In Hebron gehen sich Palästinenser und israelische Siedler aus dem Weg – manchmal gezwungenermaßen
Foto: Hazem Bader/AFP/Getty Images
Als Erstes fällt die absolute Ruhe in Taybeh auf. Die Straßen sind um die Mittagszeit menschenleer. Nur ein paar Sammeltaxis schleichen die Hauptstraße entlang. Irgendwann läutet eine Glocke. Taybeh ist eines der wenigen christlichen Dörfer, die es noch in der West Bank gibt. Der Ort liegt etwa 13 Kilometer nördlich von Ramallah. Man weiß nicht, ob unter dieser Ruhe unerschütterliche Gelassenheit oder ohnmächtige Apathie gegenüber der Besatzung liegt. Der palästinensische Filmemacher Mohammed Alatar meint, diese Ruhe deute auf eine gefährliche Mischung aus Verzweiflung und Wut über fortgesetzten rechtswidrigen Landraub durch israelische Siedler und Übergriffe, die das tägliche Leben überschatten.
Eine Kirche, au
Kirche, außerhalb von Taybeh, die mit ihrem eingezäunten Hof als Pilgerziel der Gemeinde dient, ist im April von orthodoxen Siedlern aus Ofra gewaltsam besetzt worden. Die weiß-blaue Flagge mit dem Davidstern wehte kurzzeitig über dem Gebäude. Zwar konnten die Siedler noch am gleichen Tag vertrieben werden, doch nun haben die tatendurstigen Eroberer in der Nähe ihre Zelte aufgeschlagen. Sie werden zurückkommen. Das lehrt jahrzehntelange Erfahrung.Als sich die Gemeinde schließlich in großer Zahl zum Gebet versammelt, zieht die israelische Armee auf und setzt Tränengas gegen die Betenden ein. Am Tag darauf erscheint Fouad Twal, der Erzbischof von Jerusalem, zu einem Solidaritätsbesuch und verspricht, er werde sich das nicht bieten lassen und bei den Israelis intervenieren. Auf meine Frage an Nadim Barakat, den Bürgermeister von Taybeh, ob das hilft, hebt der die Arme. Die Armee halte zu den Siedlern. Die würden ermutigt, immer wieder Unheil zu stiften. Dann zündet er sich eine Zigarette an und schenkt Tee ein. „Wir sind durch einen Ring aus vier israelischen Siedlungen eingeschlossen. Trotzdem mussten wir bislang nie Angst um unsere Kirche haben. Dafür gab es einen Grund. Der Boden, auf dem sie steht, gehört dem Lateinischen Patriarchat in Jerusalem. Dies ist kein empty land.“Sandstein und ZiegeldächerEmpty land, so nennt Israels Regierung Gebiete in der West Bank, dem Westjordanland, von denen sie behauptet, sie gehörten niemandem und würden daher zur freien Verfügung stehen. Die palästinensische Seite sieht das anders: Alle Siedlungen mit inzwischen mehr als 500.000 Bewohnern seien auf konfisziertem, quasi enteignetem Grund und Boden errichtet worden. Das verstoße gegen geltendes Recht und missachte die vierte Genfer Konvention, die es verbietet, dass eine Besatzungsmacht auf dem von ihr gehaltenen Terrain die eigene Zivilbevölkerung ansiedelt.Diese Lesart der Landnahme lehnt der Siedler Doran Schneider entschieden ab. Für ihn ist die Besatzung nicht illegal. Wie der Bibel zu entnehmen sei, gehörten Judäa und Samaria – also die besetzten Gebiete – seit Jahrtausenden den Juden. Er lebe seit 20 Jahren in Ma’ale Adumin, einer Stadt östlich von Jerusalem, die man mit ihren mehr als 45.000 Einwohnern nicht mehr „Siedlung“ nennen könne. Er freue sich über die von seiner Regierung errichtete Mauer. Die müsse sein, „um die Siedlungen vor den Angriffen der Araber zu schützen“. Ja, er begrüße ausdrücklich die Bauvorhaben in Ma’ale Adumin. Mit ihrem hellen Sandstein und den Ziegeldächern würden sie bereits vorhandenen Siedlungen sehr ähnlich sehen.Auf Schneiders Homepage kann man lesen: „Wenn Israel auf die ständigen Verbote der Welt und der UNO – jüdische Siedlungen in Israel zu bauen – gehört hätte, dann wäre das Land heute noch so wüst und leer wie vor 65 Jahren.“ Seiner Meinung nach kultivieren und begrünen die Siedler die West Bank. Dass Beduinen dadurch seit Jahrhunderten genutztes Weideland verlieren, interessiert ihn nicht weiter. Der Einwand, dass der massive Bau ganzer Städte die Landschaft versiegelt und zur Wasserknappheit beiträgt, lässt Schneider ebenfalls kalt.Von Bruce Brill liegt das Buch Die Lösung des großen Humanisten vor. Der Autor wohnt in der Siedlung Kfar Eldad südöstlich von Bethlehem, bezeichnet sich selbst als „Mideast Security Analyst“ und möchte am liebsten alle Palästinenser in den Irak umsiedeln. Er beruft sich dabei auf das Vorhaben von Herbert Hoover, US-Präsident Anfang der dreißiger Jahre. Seiner Meinung nach wäre „dieser ausgezeichnete Plan“ auch heute noch durchaus sinnvoll – zum Wohle der Palästinenser und des Irak gleichermaßen.Dass es sich dabei um 2,7 Millionen Menschen allein im Westjordanland handelt, darunter etwa 680.000 Flüchtlinge, die schon einmal Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts vertrieben wurden, deren Dörfer heute auf keiner israelischen Landkarte mehr zu finden sind – das schreckt ihn nicht. Gegen Ende eines Treffens mit Bruce Brill bekommt man seinen Vorschlag schriftlich ausgehändigt und wird gebeten, für Verbreitung zu sorgen.Bob Lang dagegen ist für gute Nachbarschaft mit den Palästinensern, freilich auch für ein hartes Durchgreifen der Armee, wenn es Probleme gibt. Lang ist in New York geboren. Vor 40 Jahren entschloss er sich, „in das Land seiner Vorväter“ zurückzukehren, wie er betont. Er lebt heute in der Siedlung Efrata und ist innerhalb der Gemeinde für Public Relations zuständig. Die Mehrheit der Bewohner arbeite in Jerusalem, erzählt er, das dank der Schnellstraßen, die eigens für Siedler gebaut wurden und für Palästinenser verboten blieben, in einer halben Stunde zu erreichen sei.Bob Lang führt Besucher gern auf die höchste Erhebung seiner Gegend und breitet die Arme aus. „Sie sehen von hier aus sechs Hügel. Fünf sind inzwischen mit Eigentumswohnungen bebaut. Auf dem sechsten stehen Caravans. Sie werden von unseren Behörden so lange mit Strom und Wasser versorgt, bis auch dort Häuser stehen.“ Im Gegensatz zu Doran Schneider aus Ma’ale Adumin ist Lang mit der Regierung Netanjahu, was den Siedlungsbau angeht, nicht zufrieden. „Zu zögerlich, zu viel Bürokratie, zu wenig Courage.“ Im Übrigen sei er für die Einstaatenlösung, aber dieser Staat müsse ein jüdischer sein, und das Recht auf Rückkehr dürfe nur für Juden gelten. Auch für Juden, die in New York geboren seien, nicht für Palästinenser, die nach 1948 oder 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, das Land verlassen mussten.Würde es nach den radikalen Siedlern in Hebron gehen, wäre die Stadt längst von Palästinensern gesäubert. Aus gewaltsam besetzten Häusern warfen sie so lange Steine, Flaschen, Matratzen und Möbel, dass über dem Basar ein massives Stahlgitter eingehängt werden musste. Wer die Stadt durchquert, kommt an Läden vorbei, die leer stehen, weil die palästinensischen Eigentümer die ewigen Angriffe nicht mehr aushielten oder die Armee, die von Wachtürmen aus den palästinensischen Teil der Innenstadt kontrolliert, die Geschäfte einfach geschlossen hat. Dabei war Hebron einmal der größte Markt im Süden der West Bank. Heute müssen palästinensische Kinder unter dem Geleit von Erwachsenen in ihre Schulen gebracht werden, um sie vor den Angriffen der Siedler zu schützen.Taysir Amarna gehört zu den palästinensischen Landwirten, die seit Generationen ihr Land in Akkaba nördlich von Tulkarem bewirtschaften. Von seinem Hof aus kann er die neue Grenze sehen, die ihn vier Fünftel seiner Anbaufläche kostet. Nur an drei Tagen in der Woche kann er ein Tor im elektrischen Zaun passieren und auf seinen Feldern arbeiten – vorausgesetzt, er hat von der Besatzungsmacht Passierscheine für sich selbst, seinen Traktor und sein Pflanzgut erhalten. Taysir sagt, es passiere vier bis fünf Mal im Jahr, dass auf seinem Land Feuer ausbreche. Hilflos müsse er dann von seinem Haus aus zusehen, wie die Ernte zugrunde gehe.„Warum brennen immer meine Schläge?“, fragt er, während er frisch gepressten Orangensaft anbietet. Er habe den Eindruck, die Siedler im nahegelegenen Camp Metser zu stören. Durch die Brände solle er vertrieben werden. Doch wenn er das Land jenseits des Sperrzauns aufgeben müsse, könne er das Gleiche mit seiner Familie tun. Wovon solle man leben? Wer sein Land verlasse, der gebe den Anspruch auf sein Eigentum auf.Aber nicht immer werden Übergriffe der Siedler tatenlos hingenommen. Das Dorf Jayyous südlich von Jenin hat 2008 ein israelisches Gericht gegen die neue Grenzziehung angerufen. Ein Jahr später bekamen die Kläger nach einem langen, kostspieligen Prozess ein Urteil, das ihre Rechte als Eigentümer teilweise anerkannte. Seither warten sie darauf, zumindest einen Teil des verlorenen Landes zurückzubekommen. Es werden nur 240 Hektar und eine Quelle sein, während 530 Hektar und drei Quellen auf israelischer Seite bleiben.Razzien und StrafaktionenAls Anfang 2013 bei Jayyous Vorbereitungsarbeiten zur Verlegung der Grenze begannen, tauchten plötzlich Siedler mit ihren Caravans auf. Obwohl es sich um einen sogenannten illegalen Außenposten handelte, wurden sie von israelischen Stellen umgehend mit Strom und Wasser versorgt. Eine private Wachfirma sicherte die Wagenburg rund um die Uhr.Ghassan Khaishi, der Bürgermeister von Jayyous, sieht die Entwicklung mit Sorge. Er vermutet, die Siedler wollten facts on the ground schaffen. Bisher sei noch jeder Wohnwagen irgendwann durch Häuser ersetzt worden. Man solle nicht vergessen, dass Naftali Bennetts Partei Jüdisches Heim inzwischen das Wohnungsbauministerium übernommen habe. Zu diesem Ressort gehöre der Siedlungsbau. Während des Wahlkampfs vor fünf Monaten hatte sich Bennett ausdrücklich für die Genehmigung neuer Siedlungen ausgesprochen. Der Bürgermeister schildert, wie diese Expansion die Arbeit auf den Feldern erschwert. Inzwischen gelte für jede Siedlung eine Special Security Area im Umkreis von 500 Metern. Diese Sicherheitszone ohne Erlaubnis zu betreten, kann mit einer Strafe von 200.000 NIS (umgerechnet 42.000 Euro) oder bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden. Oft sind danach Razzien oder Strafaktionen der Armee üblich.Betrachtet man heute eine Karte des Westjordanlandes, stellt man fest, dass die Siedlungspolitik fast aller israelischen Regierungen seit 1967 zu enormen Landverlusten der Palästinenser und einer vollkommen zersplitterten Geografie geführt hat. Die Palästinenser sind auf ihrem eigenen Boden in Enklaven zusammengedrängt – umgeben von Mauern, Elektrozäunen und Straßensperren. Wollte man jetzt einen Staat ausrufen, gäbe es kein zusammenhängendes Staatsgebiet. Die Zweistaatenlösung ist längst zu einer surrealen Option geworden.
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