Wer sich NUR wehrt, lebt verkehrt!

- Einladung - Über Macht und Widerstand unter den Bedingungen der totalen Überwachung im Horizont der neuen Kriegs- und Aufstandsbekämpfungsdoktrin "Gezieltes Töten - Kill or Capture"

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Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin – seit 1998 - Ehrenamtlich und offen für alle - Verantwortlich: Wolfgang Ratzel, Tel. 030-42857090 – eMail: autonomes.seminar@t-online.de - http://autonomes-seminar-humboldt.webs.com/

Berlin-Pankow, den 9. Juli 2013

Vorab ein Vorschlag zur Ausgestaltung der Einladungen und Sammelsuria

Es mangelt nicht an Hinweisen, Informationen – vieles kommt aus kleinen und abseitigen Quellen, und das ist gut so. Aber vielleicht wäre es besser, die Teilaspekte um bestimmte Achsen herum zu Gesamtbildern zusammen zu stellen.

Noch besser wäre es aber, wenn dies durch eigenste Überlegungen und Geschichten von Erlebtem, Gehörtem oder Gelesenen geschehen würde - dann bekämen die AutS-Mitteilungen den Charakter eines Nachschlagewerks, vielleicht sogar einer Kleinstzeitung.

Solcherlei Achsen für Geschichten und Erzählungen könnten sein:

(Achse 1) Wie funktionieren spätmoderne Machtverhältnisse? – oder Arbeitsverhältnisse? Im Großen, aber auch im Kleinen und Kleinsten - es ginge hier um das, was Foucault die „Mikrophysik der Macht“ genannt hat (ohne die Makrophysik der macht zu vergessen).

(Achse 2) Geschichten über den Zeitgeist, über das „MAN“, wie es sich ändert, anpasst. Wie das MAN die Machtspiele allererst ermöglicht, und wie es anonyme Machtverhältnisse begründet.

(Achse 3) Wie und wo erzeugen die Machtspiele Widerstandspunkte? Wo sind die Grenzen des Widerstands? Woher kommt dieses spurlose In-sich-Zusammenbrechen?

(Hauptachse 4): Wo schlägt Widerstand gegen die Wertlogik (die im Selben bleibt) in Versuche des Entkommens, des Darüberhinauskommens, Überwindens der Logik von Wert und Unwert um?

Aber vor allem: Wo und wie entsteht jenes ersehnte „Jenseits des Wertdenkens“?

Wo und wie kristallisieren sich Denk- und Handlungspunkte zu Zusammenhängen jenseits der Logik von Wert und Unwert? Was verleiht ihnen Stabilität und Dauer?

(Achse 5) Und in diesem Zusammenhang: Wo und wie ereignet sich der Abschied von Hoffnungs- und Erlösungsvorstellungen, die immer schon den Blick auf Welt und Erde -so wie sie ist- verstellen? Warum können wir das, was ist, nicht so anerkennen, wie es ist?

(Achse 6) Wo und wie ereignet sich „dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern“ (Nietzsche)? Wo vollzieht sich jene „Freiheit von Rache“ (die –wie Heidegger sagt- das Wesen des Übermenschen ausmacht)?

Es geht also darum, sich zu lösen von den immergleichen Verkündigungen einer Kritik, die nicht über den Tellerrand der Machtverhältnisse hinausschauen will und kann.

Es geht darum, sich zu lösen von einer Kritik, die das Hirn verklebt und die Zeit totschlägt, die benötigt wird, um sich in dieses „Hinauskommen über ...“ zu versenken.

Es geht darum, im Heuhaufen überflüssiger Worte die Nadel der wenigen Gedanken zu finden, die uns helfen können, der Logik von Wert und Unwert zu entkommen.

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Einladung zur Reihe „Erscheinungsformen des vollendeten Nihilismus, Part IV“ -in memoriam Heidegger, Nietzsche, Foucault

Macht und Widerstand im Zeitalter der Vollendung des Nihilismus, Part II

Thema: "Wer sich NUR wehrt, lebt verkehrt!" - Über Macht und Widerstand unter den Bedingungen der totalen Überwachung im Horizont der neuen Kriegs- und Aufstandsbekämpfungsdoktrin "Gezieltes Töten - Kill or Capture" - Vortrag von Wolfgang Ratzel mit Diskussion

Die Debatte über das gigantische Ausmaß der staatlich-geheimdienstlichen Überwachung verschweigt das Entscheidende: Dass sie nämlich der neuen Kriegs- und Aufstandsbekämpfungsdoktrin „Find – Fix – Finish! - Kill or Capture! (Gezieltes Töten)“ dient. Der Vortrag stützt sich auf die Machtanalysen Michel Foucaults (der sich seinerseits auf Heidegger und Nietzsche bezieht) und stellt die Frage: Sitzt, wer sich auf Widerstandshandlungen beschränkt, nicht immer schon in der Falle der Macht? Hat, wer sich NUR wehrt, nicht immer schon verloren? Gibt es ein Entkommen aus dieser Falle? – Bitte Merkblatt anfordern.

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Davor um 17:00 bis 18:00 Uhr: Kirsten Reuthers „Osteopathisches Yoga“ für eingerostete DenkerInnen! Raum wie oben.

Bitte wenn möglich eine Unterlage und zwei Yoga-Blocks mitbringen. Ansonsten warten auch Euch unsere Not-Unterlagen und AutS-Küchenrollen!

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Anmerkungen zur laufenden Überwachungsdebatte:

Die laufende Debatte suggeriert ..

(1) dass Staat und Geheimdienste zwei getrennte Phänomene von Herrschaft sind, so als ob Geheimdienste im Außerhalb des Staatlichen stünden. Richtig ist, dass die Welt der Geheimdienste verfassungsgemäßer Bestandteil des Verfassungsstaates sind. Sie gehören ebenso zum Staat wie das Finanzamt zum Staat gehört! Sie verkörpern sozusagen den permanenten Ausnahmezustand unterhalb des Rechtsstaats. Das ist ihr Sinn und Zweck; dafür sind sie da. Wer eine Kontrolle der Geheimdienste verlangt, kann auch gleich die Abschaffung der Geheimdienste, oder gleich des Staates, fordern.

(2) Unter jedem Niveau ist jedoch die Debatte, ob, wer, wann von den Abhörmaßnahmen der NSA wusste. Die Funktion der Geheimdienste besteht ja gerade darin, die Regierungen über ihre Find-Fix-Finish-Maßnahmen en detail NICHT zu informieren (und wenn, dann in groben Zügen).

Die taktischen und strategischen Maßnahmen der Geheimdienste sollen ja gerade NICHT einer Regierung zurechenbar sein; die Regierungen sollen gerade NICHT beschuldigt werden können, ihre Gegner auszuspähen und/oder zu „deaktivieren“. Und die Regierungen wollen nicht informiert werden, wer wann und wo „deaktiviert“ wurde.

Summa: Die Geheimdienste (als Teil des „tiefen Staats“) exekutieren somit den vollendeten Nihilismus in der Politik: Es geht um die von allen anderen Zwecken bereinigte Strategie und Taktik des Machterhalts zwecks Machtsteigerung der Herrschaftszentren, denen sie dienen. JEDES Mittel und JEDE Begründung ist hierfür recht. Notfalls bedarf es überhaupt KEINER Begründung. Man handelt und schweigt.

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Aus dem Alltag von Kostenrechnung und Widerstand - am Beispiel der Kiez-Bibliothek „Kurt Tucholsky“ im Berliner Bötzow-Kiez, betrieben durch den Verein „Pro Kiez Bötzowviertel e. V.“, der sie 2007 vor der Schließung rettete. Während der Bezirk die Infrastruktur zur Verfügung stellt, wird der Betrieb der Bibliothek durch Ehrenamtliche auf der Basis einer Betriebsvereinbarung zwischen dem Bezirksamt Pankow und dem Verein gewährleistet. (mehr: http://www.berlin.de/ba-pankow/stadtbibliothek/kurt-tucholsky/ )

Spätmoderne Herrschaftszentren funktionieren zunehmend anonym und ohne greifbare „AnsprechpartnerInnen“. Eines dieser spätmodernen Herrschaftsmittel heißt „Kosten- und Leistungsrechnung – KLR“ – sie regelt u.a. die Zuschüsse des Landes Berlin an ihre Bezirke, und zwar so, dass sie zwischen den zwölf Bezirken eine gnadenlose vollautomatische Kostenkonkurrenz organisiert. Das System so programmiert, dass sich die Kostenspirale anonym-vollautomatisch nach unten dreht.

Beispiel Bücherausleihe: Die Buchausleihe wird als eines von vielen Produkten staatlichen Handelns betrachtet. Ziel der KLR ist, die Kosten pro Buchausleihe zu ermitteln, um einen berlinweiten Medianwert (Mittelwert) bestimmen zu können, der die Geldzuweisungen der Landesregierung an die elf Bezirke steuert. Zugewiesen wird dann der Medianwert pro Buchausleihe, nicht aber die realen Kosten. Qualitätsmerkmale werden nicht berücksichtigt. Buch ist gleich Buch. Medium gleich Medium. Unter Kosten werden die üblichen Kosten verstanden: anteilige Lohnkosten, anteilige Infrastrukturkosten, anteilige Verwaltungskosten, Kosten der Bücherbeschaffung, -reparatur uswusf..

Wenn nun ein Bezirk –insbesondere die Flächenbezirke- bürgernah Bibliotheken betreiben will, wird er Aussenstellen einrichten müssen, die Kosten verursachen. Ein anderer Bezirk zentralisiert und rationalisiert und vermindert seine Kosten. Die Kosten des bürgernahen Bezirks liegen zwangsläufig über dem Medianwert, d.h.: der Bezirk bekommt weniger Geld als er ausgibt und muss die Differenz an anderer Stelle kürzen. Der bürgerferne Bezirk liegt unter dem Median und gewinnt Mittel, die er anderweitig einsetzen kann.

Wenn sich nun bürgernahe Bezirke entschließen, ebenfalls zu rationalisieren und zu zentralisieren, sinkt der Medianwert und die bereits rationalisierten Bezirke müssen weiter rationalisieren, um unter dem Medianwert zu bleiben. Ich werde das am Donnerstag ausführlicher erläutern.

Direkte Folge dieser Herrschaft durch Kostenrechnung war, dass sich die Anzahl der Bibliotheken in Berlin in den 22 Jahren von 1997 bis 2009 von rund 200 auf weniger als 90 reduziert hat, und heute sind es noch weniger.

Vorteil für die MachthaberInnen: JedeR kann sagen: Ich bin’s nicht gewesen! – die Kosten- und Leistungsrechnung ist’s gewesen. Das heisst: Hier stellt sich für jeden Repräsentanten der Macht unmittelbar die Frage: Aus dem Wertdenken in Gestalt der KLR aussteigen oder nicht! – einen dritten Weg gibt es nicht. Das, was wir philosophisch als „Hinauskommen über das Wertdenken“ an-denken, wird im politischen Bezirksalltag zur Option „Herausgehen aus dem Amt“. Wer sein Amt nicht niederlegt, wird zwangsläufig zum Vollstrecker der Kosten- und Leistungsrechnung.

Aber es gibt ja noch den Widerstand, den die Mitglieder des Vereins Pro Kiez Widerstand geleistet haben und leisten. Sie haben in zähem Ringen erreicht, dass die Tucholsky-Bibliothek offen bleibt und Miete und Infrastrukturkosten bezahlt – widerwillig, versteht sich. Seit 2008 geht das so! Zuletzt sollte 2012 die Bibliothek geschlossen werden, aber auch das wurde durch Widerstand verhindert. In dieser Situation kommt die KLR durch die Hintertür herein. Der Modus der Kosten-und-Leistungsrechnung zwingt die Bibliotheken nämlich, jährlich 10 bis 15 Prozent des Medienbestandes auszusortieren; d.h. von den 24.000 Büchern müssen 4.000 in den Schredder. Aussortiert werden die am wenigsten Gelesenen bzw. Ausgeliehenen! Der Inhalt der Medien spielt keine Rolle. Wird Camus nicht gelesen, kommt er in den Schredder – ebenso Tucholsky, Goethe, Schiller, Freud, Fromm, Böll, Dostojewski, Brecht u.v.m..

Wir erleben hier den Effekt der völligen Entwertung der obersten Werte, die noch vor 30 Jahren diese Werke vor dem Schreddern geschützt hätten. Wer es damals gewagt hätte, Goethe zu schreddern, weil er zu wenig ausgeliehen wird, wäre als „Barbar“ bezeichnet worden. Jetzt aber zählt nur die Verwertbarkeit von Medien durch die Vielen – egal was drin steht. Die Folgen sind klar – siehe Fernseh-Einschaltquoten: Je anspruchsloser, gewalttätiger, voyeuristischer, pornographischer der Inhalt, desto höher die Quote. Man könnte natürlich auch sagen, die Orientierung der Kostenrechnung an der Ausleihquote bringt die Wahrheit des Kulturniveaus der Bevölkerung zum Ausdruck: Jede Bevölkerung hat dann die Bibliothek, die sie verdient (notfalls auch keine).

Und offensichtlich gibt es hauptberufliche Bibliothekare, die bereit sind, jene Bücher ihrer Vernichtung ausliefern; fehlte bloß noch, dass Camus, Tucholsky, Freud und Fromm zwecks Energiegewinnung verbrannt werden; das stünde in der Logik der Kostenrechnung.

Aber erneut kommt der Widerstand ins Spiel. Der Trägerverein Pro Kiez e.V. rief dazu auf, die bedrohten Medien auszuleihen, denn: Was ausgeliehen ist, kann nicht geschreddert werden! Und viele kamen und liehen gerade die bedrohten Bücher, Tucholsky und Co, aus. Nun waren die Bände, die vernichtet werden sollten, in Sicherheit, was die gesamte Exklusionsaktion absurd machte. Bezirksstadtrat Torsten Kühne (CDU) sagte das Aussortieren ab, und der Bestand war gerettet – aber alle wissen: Nur bis zum nächsten Jahr! – Und so geht das weiter und weiter – bis irgendwann einmal die Kräfte des Widerstands erlahmen, und sie werden erlahmen, weil das kein Mensch auf Dauer durchhält, und sie halten bereits fünf Jahre durch, und dann ist die Bibliothek zu und alles fliegt in den Schredder. Ergo: Wer sich NUR wehrt, hat immer schon verloren.

Summa: Viele Menschen nahmen viele Bücher in Obhut und bewahrten sie vor der Vernichtung – oder philosophisch gesagt: Menschen haben sich gegen die Vernichtungsgewalt des Wertdenkens (in Gestalt der Kostenrechnung) uffjelehnt und sich jenseits des Wertdenkens der Rettung des Seins der Bücher verpflichtet. Hier geschah im Kleinen der (unbewusste) Übersprung vom Wert- ins Seinsdenken. Und genau das macht diese kleine Aktion so wesentlich wichtig.

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Mollath-Solidarität

https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2013/_06/_11/Petition_43198.nc.html

Wir sind uns einig, im September zum „Fall Mollath“ eine spezielle Veranstaltung zu organisieren. Im Mittelpunkt wird die ARD-Dokumentation von Monika Anthes und Eric Beres, Report Mainz, stehen: https://www.youtube.com/watch?v=8z99MO8uv2U

Diese akribisch recherchierte Dokumentation hat hinsichtlich unerer Machtanalyse Lehrbuchcharakter, weil sie zeigt, wie das, was man „tiefer Staat“ nennen könnte, konkret funktioniert. Sie zeigt, wie verschiebbar die rote Linie ist, hinter der die Ausnahme zur Regel wird. Man muss nicht „Systemfeind“ sein, um in der Zwangspsychiatrie zu verschwinden. Es genügt, illegale Geldströme der Reichen aufdecken zu wollen.

Sie zeigt in Gestalt der Justizministerin Beate Merk den schier unüberbietbaren Zynismus der Macht – als ob Frau Merk uns beweisen will, dass die Wahrheit ein Mehr an Macht ist (und nichts außerdem). Inzwischen rudert sie leicht zurück.

Zur Mollath-Mahnwache am Sa, 6.7.13 gingen wir zu zweit (plus eine Entschuldigung). Insgesamt versammelten sich zwischen 50-70 Leute vor der Bayerischen Landesvertretung. Eine Frau, die wie Nina Hagen aussah, sagte Verschwurbeltes und sang grottenschlechte Lieder, teilweise auf peinlichem Niveau. Insbesondere nervte das narzisstische Gehabe. Wir beide regten uns auf, dass der Veranstalter ihr soviel Zeitraum gab. Zum Schluß stellte sich heraus, sie WAR Nina Hagen.

Am offenen Mikrophon vernahmen wir Kurzbeiträge von Klaus-Peter Kurch (http://opablog.net/ )

- Ingo Karras ( http://diskriminierung.wordpress.com/solidaritat/ ) - von Herrn Kopp (Gesellschaft für Ethik in der Psychiatrie - http://www.psychiatrie-und-ethik.de/wpgepde/ ) und von Adam Lauks ( http://adamlauks.wordpress.com/tag/adam-lauks/ ); letztere waren in der DDR zwangspsychiatrisiert worden – der Lauks-Blog zeigt eine Aufzeichnung der Kundgebung.

Andere Opfer von Zwangspsychiatrisierung erzählten ihre leidvolle Geschichte face-to-face.

Die Kundgebung wurde von Castor TV in Netz gestellt: http://www.castortv.de/?p=1064

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ciao, Wolfgang Ratzel

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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