Im Verlauf dieses Jahres wurde in zahlreichen Zeitungsartikeln an die Ereignisse von 1977 erinnert, soweit sie mit den Aktionen der "Rote Armee Fraktion" zusammen hingen: unter anderen die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten und früheren SS-Mannes Hanns Martin Schleyer, die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut durch ein palästinensisches Kommando und das Scheitern der damit intendierten Freipressung der RAF-Gefangenen, den darauf folgenden Selbstmord von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim.
Zehn Jahre vor dem "Deutschen Herbst" hatte die Mobilisierung der Studentenbewegung mit dem 2. Juni 1967 begonnen, als nach der gewaltsamen Auflösung der Demonstration gegen den Schah von Persien vor der Westberliner Oper der
r Oper der Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde. Zur darauf folgenden Radikalisierung trug nicht zuletzt bei, dass die Handlungsweise des Polizisten und der Tod des eher unbeteiligten Studenten gerichtlich ungeahndet blieben. Hier ging es bereits fundamental um den Wert eines Menschenlebens und die Gültigkeit des im Grundgesetz festgelegten Rechtes auf körperliche Unversehrtheit. Wenngleich beide Zeitphasen historisch zusammen gehören, ging die RAF keineswegs, wie bei Rückblicken auf diese Zeit gern behauptet wird, als eine notwendige Folge aus der Studentenbewegung hervor.Zum Mythos entwirklichtDie Erinnerungen an die Details dieser Zeit sind unterdessen verblasst, auch bei den Zeitgenossen. Deren Kindergeneration sucht nun nach einer Möglichkeit, sich in die fragmentierten Zusammenhänge von Vietnamkrieg, internationalen Befreiungsbewegungen und Notstandsgesetzen einlesen zu können. Die Studentenbewegung ist zu einer mythischen Vorstellung entwirklicht. Gibt es eine Erklärung für die Entwicklung der Gruppe um Ensslin und Baader hin zum "bewaffneten Kampf" in den Metropolen, dem Konzept der Stadtguerilla Lateinamerikas? Wo verliefen die Grenzen zwischen dem ursprünglichen Anspruch, zu einer humaneren Gesellschaft beitragen zu wollen, und der Bereitschaft zum kaltblütigen Mord an den Repräsentanten "Systems"? Welche Rolle spielten die individuellen Persönlichkeiten, nicht zuletzt der Machismo von Andreas Baader?Ob das in diesem Herbst erschienene Buch des Journalisten Willi Winkler schon eine Geschichte der RAF ist, wie der Untertitel suggeriert, muss bezweifelt werden. Eher ließe sich von einer Folge von Spiegel-Artikeln sprechen. Bei der Lektüre läuft eine dichte Fortsetzungsgeschichte ab, die die Ereignisse nachvollzieht, wenn auch mit einer allzu gut konsumierbaren Oberflächlichkeit. Ein Format, das der Autor beherrscht und phasenweise mit berufsmäßigem Zynismus abarbeitet. Nur selten stellt er Fragen nach den Gründen für die Fehleinschätzungen oder gar Zweifel an den ständigen eigenen Zuschreibungen an die Akteure.Die Erzählung umfasst fast 40 Jahre: von der Vorgeschichte der kleinen, kulturkritischen Gruppen in den sechziger Jahren bis ins Jahr 1970, als die erste Generation den Schritt von der Gewalt gegen Sachen zu der gegen Personen vollzog. Die Phase des "bewaffneten Kampfes" bis 1972, die Aktionen aus dem Gefängnis im Wechselspiel mit der Sympathisantenszene und den Verteidigern, die innere Psychodynamik und die Spaltungen "Gruppe". Die 1973 neu rekrutierte zweite Generation der RAF, die bis 1982 sowohl Aktionen zur Befreiung der Angehörigen der Kerngruppe als auch den Terror gegen Angehörige der Führungseliten "Systems" durchführte. Dann die dritte Generation, von der immer noch wenig bekannt ist, bis zur Auflösungserklärung von 1998. Wer formulierte diese überhaupt? Am Schluss die bedrückende Bilanz: insgesamt 67 Tote, 230 Verletzte, 250 Millionen Sachschaden, Milliarden Aufwendungen für die Sicherheitsapparate, insbesondere für Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz. Erst im Epilog gewinnt Winkler mehr Freiheit gegenüber seinem Material, um in kleinen reflexiven Textpassagen tiefer liegende Fragen zumindest zu benennen. Wegen des Fehlens eines breiteren kultur- und politikgeschichtlichen Kontextes, in dem die falschen Entscheidungen der Akteure mit anderen Handlungskonzepten bei den 68ern verglichen werden könnten, bleibt der Fokus aber doch sehr eingeschränkt.Bereits 2004 hatte Butz Peters ebenfalls eine Geschichte der RAF vorgelegt, die nun als Taschenbuch erschienen ist. Auch sie informiert über die Ereignisabläufe und die beteiligten Personen. Peters stützte sich stärker auf die gerichtlichen Feststellungen und die Berichte der Behörden. Demgegenüber bringt Winklers Neuerscheinung keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn.Seit den 1990er Jahren sind zahlreiche autobiografische Texte zur RAF von Beteiligten erschienen. In den jeweils begrenzten Sichtfeldern wird die Komplexität der gleichzeitigen Geschehnisse erfassabr, die sich aus der Erinnerungsarbeit Einzelner zusammensetzt. Aus der Sicht ehemaliger Terroristen wie Birgit Hogefeld oder Karl-Heinz Dellwo. Aber auch aus dem von Kurt Oesterle redigierten Bericht des Leiters des Vollzugsdienstes von Stammheim, Horst Bubeck, in dem es darum geht, den Mythos der "Isolationsfolter" mit der Wirklichkeit von Privilegien in der Haft zu konfrontieren. Diese gab es nicht überall. Erst in den sechziger und frühen siebziger Jahren wurde eine humanere Justiz als Ziel vertreten von Reformern wie Gustav Heinemann (SPD), Justizminister der Großen Koalition; es ging darum, noch gültige Regelungen aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre im Recht zu ändern.Für eine Geschichte der RAF gibt es Bedarf. Sie muss allerdings die Einengung auf eine anscheinend zwangsläufige, monologische Handlungsentwicklung vermeiden, wie sie im Übrigen dem Selbstbild der RAF entsprach. Dies geschieht bei Winkler nur eingeschränkt, wenn er den ersten Teil Wie Gewalt entsteht überschreibt und die gesamte Geschichte kritischer Gruppen von den Münchner Situationisten, der Gruppe Spur, über die "Subversive Aktion" zur Entstehung der ersten Berliner Wohngemeinschaften in dieser Perspektive rekapituliert. Hier fehlt die Einbeziehung der kultur- und politikgeschichtlichen Forschung des letzten Jahrzehnts, die die sechziger Jahre in ihrer Vielschichtigkeit zwischen kultureller Modernisierung, subkultureller Internationalisierung und den gegensätzlichen Schichten der politischen Mentalitäten analysiert hat. Keine zwangsläufige EntwicklungNahezu völlig ausgeblendet wird bei Winkler die alte Linke, aus Gewerkschaft und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung, die gegen die restaurative Hegemonie des Adenauerstaates die Utopie einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft voranzubringen suchte. Zahlreiche Studenten schlossen sich in der Folge der Politisierung durch 1968 dieser gewaltfreien politischen Bewegung an. Insbesondere die Jungsozialisten und Jungdemokraten boten einen Ort für (radikal)demokratisches Engagement. Ihnen ging es um Humanisierung, um den Weg zu einer demokratischen Gesellschaft. Um 1970 stand dieses Konzept im Gegensatz zum "revolutionären Kampf" mit der Waffe. Die RAF stützte sich dabei auf eine breitere Sympathisantenszene in den Universitätsstädten, aus der sich schließlich die zweite und dritte Generation rekrutierte. Doch wie setzten sich diese Szenen zusammen? Welche kulturellen Gemeinsamkeiten hatten sie? Winkler sagt zu den Gründen und der psychosozialen Dynamik dieser Gruppen nichts.Eine spannende Frage wird von ihm allerdings angesprochen. Winkler rückt den Berliner V-Mann Peter Urbach als aktiven Waffenbeschaffer in die Nähe eines agent provocateur und fragt damit nach der wahrscheinlichen Mitwisserschaft des Berliner Verfassungsschutzes bei der Bewaffnung und militanten Radikalisierung, an deren Ende die RAF steht. Bis heute ist dieses Kapitel nicht aufgeklärt, da die Akten der Verfassungsschutzämter und des Bundeskriminalamts für die Geschichtswissenschaft verschlossen bleiben.Für Bildung und Ideologie der RAF war der deutsche Faschismus von größter Bedeutung. 20, 25 Jahre nach 1945 hatten zahlreiche Menschen Einfluss, die im Nationalsozialismus wesentliche Prägungen in ihrer Mentalität erfahren hatten. Im zunehmenden Wahn der RAF spielte die Vorstellung eine maßgebliche Rolle, mit den eigenen Aktionen einen unterschwellig vorhandenen Faschismus in Teilen des Staatsapparates manifest werden zu lassen, in der - absurden - Erwartung, "das Volk" werde sich dann in einer Revolution des kapitalistischen "System" der RAF zuwenden. Holger Meins brachte kurz vor seinem Tod im Hungerstreik die Konsequenz des polaren Menschenbildes der RAF auf die Formel: "Entweder Mensch oder Schwein".Eine Pathologie des Freund-Feind-Denkens gab es auch auf der Gegenseite, im Staatsapparat, die zu dem Grundsatz führte, unter keinen Umständen auf Forderungen der Terroristen eingehen zu dürfen. Gegen die Konsequenz dieser inhumanen Unbedingtheit der auf Staatsseite handelnden Personen versuchte sich die Familie Schleyer im Verlauf der Entführung vergeblich per Gericht zu wehren. Als Gegenbild zur Welt der soldatischen Militanz steht die Entwicklung des Pfarrers Heinrich Albertz, am 2. Juni 1967 noch Regierender Bürgermeister von Berlin war und Mitte der siebziger Jahre als geläuterter und gesprächsfähiger Mensch galt. Die deutsche Geschichte blieb in den politischen Mentalitäten präsent, doch man konnte und kann sie offenbar unterschiedlich verarbeiten.Erklärungsbedürftig bleibt allerdings, weshalb die Geschichte der RAF im letzten Jahrzehnt so in den Vordergrund der kollektiven Erinnerungsarbeit gerückt ist. Hat dies damit zu tun, dass hier öffentliche Individuen fassbar sind, wesentlich schärfer konturiert als andere Zeitgenossen, die sich in den Mühen der Ebenen bewegten und dabei keinerlei Öffentlichkeit hatten? Dies gilt jedenfalls für Meinhof, Ensslin und Baader. Paradigmatisch steht dafür der Aufstieg von Ulrike Marie Meinhof zu einer wichtigen Publizistin der Bundesrepublik in den sechziger Jahren, der Weg der Radikalisierung und ihr Ende im Selbstmord. Noch heute betont Marcel Reich-Ranicki, dass Ulrike Meinhof die erste Person in der Bundesrepublik gewesen sei, die ihn genauer nach seinen Erfahrungen im Warschauer Ghetto befragt und darauf gefühlsmäßig reagiert habe. Liegt das Faszinosum, dass die RAF darstellt, also im Zwiespalt zwischen dem Anspruch, für mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft kämpfen zu wollen, und dem Umstand, sich im eigenen Handeln selbst zu entmenschlichen? In einer Ausstellung der Berliner Kunst Werke war 2005, nach längerem Streit, Material zum Terror der RAF versammelt worden (Freitag 5/2005). Hier konnten die Besucher Dokumente und künstlerische Verarbeitungen gleichermaßen besichtigen. Man kann sich fragen, ob sich im Ausstellungswert der RAF eine Ambivalenz von Distanz und Interesse des Mittelschichtenpublikums gegenüber den gescheiterten politischen Kämpfern ausdrückt? Viele Fragen zu 1968 und den Folgen bleiben noch offen. Stoff für das nächste Jahr, in dem diese Revolte sich zum 40. Mal jähren wird.Willi WinklerDie Geschichte der RAF. Rowohlt Berlin, Reinbek bei Hamburg, Berlin 2007, 304 S., 22,90 EURButz PetersDie Geschichte der RAF. Fischer TB, Frankfurt am Main 2007, 864 S., 12,95 EUR
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