Zwischen Suppenküche und Gourmet-Cuisine

Zeitbomben des Sozialen Unfriedens Inge Kloepfers Buch "Die Rückkehr der Klassengesellschaft" ist verdienstvoll aber auch ärgerlich

Eine beachtliche Menge an Daten, Fakten und Einschätzungen hat Inge Kloepfer akribisch zusammengetragen und verarbeitet. Auf diesem festen Fundament verhandelt sie ein brennendes gesellschaftliches Problem kompetent und sehr lesbar. Ein Problem, das es eigentlich gar nicht gibt. Erinnern wir uns an jene bezeichnende Debatte, die im Oktober 2006 einsetzte: Die der Sozialdemokratie nahe stehende Friedrich-Ebert-Stiftung hatte eine Studie vorgelegt, in der es unter anderem um Aufstiegswillen und Aufstiegsmöglichkeiten von sozial Schwachen ging. Mit Bezug darauf sprach der damalige SPD-Parteivorsitzende Kurt Beck in einem Interview über jene Familien, welche die Hoffnung auf Aufstieg aufgegeben hätten: "Manche nennen es Unterschichten-Problem." Da war was los. Es hagelte Kritik. Die politische Klasse, allen voran übrigens Franz Müntefering, damals Bundesminister für Arbeit und Soziales, war sich einig: Das gibt es nicht. Müntefering meinte damals, dieser Begriff sei eine bloße Erfindung "weltfremder Soziologen". Eine der seltenen Chancen der Politik, sich mit einer Tiefenbohrung bis zur Wirklichkeit durchzuarbeiten, ausgerechnet eröffnet von diesem angeblich so engstirnigen und überforderten Provinzpolitiker Kurt Beck, wurde bewusst vertan.

Natürlich kehrt die alte, längst untergegangene Klassen-Gesellschaft mit denen da oben und uns da unten nicht wieder zurück. Jedoch entstehen neue Welten. Suppenküchen und Gourmet-Köche existieren wie selbstverständlich nebeneinander. Die ganz oben, die jederzeit eine anspruchsvolle Erwerbsarbeit haben könnten, leben ihr reiches Leben ganz gut ohne diese; die ganz unten, die auch die anspruchsloseste Erwerbsarbeit nähmen, um sich und ihre Familie durchzubringen, die kriegen meist keine. Was diese beiden Welten, oben die quantitativ kleine und unten die große, eint gegenüber allen anderen Schichten, die dazwischen liegen und ständig um ihre Inklusion kämpfen und die Exklusion fürchten: Die da unten und deren Kinder werden nie aufsteigen. Und die da oben und deren Kinder fallen nie herunter. Nach Jahrzehnten der Träume von der nivellierten Gesellschaft nun der Rückfall in soziale Klüfte.

So ist es verdienstvoll, dass Kloepfer sich diesem Thema widmet: Armut, die vererbt wird; ein Bildungssystem, das feudale Züge trägt; Aufstiegs-Chancen, die spürbar geringer werden; 3,4 Millionen Kinder, die bedürftig sind; Lebensumstände, in denen Kinder ihre Familien arm machen; eine gesellschaftliche Mitte, die sich vor dem Absturz ängstigt; ein Deutschland auf dem Weg in "eine neue Art von Klassengesellschaft".

Die Autorin wollte jedoch nicht nur analysieren, sie wollte das, was in diesen Unterschichten passiert, auch beschreiben. Und damit beginnt das Unglück. Anhand eines Fallbeispieles erzählt Kloepfersehr ausführlich auf sehr vielen Seiten aus dem Leben eines "Unterschichtenkindes"; Jascha, Vater verschwunden, Mutter Sozialhilfe, heute 31 Jahre alt, lebt in Berlin, die Biographie eines Menschen oder eine aus mehreren Schicksalen zusammengebastelte Unterschichten-Karriere, das erfährt der Leser zweifelsfrei nicht. Kloepfers These: Die Karrieren dieser Kinder seien "gemacht", weil Gesellschaft und Politik versäumten gegenzusteuern. Warum das jedoch so ist, warum Gesellschaft und Politik nicht gegensteuern, obwohl alles Wissen um die Zustände auf dem Tisch liegen, da bleibt die Autorin an der Oberfläche, das scheint eben so zu sein. Das ist schade, aber noch nicht ärgerlich.

Ärgerlich wird dieses Buch, weil Autorin und Verlag vermutlich der Meinung waren: Das ist zwar alles schön und gut, aber dieses Thema lässt sich, Jascha hin oder her, so wohl nicht vermarkten. Ob der Titel zuerst da war und dann das Buch folgte oder umgekehrt, der Leser merkt nach und nach, dass dieses Buch ein ganz anderes Groß-Thema mit sich herumschleppt: Die Gesellschaft, lautet der Subtext, ist in höchster Not und drei Gefahren ausgesetzt. Erstens: "Unser dramatisch alterndes Land" ist ohne diese jungen Menschen wirtschaftlich nicht mehr produktiv. Zweitens: Mit vielen Alten und vielen jugendlichen Losern kann diese Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung nicht bestehen. Drittens: Aufruhr droht, und die öffentliche Ordnung kann jederzeit zusammenbrechen. Und zwar wenn diese vielen jungen Loser losschlagen. Niemand weiß wann das sein wird. Aber wie solle man bloß, so Kloepfer, mit Blick auf das Jahr 2020, die sich öffentlich zusammenrottenden Jugendliche, "diese tickenden Zeitbomben des sozialen Unfriedens entschärfen"? Mit keinem Wort geht die Autorin darauf ein, was dafür sprechen könnte, dass die Unterschichten über kurz oder lang den kollektiven Aufstand wagen.

Jaschas Satz, "Du musst unberechenbar bleiben. Dann haben alle Angst vor Dir", wurde auch für marketingtauglich genug befunden, um das Buch zu bewerben. Freundlich gesagt: ein zutiefst merkwürdiges Sachbuch.

Inge Kloepfer Aufstand der Unterschicht - was auf uns zukommt, Hoffmann und Campe, Hamburg 2008; 320 S., 19,95 EUR

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