Ohne Mauern: Früher fuhren die Leute aus Sderot zum Essen hinüber nach Gaza-City
Israel Im Konflikt zwischen Israel und Palästina scheint es keine Aussicht auf Frieden zu geben. Das war nicht immer so: Es gab eine Zeit, in der keine Mauern den Gazastreifen isolierten. Ein Besuch in Sderot, einer Stadt direkt an der Grenze
In den fantasievoll bemalten Schutzräumen in Sderot finden nicht viele Menschen Schutz
Foto: Finbarr O'Reilly/Reuters
Wenn die Sirenen ertönen, haben wir fünfzehn Sekunden Zeit, bis die Raketen einschlagen“, sagt Nomika Zion aus der Stadt Sderot, direkt an der Grenze zum Gazastreifen. „Wenn man sich an einer Busstation aufhält, dann reicht die Zeit, denn direkt daneben gibt es seit ein paar Jahren fantasievoll bemalte Schutzräume. Es dürfen allerdings nicht zu viele Menschen auf einen Bus warten, denn die Räume sind nicht besonders groß. Wer zu Hause ist, für den kann es schon schwieriger werden, rechtzeitig einen sicheren Schutz zu finden. Und wenn jemand gerade im Auto sitzt, kann er nur bremsen, aussteigen, hinter dem Fahrzeug Schutz suchen und hoffen. „Sie müssen wissen“ – Nomika macht eine Pause –, „wir haben hier
er keine Posttrauma-Situation, sondern ständig sich erneuernde traumatische Erfahrungen.“Nomika Zion weiß, wovon sie spricht. Seit 1987 lebt sie in dieser Stadt im Südwesten Israels. Sderot liegt im Kibbuz Migvan, an dessen Gründung Nomika selbst beteiligt war. Es gibt eine Hauptstraße mit Restaurants, Falafel-Ständen und einer hervorragenden Bäckerei. Hinzu kommen Geschäfte, in denen man Gold, aber auch Diamanten kaufen kann. Und es existiert ein hochmodernes System mit dem Namen „Iron Dome“ zur Abwehr von Geschossen aus dem Gazastreifen. Werden zu viele Raketen auf einmal abgefeuert, gerät der „Eiserne Dom“ an seine Grenzen. Die Schutzräume in allen Häusern der Stadt werden dann zu einer lebenserhaltenden Zuflucht. Kindergärten und Schulen, die auch Nomikas Kinder einmal besuchten, sind wie Bunker ausgebaut. Eltern, Lehrer und Erzieher bleiben in ständiger Alarmbereitschaft.Sderot entstand 1951 auf dem Terrain des einstigen palästinensischen Dorfes Nadschd und hat heute mehr als 20.000 Einwohner. Hier leben Juden aus Polen, Rumänien, Georgien, Äthiopien und Nordafrika. Außerdem orthodoxe Siedler, die bis 2005 den Gazastreifen bevölkerten. In diesem Jahr hatte der damalige Premierminister Ariel Sharon den Abzug der israelischen Armee aus diesem Teil der besetzten Gebiete durchgesetzt und damit dafür gesorgt, dass alle Siedlungen aufgegeben werden mussten.„Löscht Gaza aus!“Vor Jahren gingen Raketen aus dem Gazastreifen noch auf dem freien Feld zwischen dem Grenzzaun und der Stadt nieder. Während des letzten Gaza-Krieges im Mai 2021 (Operation „Guardian of the Walls“) schlugen sie allerdings selbst in der Nähe von Tel Aviv und in anderen Gegenden weiter nördlich ein. Vielleicht auch deshalb ist Nomika Zion Mitglied der Graswurzelbewegung „The Other Voice“, die sich für eine zivile Lösung des Konflikts einsetzt. Es müsse etwas geschehen, denn die Stadt sei nach vielen Jahren der Anspannung durch Kriege und der daraus resultierenden Verzweiflung erschöpft. Nomika ist überzeugt, dass weder die Raketen von der anderen noch die Vergeltung der eigenen Seite irgendeinen Frieden bringen. Und natürlich weiß sie, dass auf der palästinensischen Seite des elektrischen Zauns keine Schutzräume und Keller gebaut worden sind, in denen sich die Menschen bei Gefahr verstecken können. Der Gazastreifen sei von Zerstörung und Hoffnungslosigkeit heimgesucht. Solange das so bleibe, sei es ihrer Meinung nach unmöglich, zu einem friedlichen Miteinander zu kommen. Derzeit gibt es in Gaza-Stadt nur vier Stunden am Tag elektrischen Strom, das Trinkwasser ist seit langer Zeit knapp, die Berge von Müll werden höher und zu einem unlösbaren Problem.In besseren Zeiten konnten durchaus Treffen zwischen Menschen aus Gaza und Israel stattfinden. Eine Friedenskonferenz von „The Other Voice“, die mehrere Hundert Israelis, Palästinenser und internationale Gäste besuchten, konnte organisiert werden. Es gab Friedensseminare, die junge Erwachsene aus Israel und Palästina veranstalteten. Doch haben sich die Zeiten zum Schlechteren verändert. „Heute ist es bestenfalls noch möglich, miteinander zu telefonieren. Und auch das“, meint Nomika Zion, „ist wegen der Überwachung gefährlich“. Sie spielt damit auf zwei weiße Ballons in großer Höhe an, einer an der nördlichen Grenze des Gazastreifens zu Israel und einer an der Grenze zu Ägypten, die mit hochauflösenden Kameras und empfindlichen Sensoren ausgestattet sind. Jede Bewegung und Kommunikation werde registriert. Die Anfeindungen gegenüber „The Other Voice“ unter den eigenen Leuten hätten stark zugenommen. Wer mit Mahnwachen oder durch Demonstrationen die Stimme gegen Gewalt und Besatzung erhebt, wer auf Transparenten verkündet, dass die Menschen – vor allem Frauen und Kinder – im Gazastreifen keine Feinde seien, muss von der Polizei geschützt werden. Nicht selten wird aus vorbeifahrenden Autos gerufen: „Raze Gaza!“, übersetzt: „Löscht Gaza aus!“Blickt man von einem Hügel nahe Sderot Richtung Westen und damit hinüber nach Gaza-Stadt, gerät zunächst der elektrische Grenzzaun mit einem Tor und zwei Baufahrzeugen in den Blick. Man sieht einen Streifen, den Bewohner aus Gaza nicht betreten dürfen und wo es in letzter Zeit bei Demonstrationen immer wieder Tote und Verletzte durch israelische Scharfschützen gab. Sonnenkollektoren stehen vor bestellten Feldern. Wie das glitzernde Blau des Mittelmeers am Horizont auftaucht, so auch die Silhouette von Gaza-Stadt. Man glaubt es kaum – bis auf den Grenzzaun scheint es absolut friedliches Panorama zu sein. Der Anblick unterscheidet sich erheblich von den gewohnten Bildern anfliegender Raketen und Detonationen, wie sie von Fernsehstationen und Nachrichtenagenturen kolportiert werden.Gleiche Rechte für beide SeitenBei einem Treffen weiter südlich an dem in Richtung Ägypten geschlossenen Grenzübergang Kerem Shalom sagt Dario Teitelbaum, der 1977 aus Argentinien eingewandert ist: „Früher sind wir von dieser Seite ans Meer gefahren, und bevor es wieder nach Hause ging, haben wir in Gaza-Stadt in einem Restaurant am Hafen zu Abend gegessen. Meine drei Töchter können sich das nicht mehr vorstellen. Für sie ist der Gazastreifen einzig und allein die Hamas und der Islamische Dschihad.“ Er würde inzwischen nicht mehr die Meretz-Partei mit ihrer sozialdemokratischen Ausrichtung wählen, obwohl er für sie jahrelang gearbeitet habe, sagt Teitelbaum.Für ihn sei die Art der Grenzbefestigung ein Zeichen dafür, wie sehr Palästinenser und Israelis zu Feinden erklärt wurden. Diese Anlagen der Abschottung, die bis zu zwanzig Meter tief in die Erde gehen, damit keine Tunnel mehr gegraben werden können, hätten den Gazastreifen in ein – wie es Teitelbaum formuliert – „Gefängnis unter freiem Himmel“ verwandelt. Und er fügt hinzu: „Dies trifft Menschen, die in derselben Gegend friedlich miteinander leben sollten und“ – er macht eine energische Handbewegung – „irgendwann auch müssen, und zwar ohne Besatzung. Sehen Sie sich um: Es ist trostlos, nichts als Mauern, auf der Erde, unter der Erde und zu unserem Unglück auch noch in den Köpfen.“Für Teitelbaum ist es ein absolut notwendiger Fortschritt, dass die israelische Regierung die Zahl der Arbeitserlaubnisse für Bewohner des Gazastreifens seit Mai von 5.000 auf 16.000 erhöht hat. „Von diesem Einkommen leben bei der Größe der palästinensischen Familien mehr als 100.000 Menschen! Bedauerlicherweise erlöschen die Genehmigungen nach sechs Monaten wieder.“ Die Zahl könnte auf 20.000 steigen, aber – so schränkt er ein – „wer weiß, was der nächsten Regierung einfällt“. Denn das „Experiment“, wie er das jüngste Acht-Parteien-Kabinett unter dem Premier Jair Lapid von der liberalen Partei Jesch Atid nennt, ist inzwischen gescheitert. Neuwahlen zum fünften Mal innerhalb von gut dreieinhalb Jahren werden unvermeidlich sein. Dario Teitelbaum ist mit seiner Prognose nicht allein, wenn er glaubt, die nächste Regierung werde wieder extrem rechts stehen.Dieser Meinung ist bei einem Gespräch in Tel Aviv auch Gideon Levy, Journalist und Mitherausgeber der Zeitung Ha’aretz. Lange Zeit hat er sich vehement für eine Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt. Seiner Meinung nach helfe jetzt nur noch eine radikale Zäsur: Es müsse gleiche Rechte für beide Seiten und einen Verzicht auf die Vorherrschaft der Israelis geben. Dafür jedoch sehe er im Augenblick keine Chance.Nomika Zion aus Sderot meint, sie habe früher ausländische Gäste immer gebeten, sich bei ihren Regierungen und Parlamentsabgeordneten für die Lösung des Nahostkonflikts einzusetzen. Mittlerweile habe sie das aufgegeben.Placeholder authorbio-1