Zukunftsfragen Betriebsarbeit oder soziale Bewegung - oder beides? Die Gewerkschaften stecken in der Krise und müssen in schwierigen Zeiten ihre Rolle neu finden
Müssen sich die Gewerkschaften neu erfinden? Oder bloß ihre Arbeit besser machen und besser "vermarkten", um eine graue Gegenwart in eine helle Zukunft zu verwandeln?
Seit vielen Jahren sagen die einen, mit guten Gründen, jetzt ist es soweit, jetzt kommen die Gewerkschaften in die Offensive, sie müssen jetzt in die Offensive kommen: In Umfragen wächst ihr Ansehen. Es sind ihre Themen - beispielsweise Mindestlohn, soziale Gerechtigkeit -, die im Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stehen. Es sind ihre Kompetenzen die mehr denn je gebraucht werden: Die Erwerbsarbeit wird wichtiger, erreichen weltweit doch mehr Staaten den Status eines Industrielandes. Die Beschäftigung von Frauen nimmt zu. Mehr junge Menschen haben Mühen, ins Erwerbssystem h
bssystem hineinzukommen. Insofern steigt der objektive Bedarf an Gewerkschaften. Mann und Frau brauchen sie.Und seit ebenso vielen Jahren sagen - ebenfalls mit guten Gründen - die anderen: Wie sollen es die Gewerkschaften ausgerechnet jetzt schaffen, in die Offensive zu kommen? Ausgerechnet jetzt: Seit Jahren gibt es viele Millionen Arbeitslose, was die Verhandlungsposition schwäche. Die Arbeitswelt zerfalle, werde vielfältiger, was es mühseliger mache, die Arbeitnehmer zu organisieren. Und mit Globalisierung und weltweitem Wettbewerb sei generell deren Einfluss gesunken und der des Kapitals gestiegen. Die Unternehmer hätten auch in Deutschland sozialen Konsens und Sozialpartnerschaft aufgekündigt.Die Entwicklung ist also widersprüchlich. Irgendwie braucht diese Gesellschaft und brauchen ihre Arbeitnehmer die Gewerkschaften. Deren Liste an Verdiensten ist anerkannt und lang. Die Liste der deprimierenden Fakten allerdings auch: Der Einfluss der Gewerkschaften in der Gesellschaft und in der Politik hat eindeutig abgenommen. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, ist erheblich geringer geworden. Der Mitgliederverlust hält an und der Organisationsgrad in den Betrieben sinkt gleichermaßen. Wenn seit 2005 die IG Metall oder Verdi verkünden, die Mitgliederzahl sei leicht gestiegen, so ist das erfreulich, aber vermutlich kein echter Erfolg. In der zurückliegenden Boom-Zeit hat beispielsweise die Metallindustrie neue Arbeitsplätze geschaffen. Wenn die Zahl der Mitglieder in den Arbeitnehmerorganisationen also absolut gestiegen sein mag, prozentual nahm sie vermutlich nicht zu.Viel bedenklicher als die Entwicklung der Zahlen ist für die Gewerkschaften jedoch die Struktur ihrer Mitglieder. Die Gewerkschaften organisieren die alte untergehende Industriegesellschaft, aber nicht die neue und schon gar nicht die neue Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Es finden sich viele ältere Männer, wenige Frauen, wenige Junge, wenige Angestellte und viele Arbeiter in ihren Reihen. Die Schwachen und die Starken in der Arbeitswelt - die Ausländer, gering Qualifizierten, prekär Beschäftigten und die hochqualifizierten Wissensarbeiter - sind gleichermaßen nicht organisiert. Die einen erwarten von den Gewerkschaften offensichtlich nichts. Und die anderen brauchen sie nicht. Erschwerend kommt hinzu: Dieser Befund ist innerhalb der Gewerkschaften seit mindestens 20 Jahren bekannt und unumstritten und deshalb wird auch schon so lange darüber geredet - geändert hat sich wenig.Auf ihre Krise haben die Gewerkschaften erst einmal wie Unternehmen reagiert, deren Märkte einbrechen: Der etwas Stärkere übernimmt den etwas Schwächeren. Noch in den achtziger Jahren gab es 17 Einzel-Gewerkschaften. Seit 2002 sind es nur noch acht. Während die Arbeitswelt sich vervielfältigt, auch dezentralisiert, haben sie ihre Organisationsformen uniformiert und zentralisiert. Das heißt, die Gewerkschaften haben die Vielfalt der Arbeitswelt nicht aufgenommen und versucht, sie organisatorisch widerzuspiegeln und dann diese Vielfalt zu managen. Sie haben vielmehr versucht, sie einzudämmen und nach ihren Erfordernissen zu ordnen. Eine der Folgen ist, dass sich viele Berufsgruppen mit ihren Interessen und Kulturen unzureichend wahrgenommen sehen. Und so beginnt die Gewerkschaftslandschaft erneut zu zersplittern: Ob Piloten, Ärzte oder Lokführer, die spektakulärsten und erfolgreichsten Streiks in den letzten Jahren organisierten diese durchsetzungsstarken Minderheiten, die sich vor allem auf das Ziel der Lohn-Maximierung konzentrieren.Diese Zentralisierung erschwert jedoch nicht nur den Umgang mit der Vielfalt der Arbeitswelt, sondern - nur auf den ersten Blick mutet das merkwürdig an - gefährdet zugleich auch die Einheit der Gewerkschaften. Seit es nämlich nur noch acht Einzelgewerkschaften gibt und unter diesen nur noch drei - IG Metall, Verdi und IG BCE -, die machtpolitisch relevant sind und in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, hat der Dachverband DGB endgültig nichts mehr zu sagen.Nur ein Beispiel unter vielen: Im Bundestagswahljahr 2009 wird, so ist zu hören, die IG Metall eine große Kampagne zu dem Thema "Gute Arbeit" machen. Vermutlich wird Verdi sich auf ihr Thema Mindestlohn stürzen. Und der DGB darf dann wohl auch noch ein bisschen was machen. Dieser kleine Vorgang bringt einige der Probleme der deutschen Gewerkschaften an den Tag - die Einzelgewerkschaften sind offensichtlich immer noch der Meinung, sie seien allein stark genug, um bundesweit mit solchen Kampagnen anhaltend durchzudringen. Das kann mit gutem Grund bezweifelt werden.Es gibt außerdem seit längerem keinen funktionierenden Dachverband mehr, der als der Repräsentant der Gewerkschaften von Politik und Öffentlichkeit ernst genommen wird. Wie sollte er auch noch von anderen respektiert werden, wenn die eigenen Leute ihn nicht schätzen: "Trendwende" hieß ein großes Reformprojekt, das die Spitzen des DGB und von allen Einzelgewerkschaften vor Jahren in Angriff genommen haben. Gehört hat man nur wenig über die Ergebnisse. Im Gegenteil. Dem Dachverband wurde vor Monaten in aller Öffentlichkeit in so rüder Form von seinen großen Einzel-Gewerkschaften ein erneuter Spar- und Reformprozess verordnet, als wolle man in Wahrheit sein eigenes Hauptquartier nicht instandsetzen, sondern am liebsten abreißen.Und irgendwie und irgendwo, meist losgelöst von diesem sehr schwierigen Alltag, gibt es eine Reformdebatte über die Frage, ob und wie sich die Gewerkschaften erneuern sollten. Dazu gibt es viele Worte, aber auch einzelne Taten. Geradezu mustergültig haben es Verdi und die kleine Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten geschafft, mit einer klug angelegten und hartnäckig betriebenen Kampagne das Thema Mindestlohn auf die Agenda dieser Gesellschaft zu setzen.Die Dienstleistungsgewerkschaft kann - obwohl finanziell und organisatorisch zwischen Machtkoloss und Geisterarmee hin- und her schwankend - sowieso als innovativste Gewerkschaft gelten. Sowohl bei dem Thema Privatisierung von Bahn oder Kliniken wie bei dem Versuch, Discountern wie Lidl und Aldi halbwegs menschenwürdige Arbeitsbedingungen abzutrotzen, setzt sie auf ebenso viel versprechende wie unkonventionelle, allerdings nur mühsam zu organisierende Bündnisse von sozialen Bewegungen, Arbeitnehmern und Konsumenten. Die IG Metall versucht seit einem Jahr, mit hohem Aufwand und Erfolg Leiharbeiter zu organisieren. Und sie legt seit geraumer Zeit Wert auf die Feststellung, sie sei "nie nur Tarifmaschine", sondern "schon immer eine Wertegemeinschaft" gewesen, so jüngst Detlef Wetzel, der Zweite Vorsitzende.Es gibt also einzelne zukunftsträchtige Projekte. Und es gibt Suchbewegungen, bei denen sehr grob zwei Richtungen unterschieden werden können: Die Gewerkschaft versteht sich auch als soziale Bewegung, nimmt also auch Themen jenseits der klassischen Tarifpolitik (Löhne, Arbeitsplatz-Qualität, Weiterbildung) als wichtig wahr und versucht, je nach Projekt, immer wieder gesellschaftliche Koalitionen zu schmieden. Die andere Richtung will alle Energie auf die Arbeit in den Betrieben konzentrieren, um zuallererst dort stärker zu werden. Abzulesen ist daran vor allem eines: Die Kräfte scheinen so begrenzt, dass wohl nur das eine oder das andere zu gehen scheint.Wolfgang Storz war von 1998 bis 2000 beim Vorstand der IG Metall für die Printmedien verantwortlich und von 2002 bis 2006 Chefredakteur der Frankfurter Rundschau.
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