Ihre Regierung könne nicht regieren und sie, die Kanzlerin, versage, habe sie doch keine Linie und sorge nicht für Ordnung. Diese Kritik kommt aus fast allen politischen Ecken. Jedoch: Angela Merkel, die diesem Haufen von regierenden Versagern vorsteht, ist zugleich eine der stärksten, wenn nicht die stärkste politische Persönlichkeit in Deutschland. Ein bemerkenswerter Kontrast. Woher rührt dann ihre Stärke, wenn nicht nur aus der Schwäche der anderen.
Eine nie versiegende, im Moment besonders kräftig sprudelnde Quelle ist natürlich der Zustand der anderen Parteien. Aber warum sind die so schwach? Unter anderem weil Angela Merkel kaum Angriffsflächen bietet. Hier die Liste dessen, was sie nicht tut: Es gibt bisher erkennbar keinen Master-Plan für einen sozialen Kahlschlag. Angela Merkel verspürt auch in einer Regierung mit der FDP offenkundig keine Lust, zu ihrem einst marktradikalen Kurs zurückzukehren. Es gibt keinen Marsch in den Atom-Staat. Sie schleift weder die Rechte der Gewerkschaften noch die der Arbeitnehmer.
Mit dieser Liste des Nichtstuns entwaffnet sie die Opposition. Alle deren Vorhersagen über die sozialen Verwüstungen einer konservativ-liberalen Regierung erweisen sich – bisher – als falsch. So fehlen die Konflikte, an denen die Fronten gebildet werden könnten, welche alle drei Oppositionsparteien viel dringender benötigten, um die eigenen Reihen geschlossen halten zu können. Ein kluger Beobachter der Szene in Berlin meinte schon, diese Legislaturperiode werde so langweilig werden, dass die Linke sie nützen könne, um sich selbst zu zerlegen, die Verletzungen zu lecken, Kinder zu kriegen, Häuser zu bauen oder Programmdebatten zu führen; im Moment gibt es einen starken Trend zur ersten Option.
Mit der FDP ist es etwas anderes: Da gibt es Fronten, die wird angegriffen. Jedoch: Taugt die noch als Feindbild? Es mehren sich die Hinweise, dass Umgang und Auseinandersetzung mit ihr nicht mehr in der Sphäre des Politischen stattfinden. Da geht es doch eher um Anstand, um Niveau und Ästhetik. Es verlässt einen sich um die Reputation dieses Staates sorgenden Bürger doch nicht das Gefühl, der Tag könne näher rücken, an dem man sich ein bisschen schämen muss: ein Musterschüler auf Reisen, ein tüchtiger Weintrinker auf der Suche nach dem Wachstumspfad, ein im Lobbyismus sich verirrender netter Herr Rösler, eine allein mit Dialekt und Hochgeschwindigkeits-Sprachlauten Schrecken verbreitende Dompteuse Homburger und dann noch die erfolgreichen Mövenpick-Spendensammler. Ist das noch eine ordentliche Partei? Oder mutierte die FDP in der langen Oppositionszeit unter der Hand und weitgehend unbemerkt doch in eine Ansammlung von Bürgern, für deren präzise analytische Bestimmung uns der Begriffs-Kasten noch fehlt?
Aber das ist tatsächlich ein anderes Thema. Und man weiß ja nicht einmal wie lange noch. Denn Angela Merkel lässt in diesen Monaten die Liberalen gerade von ihren besten (Schäuble) und nervtötendsten (Seehofer, Söder) Kräften zermürben: Brüderle ausreden lassen, Rösler auch, Niebel auch, und zeitgleich deren Projekte kleinarbeiten. Um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, wie es der Auftrag der Kanzlerin ist, so gut es eben geht, wenn der Schaden mit am Kabinettstisch sitzt. Es ist wahrlich ästhetisch kein Genuss, aber die Kanzlerin erzielt so im Moment mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an liberaler Schrumpfung.
Keinen großen Wurf gewagt
Natürlich wagt die Kanzlerin keinen großen Wurf. Aber wer könnte das überhaupt noch in dieser mit Interessen und Klientelgruppen vollgestellten deutschen Verhandlungsdemokratie? Das können doch nur noch gelangweilte Journalisten oder böswillige Oppositionelle fordern. Und dürfte und sollte sie das jetzt überhaupt? Unverändert mitten in einer unberechenbaren Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, in der täglich eine neue Bombe hochgehen kann und alle Kräfte für das Management der Krise gebraucht werden.
Und natürlich verficht Merkel keine Politik, von der Mann und Frau im Alltag so reden: Die Finanzmärkte so zurechtstutzen, dass Josef Ackermann wieder Kellner und nicht länger Koch ist. Die Reichen die Zeche für die Finanzmarkt-Krise bezahlen lassen. Eine Revolution in Gang setzen, um unserem Bildungs- und Weiterbildungssystem endlich den Feudalismus auszutreiben und die Gleichheit der Chancen wieder einkehren zu lassen. Natürlich kehrt sie die verheerenden Steuer-, Renten- und Arbeitsmarkt-Reformen (Leiharbeit, Niedriglohn-Sektor, Hartz IV, niedrige Unternehmenssteuern, hohe Mehrwertsteuer, Rente mit 67) nicht um, welche die Grünen, die Sozialdemokraten und die Basta-Politiker Schröder, Müntefering, Clement und Steinbrück zu verantworten haben. Da wurden eben von zwei sich halbwegs links nennenden Regierungen Maßstäbe gesetzt und vor allem Maßstäbe versetzt: Wie könnte eine konservative Partei, will sie sich politisch nicht ruinieren, eine linkere und sozialere Politik betreiben als die linken Parteien dieses Landes?
Natürlich macht sie das alles nicht, sind sie, ihre Partei und vor allem ihr Partner FDP ja von Gesellschafts-Gruppen gewählt worden, die eben diese Errungenschaften der rot-grünen Regierungen unbedingt erhalten wollen. So muss Merkel in wesentlichen Teilen eine so gerechtigkeitsfeindliche und wirtschaftsfreundliche Politik betreiben, damit nicht auch noch ihr die Wähler in Scharen weglaufen.
Aber das Folgende macht sie: Sie hofiert die Gewerkschaften; inniger als es Gerhard Schröder in seinen gewerkschaftsfreundlichsten Anwandlungen je getan hat. Ihr Umweltminister Norbert Röttgen will im Herbst ein Energie-Gesamtkonzept vorlegen, „nicht um die Kernkraft zu festigen, sondern um darzulegen, wie wir sie ablösen“; seither streitet die CDU über Laufzeiten und Ausstieg. Finanzminister Wolfgang Schäuble ist seit Ausbruch der Krise (mindestens) Verbal- und in Teilen sogar Real-Keynesianer. Ursula von der Leyen pflegte zuvor eine moderne Frauen-Politik und will sich jetzt die Lohndumping-Kette Schlecker vornehmen. Maria Böhmer, Integrationsbeauftragte, will im Öffentlichen Dienst eine Quote für Migranten. Und über Verkehrsminister Peter Ramsauer wird berichtet, er halte nichts von einem Börsengang der Bahn und wehre sich „gegen den Privatisierungswahn“.
Die einzige Volkspartei
Das heißt: CDU und CSU mögen viele Mitglieder und Wähler verlieren. Aber Angela Merkel erhält mit diesem Kurs der Öffnung, der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dimensionen umfasst, ihrer schrumpfenden CDU den Charakter als Volkspartei. Sie ist inzwischen als einzige Partei in der Lage, sehr unterschiedliche Interessen auszutarieren; mit allen Risiken, ob so noch die wert- und rechtskonservativen Mitglieder und Wähler gehalten werden können. Fast jede Koalitions-Konstellation ist für die CDU inzwischen denk- und machbar. Die Bandbreite an Personen und Inhalten ist breiter und weiter geworden. Positionen und Personen, die sich zwar reiben, die sich aber nie gegeneinander in Stellung bringen lassen, in einen Kampf um Sieg oder Niederlage, richtig oder falsch, gut oder böse. Im Gegensatz zur SPD – das ist auch der Grund für deren Untergang – handelt die CDU nicht in diesen Kategorien, weil sie letztlich die Macht eint und der Kampf um sie. Angela Merkel orchestriert: Flügel und Positionen in Harmonie, im Nebeneinander, im Miteinander, zeitweise im Gegeneinander. Was ihr als Schwäche ausgelegt wird, ist ihre Stärke; zudem angemessen unserem Typ von Demokratie, die nicht ein, sondern zahlreiche Machtzentren kennt.
Vor diesem politischen Orchester verkümmern die anderen Parteien. Vielfalt in Perfektion. Warnfried Dettling, einst Chefdenker unter CDU-Generalsekretär Heiner Geißler: „Diejenige Partei wird die erfolgreichste sein, die die Komplexität (der Gesellschaft) in sich widerspiegelt.“
Angela Merkel hat sich in diesem neuen Fünf-Parteien-System die Mitte gemopst. Die will sie nicht mehr hergeben. Und dieses Vorhaben wird sie, die fleischgewordene Mitte, sich auch von der FDP nicht durchkreuzen lassen.
Eine ostdeutsche Protestantin, kinderlos, steht mit einem schwulen Westdeutschen zur Seite an der Spitze einer konservativ-liberalen Bundesregierung. Und diese Kanzlerin geht – unter umgekehrten politischen Vorzeichen – mit ihrer Linie vergleichbare Risiken ein, wie Jahre zuvor Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010. Schröder sagte oft Basta und ließ seine SPD an der Agenda 2010 zerbrechen. Merkel sagt nie Basta und hat aus ihrer Partei ein Reich der Mitte gemacht.
Wolfgang Storz, Jahrgang 1954, war Chefredakteur der Frankfurter Rundschau. Gemeinsam mit Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Kessler hat er 2008 das Buch Alles Merkel? Schwarze Risiken, bunte Revolutionen veröffentlicht.
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