Seit etwa einem Jahrzehnt ist in den Geschichtswissenschaften, aber ebenso in der Germanistik, Politikwissenschaft, Geographie oder Ökonomie von der "kulturwissenschaftlichen Wende" die Rede. Diese hat in den wichtigsten Gesellschaften "des Westens", die allesamt rasante Modernisierungsprozesse in der Arbeitswelt und Kommunikation durchlaufen, eine neue Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Formen von Kultur und innovative Ansätze zu ihrer Erforschung hervorgebracht. Weshalb ist dies so?
Peter Burke versteht sein Buch als eine Zwischenbilanz zur "Wiederentdeckung" der Kulturgeschichte. Er will zeigen, "was Kulturhistoriker machen", um an dieser Vielfalt die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Arbeitsweisen zu erfassen, die hierzu gezählt werden können, zum
;nnen, zum erheblichen Teil ohne dass die Forscher sich selbst explizit diesem Begriff zugeordnet hatten.Als Kulturhistoriker weiß Burke um die zu erwartende Vergänglichkeit der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Mode, die er zu einem Teil als Gegenbewegung gegen den Mainstream der siebziger und achtziger Jahre ansieht. Die zeitweilige intellektuelle Dominanz der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, mit ihrer Konzentration auf die "harten" Merkmale der Strukturen der sozialen Schichten und ihrer Ungleichheit, wurde hierdurch zurückgedrängt.Peter Burke, Professor für Kulturgeschichte an der Universität Cambridge, ist selbst ein erfahrener Autor mit eigenen Themen wie: die Renaissance in Italien, Volkskultur, die Inszenierung des Königs durch Ludwig XIV., die Bedeutung des Bildes als historische Quelle und anderes mehr. Er hat sich seit langem vergleichend mit den verschiedenen nationalen Entwicklungen in Frankreich, Italien oder Deutschland beschäftigt. Von diesem Wissen ist die Urteilsschärfe Burkes gespeist.Doch worin besteht der Erkenntnisgewinn? Für Burke richtet sich das verstärkte Interesse am Verständnis der Kultur auf die "weichen" Formen des Symbolischen und deren Deutung. Die Symbole bewusster oder unbewusster Art, die überall in der menschlichen Lebenswelt präsent sind, wurden lange Zeit nur von wenigen Wissenschaftlern wahrgenommen. Zudem erscheint es als Vorzug der jüngeren Kulturgeschichte, dass sie die Werte und kulturellen Vorstellungen thematisieren kann, an denen einzelne Gruppen oder Individuen sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten orientierten. Beispielsweise rekonstruierte die einflussreiche mikrohistorische Studie von Carlo Ginzburg Der Käse und die Würmer das Weltbild eines Müllers im Friaul des 16. Jahrhunderts. Er musste sich vor der Inquisition rechtfertigen und legte dabei zugleich sein Weltbild sowie sein lokales Alltagsleben offen. Andererseits bildet der Blick auf "ganze" Kulturen einen Gegenpol zur weiteren Auffächerung der Diskurse der Spezialisten in den Geschichtswissenschaften.Das knapp gehaltene Buch bietet dem kulturgeschichtlich interessierten Leser in sechs Kapiteln einen beeindruckend breiten Überblick über wichtige Forschungsansätze zur Kultur der menschlichen Lebenswelt bis hin zur Kulturgeschichte der Künste. Sie werden prägnant charakterisiert, aber auch kritisch kommentiert.Im ersten Kapitel skizziert er die Geschichte der Kulturgeschichte, die in Deutschland für einige Jahrzehnte weitgehend verdrängt war und nun erneut angeeignet wird. Beispielsweise stammt der Titel Was ist Kulturgeschichte? ursprünglich von Karl Lamprecht, der bereits 1897 in einer scharfen Auseinandersetzung für die Berechtigung seines Faches stritt, jedoch schließlich als Außenseiter ausgegrenzt wurde. Noch am ehesten hat das Werk des Basler Kulturhistorikers Jacob Burckardt die Zeit überdauert, der 1860 die Kunst der Renaissance in ihren kulturellen Bedingungen darstellte und hieran eine idealisierende Vorstellung des Individuums für sein Publikum, das Bildungsbürgertum, entwarf. Um 1900 entwickelte sich vorübergehend eine erste kulturwissenschaftliche Mode. 1904 veröffentlichte Max Weber seine berühmte Schrift Die protestantische Ethik, in der er die Entstehung des Kapitalismus auf religiös-kulturelle Sinnbilder und Wertvorstellungen im Calvinismus zurückführte.In den zwanziger Jahren entstand in Frankreich die Schule der "Annales", die mit dem Interesse für die "mentalitee collective" die Aufmerksamkeit auf das "geistige Rüstzeug" lenkte, die mentalen Muster, die meist hinter dem Rücken der Akteure, wirksam sind, gleichwohl aber in ihr Handeln einfließen. In den USA beschäftigten sich deutsche Emigranten wie Carl Schorske mit der Entstehung von Hochkultur im Kontext der Stadtpolitik Wiens und des Wandels der bürgerlichen Gesellschaft vor und um 1900. Peter Gay schrieb nicht nur über Freud, sondern er entwarf ein mehrbändiges Panorama der bürgerlichen Kultur und ihrer Formungen der Gefühle, der Liebe, der Aggression und der Sexualität.Auch von einigen marxistisch inspirierten Denkansätzen her wurde die Bedeutung der Kultur herausgearbeitet. So hat der englische Historiker Edward P. Thompson in seiner bedeutenden Arbeit The Making of the English Working Class die Gewichte statt allein auf ökonomische Realitäten auf die Erfahrungen und Ideen gelegt. Zudem ist an Antonio Gramscis Begriff der "kulturellen Hegemonie" zu erinnern, der diesen zum Verständnis von politischen Herrschaftsprozessen für zentral hielt. Mit solchen Denkansätzen wurde das Marx´sche Basis-Überbau-Schema bereits weiterentwickelt.Ein wichtiges Kapitel beschäftigt sich mit dem Aufstieg des Konstruktivismus im Schreiben von Geschichte. Die Verabschiedung der Vogelperspektive der vermeintlich "objektiven" Wissenschaft zugunsten der Einsicht, dass auch Historiker in ihren Perspektiven immer einen subjektiven Anteil in ihr Thema einbringen, kann sich auf die Analogie zu naturwissenschaftlichen Einsichten stützen. Doch zugleich wendet sich Burke gegen den postmodernen Relativismus. Er stellt fest, dass seine Arbeit über die Inszenierung "des Königs" durch Ludwig XIV. sich eben nicht lediglich mit einem "Text" befasst, sondern dieser als tatsächliche Person eine vorhandene, zeitgenössische Vorstellung vom König ausgestaltete und Propaganda für seine Macht betrieb, die in der Geschichte starke Wirkungen und Spuren hinterlassen hat.So reich das Panorama der Aspekte dieses Buches ausfällt, so erscheint es als Schwäche, dass der Burke´sche Begriff von Kultur allzu wenig differenziert ist. Manche Aspekte, wie die materielle Kultur, werden nur oberflächlich berührt. Merkwürdigerweise fehlt der Name von Walter Benjamin und ein Hinweis auf sein Passagen-Werk ganz.Man kann fragen, weshalb es zu dieser "Wiederentdeckung" "der Kultur" in der öffentlichen Kommunikation gekommen ist. Kann man aber tatsächlich von einem "clash of civilisations" sprechen, einem primär kulturell bedingten Zusammenprall der Kulturen, wie der Amerikaner Samuel P. Huntington behauptete? Berechtigt die Einsicht in die Bedeutung der Kultur, diese von gesellschaftlichen Zusammenhängen und wirtschaftlichen Interessen zu lösen? Im Fall der weltpolitischen und inneren Konflikte der USA sicher nicht.Burke vertieft die Frage nach den Gründen für den Aufstieg der Kultur am Himmel der Wissenschaften nicht. Es gibt jedoch starke Argumente für einen Zusammenhang des Gewinns an Bedeutung für die Kultur mit den grundlegenden zivilisationsgeschichtlichen und sozialen Entwicklungen unserer Zeit. So verstärkt die mit der digitalen Revolution enorm expandierende Kommunikation der globalisierten Netze zweifellos die Wahrnehmung der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ebenso haben die empirischen "Pisa-Studien" für Deutschland den Zusammenhang von sozialer und kultureller Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft nachgewiesen. Der Bildungsaufstieg von Kindern aus den Unterschichten ist nach wie vor gleichermaßen von materiellen wie mental-kulturellen Einstellungsmustern ihrer Eltern abhängig, womit die Selbstrekrutierung der Eliten als der Normalzustand des 19. und 20. Jahrhunderts einhergeht. Bleibt das Ziel der Chancengleichheit, der Auftrag des Grundgesetzes, in Deutschland weiterhin eine demokratische Utopie?Motive für Studien über den Zusammenhang der Kultur mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren in der menschlichen Lebenswelt lassen sich zahlreich benennen. Werden sie in das post-postmoderne Erkenntnisinteresse der jüngeren Wissenschaftler eingehen?Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 204 S., 19,80 EURWolfgang Ruppert ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin