteufelung des vernünftigen Denkens.

Die Völkischen setzen das rational-rechnende Senken in Gegensatz zum besinnlichen (An-)Denken des Seins. Die Vernunft wird zur „Widersacherin des Denkens“. Zum Beweis zitiert das Heidegger-Heft der „Sezession“ (ohne Fundstellenangabe) wie folgt: „Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, dass die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.“ (Das Zitat stammt aus Heidegger: „Nietzsches Wort >Gott ist tot<“. In: Holzwege, S. 263 und ist aus dem Zusammenhang gerissen).

Für Heideggers Denken des Seins ist aber das vernünftige, rational-rechnende Denken bzw. die Verwertungslogik des Wert-Denkens „nur“ eine Verfallsform des Denkens des Seins. Sie gehört ebenso zum Denken wie der Wert zum Seienden gehört. Denn das Seiende hat AUCH einen Wert. Die Katastrophe ist, dass das Wert-Denken dem Seienden NUR einen (Un-)Wert zuschreibt.

Desgleichen muss das Denken AUCH rechnen, berechnen, abschätzen, wertschätzen. Die Katastrophe ist, wenn das Denken NUR rechnet.

Das Wesen des Seienden steht und fällt damit, dass es mehr ist als ein (Un-)Wert.

Das Wesen des Menschen als Dasein steht und fällt mit seiner Bereitschaft zum hinhörenden An-Denken und Ver-Antworten.

.........................................................

Summa:

Martin Heidegger ist als Denker des Seins kein Nationalsozialist und kein Antisemit.

Wenn er zum Metaphysiker wird, wird Heidegger zum völkischer Denker und denkt in antisemitischen Denkfiguren.

Heideggers Denken des Seins und des Anderen Anfangs ist kein Ausdruck einer nationalsozialistischen und antisemitischen Weltanschauung. Im Gegenteil:

Es versetzt uns in die Lage, über weltanschaulich-gebundenes Denken hinauszukommen und die politischen Erscheinungsformen des Gestells fundamental zu kritisieren und zu überwinden.

Heideggers metaphysisches Denken hingegen integriert völkische und antisemitische Denkfiguren und Ressentiments.

Sein Denken des Seins legt den Grund für eine gott-lose Politik des Seins, d.h. für eine Politik, die dem Sein gehört und auf das Sein hört. Eine solche Politik kann nur eine Politik des Anderen Anfangs sein, in dem der erste Anfang anders wiederkehrt.

Ein kleiner Schritt hin zu einer Politik des Seins ist mit dem im Rahmen des Autonomen Seminars entstandenen „Horizont eines Projekts Anderer Anfang-Buen Vivir“ gemacht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden