In den vergangenen Jahren wurde über kaum ein historisches Fachbuch so viel geschrieben wie über den fünften Band von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte. Eine öffentliche Debatte entstand in einer Breite, die die Tiefendimensionen des Selbstbildes der Bundesrepublik offen legte. Das Feuilleton der FAZ richtete hierfür einen digitalen Lesesaal ein. Selbst Schmidt und Pocher beschäftigten sich in der ARD unter Zuhilfenahme von bearbeiteten Playmobilfiguren, mit wesentlichen Aussagen dieses Buches, soweit diese zur anschaulichen Verbildlichung taugen. Wie ist diese erstaunliche Aufmerksamkeit für ein Werk zu erklären, das doch auf ein exakt-empirisches Zahlenwerk aufbaut und keineswegs "schnell durchgelesen" werden kann wie manch anderes Sachbuch?
Wehler, Jahrgang 1931, bis zu seiner Emeritierung Professor für Allgemeine Geschichte in Bielefeld, verstand sich immer als öffentlicher Historiker. Er beteiligte sich mit meist prägnanten Essays an zahlreichen Debatten. Zudem wurde sein Projekt einer Gesellschaftsgeschichte zwischen 1700 und der Gegenwart seit dem Erscheinen des ersten Bandes 1987 kontinuierlich einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Darin schien die Bielefelder Historische Sozialwissenschaft der siebziger und achtziger Jahre zu einer Synthese zu finden, in die die verstreute Forschungsliteratur eingearbeitet war.
Eine der Bielefelder Forderungen bestand bekanntlich in einem Paradigmenwechsel, hin zu einer argumentierenden Darstellung, in der eine differenzierte Erörterung der Strukturen und Entwicklungsverläufe der Gesellschaft eine "überlegene" (Wehler) Erklärungskraft beweise. Dies im Unterschied zur Erzählung von Geschichte, auf die weiterhin sein damaliger Kontrahent Thomas Nipperdey vertraute. Allerdings galt bereits der vierte Band zum Zeitraum von 1914 bis 1949 und insbesondere die eher erzählende Behandlung der Figur Hitlers mit Hilfe des Begriffs der "charismatischen Herrschaft" Max Webers als Relativierung des ursprünglichen Konzepts.
Die zwei Gesichter des Buchs
Der nun erschienene Band für die Zeit von 1949 bis 1990 zeigt jedoch zwei gegensätzliche Gesichter Wehlers, die ein unterschiedliches Publikum ansprechen, Fachhistoriker und ein breiteres, bildungsbürgerliches Publikum gleichermaßen. Elemente der Aufklärung und eher subjektiv-mentale Meinungen Wehlers stehen darin einander gegenüber. Dieses Doppelgesicht zeigt sich beispielsweise im verallgemeinernden Kommentar zur ethnischen Einwanderung von Muslimen in die deutsche Gesellschaft, der eine Bedrohungsvorstellung aufbaut: "Von den sieben großen Weltreligionen ... hat nur der Islam eine radikale, fundamentalistische Feindschaft gegenüber dem Westen entwickelt." Ebenso liest sich die geschlossene Abqualifizierung der DDR als eindimensional-statisch. Ähnlich die Behandlung von 1968 und "der 68er", die samt und sonders für gescheitert erklärt werden. Bei diesen Themen lässt Wehler einen Zugang zu den widersprüchlichen Zusammenhängen der Lebensgeschichten von Menschen, als historische Akteure mit einer eigenen Kultur, und der Strukturen der Gesellschaft vermissen.
Aber dennoch bietet dieser fünfte Band eine lohnende und unverzichtbare Lektüre zum Verständnis der Bundesrepublik. Dies mag der tiefere Grund für das starke öffentliche Interesse bis in die Zentren der Unterhaltungsindustrie sein. Insbesondere das Kapitel über die soziale Ungleichheit in Westdeutschland öffnet einen Zugang zu zentralen Fragen der deutschen Gesellschaft der Gegenwart.
Wehler verwendet darin weiterhin den von Max Weber entwickelten Begriff der "sozialen Klassen". Er kritisiert die individualisierende Ideologie der achtziger und neunziger Jahre, die in der Sozialwissenschaft stark verbreitet war. Deren bekanntester Theoretiker ist in Deutschland der Münchner Soziologe Ulrich Beck, der von vier Thesen ausging: Von der Enttraditionalisierung der Klassenlage, der Erfahrung des Wohlstands als individueller Aufstiegsmobilität, von einer Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelt und schließlich von einem Geltungsverlust der Hierarchietheorien.
Demgegenüber belegt Wehler mit den Ergebnissen der empirischen Sozialforschung die Dauerhaftigkeit der sozialen Ungleichheit bis in die Gegenwart. So kann von einem Verschwinden der Einkommens-, Besitz- und Machtdisparität und der "vertikalen hierarchischen Gliederung der Gesellschaft" keine Rede sein, mit entsprechenden Folgen für die Spielräume in der Lebensführung der Menschen. Diese ziehen vielmehr extrem unterschiedliche Einfluss- und Erfolgschancen der Individuen nach sich.
Wehler zeigt, dass Ulrich Becks generalisierende Rede vom "Fahrstuhleffekt" in der Gesellschaft der achtziger Jahre darüber hinweg täuschte, dass viele Menschen gar nicht erst den Zugang zum "Fahrstuhl" erreichten. Besonders betroffen ist ein Teil der Arbeiterschaft, die "Ungelernten", und andere untere soziale Klassen. Die Arbeiterschaft hat sich zwischen den siebziger Jahren von der Mehrheit der Erwerbstätigen auf etwa 30 Prozent um 1990 erheblich reduziert. Sie ist aber auch heute weiterhin eine wichtige "soziale Klasse". Den Mittelschichten kommt dies meist nur bei einem Streik der IG Metall oder der Busfahrer zu Bewusstsein.
Abfuhr für die Hedonisierungs-These
In einer Reihe von Längsschnitten zeigt Wehler die Entwicklung der unterschiedlichen "sozialen Klassen": der Eliten, der Mittelschichten oder des neuen Bürgertums, den "Aufstieg" der Facharbeiterschaft aus dem Proletariat, die "Randschicht der Armen", den Adel, die Bauern. Selbstverständlich auch die Ungleichheit der Geschlechter, die klassenspezifischen Heiratsmärkte, die Familie, die Bedeutung der Generationen, sowie die klassenspezifische Wahrnehmung der Bildungschancen, der Gesundheit, Kriminalität und der politischen Teilhabe.
Die in den Mittelschichten präsente Vorstellung einer verbreiteten hedonistischen Individualisierung wird hier mit harten empirischen Fakten von nach wie vor vorhandenen sozialstrukturellen Grenzen in der Gesellschaft und damit gesetzten unterschiedlichen Handlungs- und Lebenschancen für die Individuen konfrontiert. Diese Analyse ist die Meisterleistung des Buches.
Dagegen fallen andere Teile ab. Der Abschnitt zu 1968 im Kapitel über Politische Herrschaft hat fast polemische Züge, indem er gegen namentlich nicht genannte Protagonisten "der 68er" anargumentiert und - dies wäre berechtigt - jeder Selbstüberhöhung den Boden zu entziehen sucht. Hier gerät das Bild jedoch erstaunlich konventionell, die Widersprüche der Zeit gehen verloren, aus denen allerdings erst die komplexe Dynamik der Entwicklung der überwiegend eher privilegierten Bürgerkinder zu "68ern" zu erklären ist.
Wehler benennt allenfalls am Rande die Mentalität von Teilen der damaligen Polizei oder die der Justiz, die damals Demonstrationsdelikte hart aburteilte. Deren Herkunft aus den in die Bundesrepublik wirkenden, habitustradierenden Ausbildungen im Nationalsozialismus wurde in den zwei Jahrzehnten Bundesrepublik danach eben nicht einfach "ausgespült". Einen Autor wie den skeptischen Herbert Marcuse hat Wehler angesichts der unscharfen Zuschreibungen, die er benutzt, offensichtlich bis heute nicht gelesen.
Dieser fünfte Band zeigt die Notwendigkeit des Programms einer Gesellschaftsgeschichte. Die Spezialisierung der Wissensfelder innerhalb der Historikerzunft ermöglicht es jedoch kaum, die Webersche Trias von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur tatsächlich zu überblicken. Bei Wehler bleibt die Kultur auf die sie vermittelnden Institutionen reduziert.
Wehlers Leistung ist es, die Dauerhaftigkeit der sozialen Strukturen der Ungleichheit in der Gesellschaft, die den Menschen Bedingungen ihrer Existenz auferlegen, erneut sichtbar zu machen. Deren Unerbittlichkeit wurde in den letzen zwanzig Jahren von postmodernen Wissenschaftlern häufig aus dem Wahrnehmungsfeld verdrängt und erst mit dem empirischen Material der Pisa-Studien wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Hans-Ulrich Wehler Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, Band 5. Beck, München 2008, 560 S., 34,90 EUR
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