Wer akribische Nachzeichnungen von geschichtlichen Umwälzungen schätzt, ebenso flüssig wie verständlich geschrieben, aber eben Nachzeichnungen eines Wissenschaftlers, die ohne Geschichten und Erzählungen auskommen, der kann an einem kürzlich erschienenen Werk nicht vorbeigehen. Das gilt vor allem für denjenigen, der sich für das Thema Wiedervereinigung interessiert und dafür, wie deren Folgen mit zu den entscheidenden heutigen Problemen des deutschen Sozialstaates geworden sind.
Gerhard Ritter, der Münchner Emeritus und Nestor der deutschen Sozialgeschichte, hat mit Der Preis der Einheit eine sehr dichte Analyse vorgelegt, mit der enorme Mengen an Wissen, Aussagen von Zeitzeugen und Dokumenten - darunter auch viele bisher unveröffentliche Quellen - verarbeitet und gewichtet werden; allein seine Anmerkungen umfassen weit mehr als 100 Seiten. Seine Analyse gibt grundlegende und tiefgründige, kompetente Antworten auf die Kern-Frage, der sich dieses Buch widmet: Wie und von wem wurde die Sozialpolitik gestaltet, welche die Wiedervereinigung begleitete? Und wie hat der Sozialstaat sie verarbeitet?
Ritter kommt zu der Kern-These, dass die Übertragung des westdeutschen Sozialsystems auf Ostdeutschland die Lebensbedingungen der Menschen dort nennenswert verbesserte, sich die Krise des Wohlfahrtsstaates selbst damit jedoch erheblich verschärfte und seiner Meinung nach notwendige Anpassungen an weltwirtschaftliche Erfordernisse gefährlich verzögerte. Nur eine der vielen Zahlen, die Ritter zur Illustration vorträgt: Zwischen 1989 und 1995 verdoppelten sich die Schulden der öffentlichen Haushalte.
Dieses Buch ist ohne Frage ein Standardwerk, das einen enormen Erkenntnis-Gewinn bietet. Ritter beschreibt und analysiert akribisch und minutiös auf etwa 500 Seiten die nationalen und internationalen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Wiedervereinigung, die Herstellung und Umsetzung der Sozialunion und die Sozialpolitik und ihre Akteure in den Jahren 1990 bis 1994; alle wichtigen Aspekte, ob sie das Gesundheitssystem, die Arbeitsförderung und vieles andere mehr betreffen, sind sehr sorgsam und übersichtlich in faktenreiche Kapitel gegliedert.
Es war klar, so Ritter, dass eine Wiedervereinigung damals nur dann von einer ausreichenden Mehrheit der Bevölkerung politisch akzeptiert werden würde, wenn es den Ostdeutschen spürbar besser und den Westdeutschen nicht schlechter gehen wird. Insofern sieht er zu Recht in der Sozialpolitik das entscheidende innenpolitische Fundament für dieses historische Projekt.
Für den Münchener Wissenschaftler war die Umsetzung dieses Systems in den ostdeutschen Alltag "organisatorisch eine Meisterleistung" der verschiedenen Regierungs-Bürokratien. Seine Grundthesen führen jedoch kritisch weit über diese Feststellung hinaus: Dieses Sozialsystem sei zu einem Zeitpunkt in Ostdeutschland umgesetzt und damit letztlich auch politisch bestätigt worden, als es - unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung - hätte längst reformiert werden müssen. Insofern geht Ritter keineswegs davon aus, dass die Krise des heutigen Sozialstaates ausschließlich aus den finanziellen Lasten der Wiedervereinigung besteht. Aber diese haben, seiner Meinung nach, die Krise erheblich verschärft und letztlich auch die entscheidenden Konstruktionsfehler des Sozialsystems offen gelegt.
Zur Erinnerung: Entgegen den Empfehlungen vieler Wirtschafts-Fachleute entschied die Politik, die Währungsunion einzuführen und die beiden Währungen in ein Tauschverhältnis von 1:1 zu setzen. Damit war die DDR-Wirtschaft faktisch über Nacht bankrott, weil sie diese Aufwertung um 340 Prozent nie und nimmer verkraften konnte, somit innerhalb von Deutschland und erst recht nicht auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig war. Die unmittelbaren Folgen - Massenarbeitslosigkeit, als eine Antwort darauf: Frühverrentung - leerten beispielsweise die Rentenkassen im Nu. Da das deutsche Sozialversicherungssystem weitgehend über die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert wird, schossen als Folge die Lohn-Nebenkosten in die Höhe, ebenso die Belastungen für die Arbeitnehmer, die Arbeit wurde teurer, die Probleme am Arbeitsmarkt wuchsen in ganz Deutschland; so wurden unter anderem zum April 1991 die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung auf einen Schlag um 2,5 auf 6,8 Prozent angehoben.
Nicht der Steuerzahler also, sondern einseitig vor allem die Arbeitnehmer und die Unterschichten, im Prinzip auch die Unternehmer hatten die Vereinigung zu finanzieren; wobei letztere als einzige wirksame Möglichkeiten haben, die Mehr-Kosten auf andere Akteure abzuwälzen. Es zeigte sich damit endgültig, dass die enge Bindung der Finanzierung der sozialen Systeme an die Lage auf dem Erwerbs-Arbeitsmarkt - geringe Arbeitslosigkeit gleich gefüllte Sozialkassen gleich geringer Finanzbedarf versus hohe Arbeitslosigkeit gleich leere Sozialkassen gleich hoher Finanzbedarf - nicht mehr taugt und eine Fehlkonstruktion ist; dies jedoch hat mit den Folgen der Globalisierung, die als angeblicher Sachzwang auch bei Ritter für vieles herhalten muss, erst einmal nichts zu tun.
In dem Werk skizziert Ritter nur gelegentlich und dann nur knapp, wie er sich den Umbau vorstellt. Aber wenn er sich äußert, dann tut er dies unverblümt: die Schulden des Staates verringern, Lohn-Nebenkosten drastisch senken, den Markt stärken, den Einfluss des Staates zurücknehmen, dem Einzelnen mehr Eigenverantwortung und damit mehr Lasten übertragen.
Ritter kommt jedoch, bei aller Kritik, die er selbst am Sozialstaat vorträgt, auch zu einem Schluss, der dem bei uns inzwischen beliebten (Sozial-)Staats-Bashing widerspricht: "Die Analyse der Sozialpolitik der Jahre 1989/90 bis 1994 unterstreicht grundsätzlich die Problembewältigungskraft und die Lernfähigkeit des deutschen Sozialstaates."
Besonders spannend sind Ritters Analysen über die Macht der einzelnen Akteure: Die entscheidende Rolle spielten wenige Spitzenpolitiker und vor allem die Bürokratie. Parteien und Parlamente, Länderregierungen wurden, zumindest in den entscheidenden Jahren 1990/91, an den Rand gedrängt. Dies sei auch eine Folge der Tatsache, dass alle entscheidenden Verträge unter einem enormen Zeitdruck ausgearbeitet worden seien. Wegen dieser abgehobenen Politik der Vereinigung habe die Politik zusätzlich an Ansehen und Vertrauen verloren; verstärkt von dem Versprechen von Kanzler Kohl, es werde "blühende Landschaften" geben, ein Kanzler, der sich vermutlich kurzzeitig vor dem Ausbruch eines zweiten Wirtschaftswunders a la Ludwig Erhard wähnte.
Der Leser muss ein hohes Interesse an diesem Thema mitbringen, lässt der Autor doch nur selten die Faszination dieses historischen Vorganges zwischen den sorgfältig aufbereiteten Fakten aufblitzen: wie naiv wichtige Akteure auf das angeblich bevorstehende Wirtschafts- und Aufbauwunder setzten, das alle Probleme wegpusten würde; wie der einzige, der rechtzeitig und ausreichend drastisch die bevorstehenden Belastungen benannte, Oskar Lafontaine, auch deshalb politisch unterging; wie alle Gesetze der Verhandlungs-Demokratie außer Kraft gesetzt wurden und ein kleiner Kreis von mächtigen Politikern mit ihrer Spitzen-Bürokratie den Kurs bestimmte. Als Ausgleich hat Ritter dafür das Buch wiederum so konsequent straff und übersichtlich gegliedert, dass es dem Leser ebenso als Nachschlagewerk dienen kann. Ihm ist mit diesem Buch ein rundum vorbildhaftes Stück Sozial-Geschichtsschreibung gelungen. Es wäre fahrlässig, würden seine Erkenntnisse in der aktuellen Debatte um die Reform des Sozialstaates keine Rolle spielen.
Gerhard A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit. C.H. Beck. München 2006, 542 S., 38 EUR
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