SPURENSUCHE

- Konzept und Anwendung - Die Reihe Spurensuche ergänzt die philosophische Lektüre von Martin Heidegger: "Was heisst Denken?"

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Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin – seit 1998 - Das Autonome Seminar wird ehrenamtlich organisiert und ist offen und entgeltfrei für alle. - Verantwortlich und Infos: Wolfgang Ratzel, Tel. 030-42857090

eMail: autonomes.seminar@t-online.de - http://autonomes-seminar-humboldt.webs.com/

Berlin-Pankow, den 16. Oktober 2013

Sammelsurium 10

- Einladung zur Auftaktveranstaltung:

Thema: „DENKEN LERNEN!“

Die Wissenschaft denkt nicht.“ - „Das Bedenklichste ist, dass wir noch nicht denken; immer noch nicht, obgleich der Weltzustand fortgesetzt bedenklicher wird.“ Mit solcher Zustandsbeschreibung beginnt Martin Heidegger im WS 1951/52 seine Vorlesung „Was heißt Denken?“ Wir werden uns 14täglich mit seinem Gedanken-Gang befassen. Die Auftakt-veranstaltung verschafft zusätzlich einen Überblick über die 14täglichen Versuche, das Gedachte in neue Politik- und Lebensformen umzusetzen.

Auftaktveranstaltung: Do, 17.Oktober 2013, 18:00 c.t.- 20:30 Uhr

Seminargebäude der Humboldt-Uni, Invalidenstr. 110, Raum 293 (beim U6-Bf Naturkundemuseum)

- Achtung! Kirstens Yoga-Übung fällt am Do, 17.10.2013, aus. Nächster Yoga-Termin: Do, 24.10.2013, 17:00 Uhr

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Die 14tägliche Vortragsreihe, die unsere 14tägliche Lektüre „Was heisst Denken?“ komplettieren wird, ist themenmäßig noch nicht festgelegt.

Mein Vorschlag lautet: Der Name der ergänzenden Reihe heisst: „Spurensuche“

Was suchen wir?

Wir suchen Spuren eines anderen Anfangs von Lebens- und Politikformen (wobei die Lebensform die Vielfalt der Lebensäußerungen zwischen nacktem und guten Leben vereinigt). Wir suchen Politikformen, die Effekt der Lebensformen sind (also nicht abgetrennt vom Leben funktionieren).

Wo suchen wir?

Wir suchen die Ankunft (oder das Ausbleiben) der neuen Lebens- und Politikformen im langen Prozess des Untergangs der globalen technisch-kapitalistischen Verhältnisse, die ihrerseits aus dem Wertdenken, d.h. aus der Logik der Wert- und Unwertsetzung des Subjekt-Menschen und seiner Kollektivsubjekte kommen.

Wo verdichten sich die Zeichen des Untergangs?

Sie zeigen sich in der Unbeherrschbarkeit der überkomplexen globalen technisch-kapitalistischen Verhältnisse durch den Subjekt-Menschen bzw. durch menschliche Instanzen.

Sie zeigen sich in aufeinander einwirkenden Einzelphänomenen wie Atomkatastrophen (Fukushima), in der Klimaerwärmung und im Artensterben, in der permanenten (Staats-)Schuldenkrise, im auf Dauer gestellten Out-of-Balance des globalen Finanzsystems (Inflation!), in der anonymen Herrschaft der Kostenrechnung, in der massenhaften Armuts-, Kriegs- und Klimafolgen-Migration, in der Wiederkehr grauenhafter Ausbeutungsverhältnisse von Mensch und Tier (Sklaverei, Massentierhaltung, Tierversuche), in den heraufkommenden Ressourcenkriegen, in der Tendenz zum permanenten Ausnahmezustand, in der Dauermassenerwerbslosigkeit, in der Wiederkehr der Seuchen, in der artenübergreifenden Genmanipulation und Exklusion „lebensunwerten“ Lebens undundund...

Was genau suchen wir?

Der Fokus soll jetzt aber nicht auf die bis zum Erbrechen wiederkehrende Aufzählung und analytische Aufbereitung der Kollaps-Symptome liegen – das geschieht unablässig, überall, und das können Andere besser.

Die Falle, in die wir nicht tappen sollten, ist die Beschränkung auf die Darstellung und das Be- und Anklagen der Krisensymptome. Das machen nämlich alle. Nach der Klage ist vor der Klage, und jeder klagt so gut er kann.

Wir fokussieren auf die Kehrseite der Krisenprozesse:

Was entwickelt sich im Dunkelbereich der Krise? - on the Darkside of the Moon? Die Darstellung der Krisensymptome ist nur die Folie, auf der wir das Neue, Andere suchen.

Es wird sich zeigen, wie ungeheuer schwer diese Spurensuche sein wird.

Aber woran erkennen wir das grundsätzlich Neue und Andere?

Worin können wir erkennen, ob das, was sich entwickelt, vielleicht nur eine Variante oder Simulation des Alten ist? – dann wäre nämlich die ganze Kunst umsunst.

Warum suchen wir?

Es geht darum, das wirklich Andere und Neue, das sich im Kollaps der globalen technisch-kapitalistischen Verhältnisse zeigt, zu unterstützen und seine kleinen Kräfte mit den kleinen Kräften der neuen Lebens- und Politikformen zu vereinigen.

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Zur Veranschaulichung dieser „Spurensuche“ gebe ich drei Texte weiter, die nach den oben genannten Gesichtspunkten übungsweise durchsucht werden können:

Fukushima: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Rettung gelingt, geht gegen Null“ - In: Deutsche Wirtschafts Nachrichten | Veröffentlicht: 09.10.13

http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2013/10/09/fukushima-die-wahrscheinlichkeit-dass-die-rettung-gelingt-geht-gegen-null/

Der deutsche Physiker Sebastian Pfugbeil ist äußerst pessimistisch, dass eine elementare Katastrophe in Fukushima abgewendet werden kann. Die Folgen würden die gesamte Nordhalbkugel der Erde zu spüren bekommen. Pflugbeil: „Die Menschheit könnte beim Scheitern der Versuche, die gebrauchten Brennelemente des KKW Fukushima zu bergen, in einer bisher nicht gekannten Weise durch Strahlen geschädigt werden.“

Der deutsche Physiker Sebastian Pflugbeil hält die Situation in Fukushima für äußerst kritisch. Pflugbeil sagte den Deutschen Wirtschafts Nachrichten: „Die Menschheit könnte bei Scheitern der Versuche, die gebrauchten Brennelemente des KKW Fukushima zu bergen, in einer bisher nicht gekannten Weise durch Strahlen geschädigt werden.“ Pflugbeil glaubt zwar nicht, dass die Menschheit durch eine weitere Katastrophe in Fukushima ausgelöscht wird: „Die Menschheit ist sehr robust!“ Doch er ist sehr pessimistisch über die Möglichkeiten, dass die Lage noch unter Kontrolle gebracht werden kann.

Pflugbeil zur Lage in Fukushima:

„Die Lage ist zunehmend kritisch durch den Verfall der Ruinen. Die Brennstäbe sind nicht geborgen. Die Reaktorblöcke sacken ab. Tausende Tonnen verseuchtes Wasser werden in das Meer abgelassen. Der Untergrund, auf dem der Reaktor ruht, ist nicht mehr belastbar – er schwimmt. Es hat sich alles bereits so verschoben, dass über ein Meter Höhenunterschied von einer Ecke zur anderen besteht. Die dadurch hervorgerufenen Spannungen haben bereits zu beängstigenden Rissen in der Gebäudekonstruktion geführt.“

Pflugbeil zu den Gefahren:

„Wenn die Brennstäbe nicht mehr gekühlt werden, dann kommt es zu einer Katastrophe. Dann werden gigantische Mengen an Radioaktivität freigesetzt. Da reicht ein Riss in dem Becken und das Kühlwasser läuft aus. Die Brennstäbe würden sich entzünden. Die Brennstabhüllen bestehen aus Zirkonium. Wenn das brennt, bekommt man es nicht mehr unter Kontrolle. Die Hüllen brechen dann auf. Dann strömt Radioaktivität in großem Umfang aus – gasförmig, leichtflüchtig, mittelflüchtig. Auch die Brennelemente in den anderen Blöcken des Kernkraftwerkes werden dann in absehbarer Zeit zerstört, weil die Mitarbeiter das Gebiet wegen der extremen Strahlenbelastung sofort verlassen müssen. Es genügt ein kleiner Erdbebenstoß oder ein Sturm oder einfach das Versagen der Gebäudestrukturen, um diese Katastrophe in Gang zu setzen.“

Zum Rettungsplan der Japaner:

„Die Japaner wollen zunächst die 1.300 Brennelemente im Block 4 einzeln herausholen. Wenn auch nur ein einziger zerbricht, müssen die Arbeiter weg. Das ist ein extrem komplizierter und langwieriger Prozess. Wie schwierig das ist, hat man bei einem Test gesehen, den die Japaner mit einem noch unbenutzten Brennstab gemacht haben. Den haben die mit der Hand beim Herausziehen gelenkt. Mit der Hand! Die aktiven Brennstäbe kann man nicht mit der Hand anfassen, das wäre tödlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Rettung gelingt, geht gegen Null.“

Pflugbeil zu den Folgen:

„Die Gefahr, die von den alten Brennelementen ausgeht, ist gigantisch. Darüber sind sich alle Experten einig. Wenn es zu diesem schlimmsten Fall kommt, müssen riesige Gebiete evakuiert werden. Wenn der Wind in die Richtung von Tokio zieht, müsste Tokio vollständig evakuiert werden. Aber das geht nicht. Die Folgen würden nicht nur Japan, sondern die ganze Nordhalbkugel der Erde betreffen. Denn die Luftströmungen verlaufen auf der Nordhalbkugel und der Südhalbkugel einigermaßen getrennt voneinander. Tschernobyl war immerhin mehr als 1.000 km weg. Die zuständigen Fachleute und Politiker haben damals versichert, dass wir in Deutschland keine Gesundheitsschäden zu befürchten hätten. Es kam anders: Mehr behinderte Kinder wurden geboren, die Säuglingssterblichkeit stieg, Downsyndrom und Leukämie bei Kindern nahmen zu. Andere Folgen waren noch dramatischer: In Westeuropa, der Tschernobyl-Region und den südlichen Staaten der Sowjetunion wurden etwa eine Million Mädchen wegen der Katastrophe von Tschernobyl nicht geboren. Die Zahl der Opfer allein in Westeuropa geht nachweislich in die Hunderttausenden. Es spricht viel dafür, dass wir das alles nach der Katastrophe in Fukushima noch einmal erleben. Hinzu kommt die Kontamination des Pazifiks, in dem komplizierte und langdauerne Nahrungsmittelketten ablaufen, die eine wichtig Rolle für die menschliche Ernährung spielen. Das wird den gesamten Pazifik und die von ihm lebende Bevölkerung treffen.“

Pflugbeil zur Lethargie vieler Japaner:

„Die Japaner sind jahrhundertelang zu einem extrem angepassten Verhalten erzogen worden. Sie sind immer wieder darauf gedrillt worden, dass sie sich so wie die anderen zu verhalten haben, dass Kritik an Vorgesetzten, an der Politik unanständig ist. Der soziale Druck auf die einzelnen ist enorm. Sie dürfen nicht zugeben, dass sie Angst haben. Unter der Bettdecke haben sie natürlich panische Angst. Aber sie dürfen das nicht zeigen. Mir ist mehrfach berichtet worden, dass jemand, der wegen irgendeiner Erkrankung zum Arzt gehen muss, in seiner Umgebung davon nichts erzählt. Er fürchtete, dass man denken könnte, er ginge wegen Fukushima zum Arzt. Das ist aber nicht erwünscht.“

Zur Realitätsverweigerung:

„In Fukushima bekommen die Kinder in den Kantinen der Schulen immer noch die Lebensmittel aus der Region. Wenn jetzt ein Kind sein Lunchpaket von zu Hause mitnimmt, weil sich seine Eltern Sorgen machen, dann wird das Kind nach vorn zitiert. Es wird gerügt, weil es sich nicht patriotisch verhält. Das erinnert mich sehr an die Zeit in der DDR nach Tschernobyl: Die Kinder, deren Eltern Bescheid wussten, haben in der Schule ihre Milch nicht getrunken. Darauf bekamen diese Eltern Ärger an ihren Arbeits-stellen. Die Eltern wurden gefragt, welchen Unsinn sie denn ihren Kindern erzählen.“

Zur bisherigen „Rettung“:

„Es ist unglaublich, dass die japanische Regierung mehr als zwei Jahre ins Land hat streichen lassen, ohne die internationale Gemeinschaft um Hilfe zu bitten. Es ist ja nicht der Fall, dass man systematisch Schritt für Schritt die defekte Anlage in Ordnung bringt.. Es sind viele Firmen vor Ort, jeder will irgendetwas machen – aber es gibt keinen Generalplan, wie das Problem gelöst werden soll. Bis vor kurzem haben die Japaner nicht einmal Messgeräte gehabt, mit denen sie die Strahlung der hochbelasteten Flüssigkeiten messen konnten, die in den großen Tanks auf dem Gelände des Kernkraftwerks notdürftig aufbewahrt werden. Dadurch wurden alle Arbeiter, die damit zu tun hatten, einer viel zu hohen Strahlenbelastung ausgesetzt.“

Über die internationalen Atom-Behörden:

„Die Gremien von UN, IAEA und WHO, die eigentlich dafür da sein sollten, die Menschen zu schützen, stehen nahezu ausschließlich im Dienst der Atom-Industrie. Die Leute in den Behörden kommen aus dem Uran-Bergbau, von Kernenergie-Betreibern, aus der Atomwaffenindustrie oder der Nuklearmedizin. Es gibt nur ganz wenige unabhängige Leute in diesen Gremien. Die UN wird demnächst einen Bericht herausbringen, verantwortlich ist das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung Atomarer Strahlen UNSCEAR: Der Bericht ist ein glattes Lügengebäude. Er wird die Lage in Fukushima total verharmlosen. Er wird so tun, als sei alles unter Kontrolle und es würde keinerlei Strahlenschäden in der Bevölkerung geben. Wir kennen die entsprechenden Einschätzungen zu den Folgen von Tschernobyl. In Japan ist es leider auch Brauch, dass Politiker, wenn sie aus dem Amt scheiden, einen gut dotierten Posten in der Atom-Industrie bekommen, bei dem sie nicht zu arbeiten brauchen. Diese Posten wollen sie nicht gefährden. Daher wagen sie es nicht, die Wahrheit zu sagen.

Über die Angst der internationalen Experten, in Fukushima zu helfen:

„Es gibt nur eine Handvoll Experten, die bei diesem Problem wirklich Expertise haben. Diese Leute verhalten sich jetzt ganz ruhig und ducken sich weg. Sie beten, dass die Welt mit einem blauen Auge davon kommt. Keiner reißt sich darum, nach Fukushima zu fahren und zu helfen. Denn alle wissen: Diese Arbeit ist lebensgefährlich und der Erfolg ist mehr als fraglich.

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Sebastian Pflugbeil wird am Donnerstag nach Japan reisen. Nach einem Kongress wird er auch in die Präfektur Fukushima fahren. Er will sich selbst ein Bild von der Lage machen. Er wird versuchen, trotz der aktiven Behinderung durch die Betreiber und die Regierung an Informationen zu kommen, wie die Lage wirklich ist.

Dr. rer. nat. Sebastian Pflugbeil ist Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. Pflugbeil arbeitete bis zur Wende als Medizinphysiker im Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch und befasste sich ehrenamtlich mit Problemen der Atomenergieverwertung, insbesondere den Strahlenfolgen in den Uranbergwerken der Wismut. Er war Mitbegründer der DDR-Bürgerbewegung Neues Forum und vertrat dieses als Sprecher am Berliner und am Zentralen Runden Tisch. 1990 wurde er Minister ohne Geschäftsbereich in der Übergangsregierung unter Modrow. In dieser Funktion setzte er sich für die sofortige Stilllegung der Atomreaktoren in der DDR ein. Danach war er bis 1995 Abgeordneter im Berliner Stadtparlament. 2012 erhielt er den Nuclear-Free Future Award für sein Lebenswerk.

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"Europas gefährliches Spiel mit den Afrikanern" - Von: Gunnar Heinsohn - In: Cicero-Online vom 11. OKTOBER 2013

http://www.cicero.de/weltbuehne/fluechtlinge-europas-letzte-chance/56085

Zwei Drittel der Afrikaner träumt von einem Leben in Europa. Der Völkermordforscher Gunnar Heinsohn fragt sich: Wie lange kann der alte Kontinent sich eine Völkerabwehr mit Patrouillenboot, Überwachungsflugzeugen und Grenzzäunen noch leisten?

Hundert Jahre ist es her, da lebten in Deutschland und Frankreich zusammen fast so viele Menschen wie auf dem gesamten afrikanischen Kontinent (110 Millionen zu 120 Millionen). Seit 1913 allerdings haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert. 2013 kommen auf der ganzen Welt nicht nur imponierende 7,1 Milliarden Menschen unter und Afrika beherbergt schon mehr als siebenmal so viele Menschen wie die Achse Paris-Berlin (1072 Millionen zu 145 Millionen).

Und viele Afrikaner leben längst unter uns. Westlich des Rheins dürften es mittlerweile mindestens 5 Millionen sein, davon 3,2 Millionen aus dem arabischen Norden. Östlich davon dürfte es etwa eine Million geben, davon rund die Hälfte Araber.

Ob die Nachrichten über die vor Lampedusa ertrunkenen Flüchtlinge die Einwanderungswünsche der Afrikaner beeinflussen, können wir allenfalls erahnen. Vermutlich kaum. Denn in Afrika wird man nun die tödliche Langsamkeit der Europäer beim Retten von Flüchtlingen abwägen gegen die schnellen heimischen Massaker und Genozide, in denen nach Abzug der geschlagenen weißen Herren nicht Hunderte oder Tausende, sondern rund 18 Millionen ihr Leben verloren haben (Lexikon der Völkermorde). So wie die Europäer, als sie noch Geburtenraten à la Somalia pflegten, vor allem andere Europäer umbrachten, so kommen die meisten Opfer von Afrikanern ebenfalls aus der Nachbarschaft.

Hinzu kommt: Zwischen 2010 und 2012 wuchs – aufgrund fehlender Verschuldungsfähigkeit – allein in Afrika die Zahl der Unterernährten von 175 auf 240 Millionen, während nach Angaben der FAO überall sonst auf der Welt die Zahl drastisch sinkt. Der Kontinent, der bei weniger Einwohnern neunmal so viel Land wie Indien hat, schafft es einfach nicht, eine Wirtschaft mit Verpfändung, Zins und Geld zu etablieren. Deshalb kann nicht verwundern, dass einer PEW-Umfrage zufolge zwei Drittel der in Afrika Verbliebenen – rund 700 Millionen – ebenfalls gerne zu uns kämen. In dem vor Lampedusa angezündeten und gesunkenen Boot hat davon weniger als ein Millionstel ums Überleben gekämpft.

Die Flüchtlingsströme werden nicht abreißen, im Gegenteil: Sie werden weiter wachsen

Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich zwar, geht aber immer noch kräftig weiter. 2050 soll die Erde 9,1 Milliarden Menschen versorgen. Doch während Deutschland und Frankreich altern, werden in Afrika dann vierzehnmal mehr Bürger als in den beiden Kernländern der EU leben (2100 Millionen zu 150 Millionen). Wie viele Afrikaner dann schon zu den Europäern gehören, lässt sich nur schätzen. Mit 15 bis 20 Millionen allein in Frankreich und Deutschland dürfte man nicht sonderlich falsch liegen. Bleiben deren Auswanderungswünsche unverändert und wird es auch weiterhin kaum kreditermöglichendes Eigentum südlich der Sahara geben, werden in 35 Jahren also rund 1,4 Milliarden Afrikaner in die Erste Welt streben.

Welche Dynamik daraus erwachsen kann, lässt sich bei einem Blick in das 19. Jahrhundert erahnen. Zwischen 1800 (Weltbevölkerung: 1 Milliarde) und 1900 (1,7 Milliarden) steigt – nach der Niederlage Frankreichs – Großbritannien zur dominierenden Weltmacht auf. Für die verlorene Ostküste der USA werden Australien und Neuseeland ausgebaut. Gleichzeitig schlagen die Briten von Nord nach Süd eine Schneise von Kolonien durch Afrika. Das gelingt nicht allein aufgrund der modernsten Industrien und Waffen jener Epoche. Erst eine bis dahin nie gekannte Explosion der Bevölkerung um den Faktor 3,6 (10 auf 36 Millionen) allein auf den heimischen Inseln (also ohne die gleichzeitig Auswandernden) lässt die Unterwerfung ganzer Kontinente gelingen. Die Gebiete des späteren Deutschen Reiches schaffen im selben Jahrhundert „nur“ einen Wachstumsfaktor von 2,5 (22 auf 55 Millionen) und fordern ebenfalls einen Platz an der Sonne.

Die Strategie des Westens gegenüber Afrika wird nicht aufgehen

Nach 1945 verliert Europa – wo die Geburtenraten sich erstmals 1915 halbieren und dann noch einmal nach 1970 – seinen Herrschaftsraum. Dafür nimmt die demografische Hochrüstung in den ehemaligen Kolonien erst richtig Fahrt auf. Dort wächst die Bevölkerung nicht nur um den Faktor 3, sondern um 10 und mehr. Die Zugewinne an humanem Potential werden nicht mehr acht-, sondern neunstellig gezählt, in Hunderten Millionen. Nicht nur in Afrika.

Aus den ehemaligen Kolonien wird bekanntlich nicht nur nach Italien, sondern auch nach Griechenland geschwommen. Dort treffen überdies die Hoffnungsvollen aus Asien ein. Vor allem das Islam-Trio Afghanistan, Pakistan und Bangladesch schafft über die Türkei seine jungen Männer an Europas Gestade. 1900 haben die Gebiete dieser drei Staaten nur so viele Einwohner wie das Deutsche Reich (je rund 55 Millionen). 2050 aber rechnen sie auf 550 Millionen. Auch von denen träumen viele davon, sich den dann 75 Millionen Zeitgenossen zwischen Mosel und Neiße zuzugesellen.

Es ist an der Zeit, nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen zu erkennen

Zur selben Zeit zahlt der schnell alternde Okzident viele Milliarden dafür, dass zehn europäische Frauen zusammen nicht mehr nur dreizehn, sondern vielleicht vierzehn oder gar fünfzehn Kinder aufziehen. Nebenher explodieren die Kosten für Patrouillenboote, Überwachungsflugzeuge und Grenzzäune im Süden und im Osten. Politisch interessant wird es dann, wenn die Vergreiser sich eingestehen, dass Volksvermehrung hier und Völkerabwehr dort nicht mehr bezahlbar sind und beide Strategien auch auf Pump bestenfalls noch ein paar Jahre, aber nicht mehr Jahrzehnte lang durchgehalten werden können. Dann wird die EU auseinanderfallen und es wird neue nationale Zuschnitte geben.

Die einen werden Migranten gezielt hereinlassen, ansonsten aber ihre Grenzen sichern, um minimale Sozial- und Zivilstandards halten zu können. Japan, Singapur, Kanada und Australien liefern die Vorbilder. Skandinavien mit einer neuen Kalmarer Union könnte zuerst folgen. Andere Staaten werden weitermachen wie bisher. Aber sie werden damit riskieren, dass sich die sozialen, religiösen und ethnischen Konflikte zuspitzen und ihre Leistungsträger in die stabileren Staaten fliehen. Anschauungsmaterial dafür liefern nicht nur Detroit oder Marseille, sondern hierzulande auch Berlin oder Bremen.

Gerade in Europas politisch nachhaltigen Gebieten bekommen auch Afrikaner ihre Chance, weil man dort Kompetenz dringend benötigt und unter jeder Haartracht, Hautfarbe und Gebetsform akzeptiert. Bei der Mathematik-Olympiade 2011 (TIMSS) siegen die Viertklässler Süd-Koreas mit 613 Punkten. Junge Ghanesen erreichen mit 331 Punkten bereits einen achtbaren 42. Platz. Sie müssen ja nicht gleich die Asiaten überflügeln, aber wenn sie etwa Finnland (514) oder England (507) einholen, wird man sie mit offenen Armen empfangen.

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"Die Stadt als Garten" - Andernach pflanzt auf öffentlichen Grünflächen Obst und Gemüse an

Von: Daniela Jaschob, Andernach – In: NZZ vom 8.10.2013, S.6

http://www.nzz.ch/aktuell/international/auslandnachrichten/die-stadt-als-garten-1.18163997

Statt Stiefmütterchen und Tulpen wachsen in den öffentlichen Blumenbeeten der Stadt Andernach Orangen und Zwiebeln. Obst und Gemüse dürfen von den Bewohnern geerntet werden. Manch ein Bürger muss sich erst an seine neuen Rechte gewöhnen.

Lutz Kosack sieht man es nicht an, dass er von Berufes wegen gern einmal die Finger zentimetertief in die Erde steckt, um Unkraut an der Wurzel zu packen. Seine Hände wirken gepflegt, er trägt Jeans, ein Hemd und darüber ein graues Jackett. Auf seiner Nase sitzt ein schlichtes Brillenmodell. Kosack macht einen grossen Schritt über eine Grasnarbe und stemmt sich mit den Handflächen gegen eine alte Mauer. «Spüren Sie es?» Die Steine fühlen sich wohlig warm an, dabei ist es kein besonders warmer Tag, jetzt, da der Herbst begonnen hat. Die Temperatur des Gemäuers strahlt jedoch bis ans Gesicht. «Das ist das Geheimnis, die Wärme», sagt Kosack. «Deshalb wachsen hier entlang der Mauer auch Kaki, Orangen und selbst Granatäpfel.» Hier, das ist Andernach am Rhein, eine Stadt mit 30 000 Einwohnern, zwischen Koblenz und Bonn gelegen. Lutz Kosack hat der Stadt vor drei Jahren ein neues Gesicht gegeben. Er ist Stadtökologe und so etwas wie Deutschlands «Guerilla-Gärtner» Nummer eins.

Mispeln und Indianerbananen

Vor wenigen Jahren unterschied sich die Innenstadt von Andernach kaum von den meisten anderen Innenstädten Deutschlands: Wechselbeete, die bald mit Tulpen, bald mit Stiefmütterchen bepflanzt wurden, prägten das Bild. Auf den angrenzenden Grasflächen mischte sich Hundekot mit dem Müll, der aus den viel zu vollen Behältern quoll. Ein Zustand, den Kosack und seine Mitstreiter so nicht mehr hinnehmen wollten. Sie entwickelten die Idee, Andernach in eine essbare Stadt zu verwandeln. Weg mit den Wechselbeeten, weg mit den riesigen Grasflächen und den Schmuddelecken, in die sich allenfalls Ortsunkundige verirrten. Stattdessen sollten Kornblumen her, Astern, Salbei sowie Obst und Gemüse. Aus der Regel «Betreten verboten» sollte ein «Lasst es euch schmecken» werden. 2010 wurde mit der Umgestaltung begonnen.

Auf insgesamt 10 000 Quadratmetern wächst nun das, was die meisten Städter allenfalls aus dem Supermarkt kennen. Insgesamt gedeihen in der Stadt rund 100 Obst- und Gemüsesorten: Kapuzinerkresse und Bohnensträucher, Mispeln, Quitten und Feigen gibt es ebenso wie Kartoffeln, Tomaten. Aber auch Exotisches, wie etwa die Indianerbananenpflanze, deren Früchte wenig mit herkömmlichen Bananen zu tun haben, sondern eher an eine Mango erinnern. «In Deutschland gibt es weit und breit keine zweite Indianerbanane», weiss Kosack. Die Pflanzen kommen zum Grossteil von einer Permakultur, einem knapp zehn Hektaren grossen Garten unweit von Andernach, in dem weder Pestizide noch sonstige Giftstoffe verwendet werden.

Finanzieller Vorteil

Die Gemeinde profitiert vom neuen Konzept. Nicht nur aus Imagegründen, sondern auch finanziell. Trittrasen muss 14-mal im Jahr gemäht, ein Wechselbeet 4-mal im Jahr neu bepflanzt werden. Jedes Mal neue Blumen und Mitarbeiter dafür bestellen, dazu noch der übliche Pflegeaufwand. Kosten, die sich nun reduzieren lassen. Konkret bedeutet das: Das neue Konzept kostet zehn Euro pro Quadratmeter im Jahr, das alte, mit den Wechselbeeten, 50 Euro. Die Stadt spart dadurch 50 000 Euro pro Jahr. Geld, das nun für andere Projekte übrig bleibt. «Wir gehen hier nur noch einmal im Jahr drüber, wässern brauchen wir nicht, und den Rest erledigt die Natur», sagt Kosack.

Eine Frau müht sich den steilen, kurzen Hang gegenüber der Stadtmauer hoch. Sie dreht den Kopf über die Schulter und guckt, als ob sie gleich etwas Verbotenes tun würde. Dann bleibt sie zwischen zwei Weinpflanzen stehen, zupft eine Weintraube ab und steckt sie in den Mund. Als sie Kosack erblickt, nickt der ihr nur zu. Dann zupft sie noch weitere Weintrauben ab. Beim Versuch, den Hang hinunterzuklettern, gerät sie ins Straucheln, nimmt gefährlich an Schwung auf und bleibt gerade noch rechtzeitig stehen. «Huch, da wäre ich ja fast in den Kürbis gelaufen», sagt sie mit pfälzischem Akzent und kann sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen. «In die Zucchini», korrigiert sie Kosack. Dann bleibt die Frau staunend vor den Hopfenpflanzen stehen, die in der Mitte eines Salatensembles wachsen, das in weiten, geschwungenen Bögen angelegt ist. «Bier brauen wir nicht», sagt Kosack. «Oder sagen wir, noch nicht.»

Darf man das?

Vielleicht ist es diese Präzision, mit der die Salatköpfe und der Grünkohl angeordnet sind, die nahelegt, dass selbst die Farben aufeinander abgestimmt worden sind, die bei den Bürgern zu gewissen Berührungsängsten führen. «Viele gucken ängstlich und wissen nicht, darf ich das jetzt eigentlich?», sagt Kosack. Ausser der einen Frau streift an diesem Nachmittag nur Kosack durch die Beete. Es mag sein, dass es an der Jahreszeit liegt. Es ist Herbst, die Beete werden bald winterfest gemacht. Was die Bürger nicht ernten, erledigt dann die Stadt. Manches wird kompostiert, anderes einfach stehengelassen. Viel zu ernten gibt es nicht mehr, ausser Kohl, aber davon reichlich. Es ist das Jahr des Kohls in Andernach, das vergangene Jahr wurde der Zwiebel gewidmet, aber diese kam nicht so gut an bei den Bürgern. Dennoch glaubt Kosack, dass die Bürger mit der Umgestaltung zufrieden sind. «Wenn früher der Rasen an der Schlossruine einmal nicht gemäht war, gab es böse Anrufe ins Rathaus. Heute empören sich die Bürger, wenn die städtischen Mitarbeiter mit dem Rasenmäher auch nur in die Nähe einer Wiese mit Wildblumen kommen», erzählt er. Probleme mit Vandalismus gebe es im Übrigen praktisch keine.

Jüngst wurde Andernach für das Projekt mit dem Titel «Lebenswerte Stadt» der Deutschen Umwelthilfe ausgezeichnet. Dabei ist die Idee der «essbaren Stadt» nicht neu. So gibt es in Minden, Kassel und Freiburg ähnlich angelegte Flächen. Weitaus kühner sind die Visionen in Seattle: Dort soll gleich ein ganzer essbarer Wald entstehen. Wissenschafter, wie jene des Fraunhofer-Instituts, beschäftigen sich bereits seit längerem mit dem Thema «urban farming» und entwickeln gerade Prototypen von Stadtfarmen der Zukunft. In Duisburg soll bald bald eine solche Farm entstehen.

Ein Huhn kommt selten allein

Die Flächen in Andernach sind für alle zugänglich, ohne Zäune und Grenzen. Es ist Raum, der den Bürgern zurückgegeben wurde. Sie danken der Stadt dies, indem sie die Beete mit Schaufel und Hacke beackern und damit die Idee der «essbaren Stadt» am Leben halten. Denn neben einem Gärtner kümmern sich noch sechs Langzeitarbeitslose, die dadurch wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen, um die Stauden, Blumen- und Gemüsebeete. Einige Bürger bepflanzen die Beete teilweise auch selbst - und stellen so das Gesäte also der Öffentlichkeit zur Verfügung.

Kosack ist überzeugt: Ohne die Hilfe von Freiwilligen würde das Projekt nicht funktionieren. Er spaziert über die Brücke im Innenhof der Schlossruine. In der Mitte bleibt er stehen, beugt sich über die Mauer und zeigt in den begrünten Graben. «Diese Hühner hier sind unser neustes Projekt», sagt er. Etwa fünf Meter tiefer pickt eines der Tiere an der Kapuzinerkresse, andere machen sich über den Komposthaufen her. Seit drei Monaten leben acht der Tiere im Schlossgraben; und vor kurzem haben sie einen neuen Mitbewohner bekommen: einen Hahn. Woher dieser kommt, weiss Kosack bis heute nicht. Er vermutet, dass ihn jemand gespendet hat. In Andernach scheinen durch das neue Projekt nicht nur Obst oder Gemüse zu wachsen, sondern auch eine zarte Pflanze namens Gemeinschaft.

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ciao, Wolfgang Ratzel

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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