Allseits geschätzte Bremswerkzeuge

DIE EUROPÄISCHE UNION VOR DEM GIPFEL IN NIZZA Versuch einer Zwischenbilanz

"... wird dieser Vorschlag die ersten konkreten Etappen einer europäischen Föderation verwirklichen, die für eine Aufrechterhaltung des Friedens unentbehrlich ist." So steht es schon im Schumann-Plan von 1950. Als die Montan-Union ein Jahr später Wirklichkeit wurde, gingen diese Worte in den Vertragstext ein. Wohlgemerkt: Es war ein Politiker, kein Mann der Wirtschaft, der das Ziel einer Friedensordnung für Europa formulierte. Es handelte sich deshalb auch nicht um politikfernen Idealismus, industrielle Kernbereiche wie Kohle und Stahl als Antwort auf die Europa verwüstenden Weltkriege in den Dienst einer politischen Umorientierung zu stellen.

Kohle und Stahl sind längst keine industriellen Kernbereiche mehr. Aber die friedenspolitischen Zielsetzungen von 1950/51 sind aktueller denn je, seit Mauer und Eiserner Vorhang verschwanden und damit die Möglichkeit eingetreten ist, ganz Europa politisch in jenen Friedensraum zu verwandeln, den der Schumann-Plan einst ins Auge gefasst hat.

Ein ebenso charakteristisches wie bedenkliches Merkmal unserer Zeit ist es, dass man gegen deutlich artikulierte Widerstände daran erinnern muss - zu den Selbstverständlichkeiten der Friedlichen Revolution von 1989 gehörte die Überzeugung, diese Revolution werde verwirklichen, was die Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre noch als Utopie ausrufen musste: Das "Schwerter zu Pflugscharen" der biblischen Prophetie nach dem Kalten Krieg zu einem vorrangigen Ziel politischen Handelns werden zu lassen. Und war ein solches Ziel etwa das exklusive Proprium der auf ihren Beitritt zur Bundesrepublik zugehenden DDR? Im Gegenteil! Die allen damals politisch Verantwortlichen gemeinsame Überzeugung vom friedlichen Charakter der stattgefundenen Revolution und vom friedenspolitischen Ziel aller daraus erwachsenden Konsequenzen war es, die alle - besonders in Westeuropa - deutlich artikulierten Vorbehalte gegen die deutsche Vereinigung wegschmelzen ließ.

In diesem Sinne fasste auch die KSZE-Charta von Paris (November 1990) die europäische Perspektive in die feierlichen Worte, dass aus der Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Freiheit anbreche.

Es blieb der US-Administration und dem Vatikan vorbehalten, ohne dem Konsens über den Zusammenhang von KSZE-Prozess, Friedlicher Revolution und Überwindung der Spaltung Europas polemisch entgegenzutreten, in der eigenen Auffassung der Ereignisse von 1989 einer ganz anderen Spur zu folgen, der eingefahrenen des Kalten Krieges, auf der 1989 nicht als Frucht der 1975 eingegangenen Partnerschaft in Sachen Sicherheit und Menschenrechte, sondern als Sieg des einen der beiden Kontrahenten des Kalten Krieges zu sehen sei. Errungen worden sei dieser Sieg durch die mit der Wahl Karol Wojtylas 1978 in ein neues, akutes Stadium eingetretene Kooperation zwischen Vatikan und US-Administration innerhalb einer arbeitsteilig verfolgten Strategie zur Destruktion der Sowjetunion.

Wie aber wurde es möglich, dass diese Sicht der Dinge gegen einen so tief verwurzelten Konsens über das Ziel einer gesamteuropäischen Friedensordnung durchgesetzt werden konnte? Die Antwort ist nicht schwer zu finden. Es war die mit dem August-Putsch von 1991 beginnende Demontage der Autorität Gorbatschows. Keineswegs nur eine inner-sowjetische Angelegenheit! Kaum kursierte die Nachricht von der Entmachtung Gorbatschows, als auch die Kohl-Regierung - die bis dahin in ihm sozusagen den Garanten des deutschen Einigungsprozesses gesehen hatte - den Bedrängten fallen ließ, um von den Putschisten Botschaften entgegen zu nehmen.

Maastricht und der Superstaat

Was in diesem Zusammenhang regelmäßig vergessen wird, sind die Rückwirkungen dieser Kehrtwende auf den Westen. Mit dem Abtritt Gorbatschows verschwanden auch seine Gedanken aus dem politischen Diskurs. Statt Perestroika und Glasnost wurden Renationalisierung, Separatismus, ethnische Separation, ja Säuberung bis zum Genozid zur Losung des Tages - im schroffen Gegensatz zu Helsinki, im offenen Verrat an den Gedanken der Charta von Paris.

Man muss den Vertrag von Maastricht in diesem Kontext lesen, um zu sehen, wie auch er vom Geist der Renationalisierung geprägt ist, auch wenn die Traditionen der Europäischen Gemeinschaft, das Ziel der Integration und einer immer engeren Gemeinschaft der europäischen Völker durch die Einführung der Unionsbürgerschaft, die Ausweitung der legislativen Kompetenzen des Europäischen Parlamentes festgehalten worden sind.

Aber der auf diesem Boden geschlossene Kompromiss blieb durchaus widersprüchlich. Wie sollte die EU eine wirkliche Politische Union werden, wenn sie, Außen-, Sicherheits-, Justiz- und Innenpolitik nur im Rahmen inter-gouvernementaler Zusammenarbeit beließ und sich auf immer neue Proklamationen der Intensivierung dieser Zusammenarbeit beschränkte?

Die bekanntermaßen kläglichen Ergebnisse derselben könnten gar kein anschaulicheres Symbol finden als die Statistenrolle des Herrn Solana, der die angeblich mit einer Stimme sprechende Union auf die denkbar nichtssagendste Weise in der Außen- und Sicherheitspolitik vertritt. Eine der schädlichsten Auswirkungen dieses Zustandes, der mehr und mehr in eine Selbstblockade der EU zu führen beginnt, ist die Aufteilung von Unionspolitiken auf traditionelle Ressorts wie Außen- und Innenpolitik. Als ob es nicht gerade zu den Besonderheiten der Union gehörte, Außen und Innen in ein ganz neues, von den üblichen zwischenstaatlichen Beziehungen gänzlich abweichendes Verhältnis zu bringen. Das Festhalten an unanwendbar gewordenen Kategorien nährt überdies das Vorurteil aller Gegner der EU, bei ihr handele es sich um den gefürchteten Superstaat, der lediglich darauf hinauslaufe, nationalstaatliche Strukturen und Traditionen obsolet werden zu lassen, indem er sie von der einzelstaatlichen auf superstaatliche Ebene erhebt.

Allein aus der Fixierung auf dieses wirklichkeitsferne Denkmodell erklärt sich auch die ständig - zuletzt von Edmund Stoiber - erhobene Forderung einer klaren Scheidung der Kompetenzen zwischen einzelstaatlicher und Unionsebene. Als ob das nicht in einem Raum ohne Binnengrenzen längst geklärt wäre, wenn über die freie Bewegung von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen nur noch unionsweit entschieden werden kann, was durch die allerseits anerkannte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ständig neu bekräftigt wird.

Ganz anders in den beiden durch Maastricht geschaffenen Ressortsäulen, wo in der Tat die größten Unklarheiten herrschen, wie Schwerfälligkeit und fehlende Transparenz der Ratsverhandlungen ein ums andere Mal offenbaren. Hinzu kommt, dass die auf deutsche Initiative in den Maastricht-Text aufgenommene Subsidiaritätsklausel sich als ein ständig benutztes Bremswerkzeug erweist, das zusammen mit dem Einstimmigkeitserfordernis bei bestimmten Entscheidungen jederzeit zur Blockade genutzt werden kann. Bürdet es doch der Gemeinschaft die Beweislast für die Erforderlichkeit des Unionshandelns auf. Man braucht sich nur einmal in den juristischen Kommentaren zur Subsidiaritätsfrage umzuschauen und wird erschrecken, bis zu welchen Unübersteigbarkeiten sich die nach oben offene Liste der Erforderlichkeitskriterien ausbauen lässt.

Ein Schritt zur EU-Verfassung

Erst durch die 1999 eingeleitete erfolgreiche Arbeit an einer Grundrechts-Charta ist endlich eine Perspektive gefunden worden, wie dies durch eine politische Zielformulierung aufgebrochen werden kann. Das gilt sowohl für den Inhalt der Charta wie für das Verfahren ihrer Erarbeitung. Erstmalig seit den Anfängen der EWG wurde eine Grundrechts-Charta vorgelegt, die auf inzwischen herangereifte Probleme der Sozialpolitik unter den Bedingungen der Globalität, des Datenschutzes im Zeitalter der vollständigen Digitalisierung von Information, des Persönlichkeitsschutzes angesichts der Gentechnologie und der Verknappung ökologischer Ressourcen angemessene Antworten gibt.

Genauso wichtig aber war der Schritt, eine konstitutionelle Neuerung der Gemeinschaft nicht allein dem Tätigwerden des Europäischen Rates vorzubehalten, sondern das EU-Parlament und die Parlamente der Mitglieder angemessen zu beteiligen. Der deutsche Außenminister hat die Lage richtig erfasst, wenn er davon ausgeht, dass die Grundrechts-Charta die Frage nach dem Verfassungsrahmen der EU ganz neu stellt. Denn der mit der Existenz der EU-Organe gegebene institutionelle Rahmen muss zu einem einheitlichen rechtlichen Rahmen weiterentwickelt werden, wenn die Grundrechts-Charta nicht das Schicksal des vom Europäischen Parlament schon 1989 verabschiedeten Grundrechtstextes teilen soll, eine Resolution zu bleiben, deren Rang innerhalb des EU-Rechtes und der EU-Verfassung niemals geklärt wurde.

Es ist ein Signum der Situation seit Maastricht, dass die Verfassungsfrage der EU, kaum dass sie aufgeworfen wird, sofort ins Gefälle der Debatte um institutionelle Reformen gerät. Auch jetzt im Vorfeld des Gipfels von Nizza bestimmen die Fragen der Entnationalisierung der Kommission, der Beseitigung des Vetorechtes im Rat und einer die neu beitretenden Länder Mitteleuropas berücksichtigenden Stimmengewichtung wieder die Diskussion.

In jeder dieser Fragen stehen erhebliche nationale Prestige-Potenziale auf dem Spiel, die - wie man am Beispiel Dänemarks hat sehen können - sehr leicht gegen alle anstehenden Integrationsschritte mobilisiert werden. Es ist darum völlig gewiss, dass die aus dieser Situation erwachsenden Blockaden nur durch eine neue Zielgewissheit über den Weg der Union besiegt werden können, wie sie der Text der Grundrechts-Charta den Unionsbürgern und -bürgerinnen vorhält.

Der Vorschlag, im Entwurf der Grundrechts-Charta erste Schritte in Richtung auf eine Konstitutionalisierung der EU zu sehen, hat gegenüber anderen zur Zeit veröffentlichten Verfassungsentwürfen den Vorzug: Er nimmt das in den bis Amsterdam vorliegenden Verträgen enthaltene Primärrecht ernst als verfassungsrelevant. Denn der Inhalt der Politischen Union kann allein auf diesem Weg politisch und rechtlich präzisiert werden.

Für fast alle anderen Verfassungsentwürfe gilt, dass sie den verfassungsrechtlichen status quo entweder ganz ignorieren oder so tief in seine Substanz eingreifen, dass man nicht absehen kann, wie und durch wen so radikale Änderungen des Primärrechts der Europäischen Union durchgesetzt werden sollen.

Friedensordnung oder Renationalisierung

Einen anderen Weg hat Helmut Schmidt unter dem Titel einer "Selbstbehauptung Europas" ins Auge gefasst und kürzlich in Berlin der Öffentlichkeit unterbreitet. Für Schmidt ist die Abgrenzung nach außen die Hauptaufgabe für die Zukunft der EU. Er sieht vor sich ein Katastrophenszenario: Eine Migrantenflut gilt es abzuwehren, die von Bevölkerungswachstum, Klimaverschlechterung und Naturkatastrophen in Bewegung gebracht wird. Aber lässt nicht auch das Schmidtsche Programm einmal mehr den außenpolitisch starken Einzelstaat als das programmatische Paradigma durchblicken?

Folgt man der Grundrechts-Charta, so tritt die institutionelle Reform zurück hinter der Frage nach der politisch-rechtlichen Substanz der EU. Und kann die Antwort etwas anderes sein als die eingangs in Erinnerung gerufene Friedensordnung? Der Vertrag von Amsterdam hat eine wichtige Korrektur vorgenommen, indem er die EU als "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes" definiert hat. Damit hat er die Raumstruktur gegenüber der Drei-Säulen-Architektur von Maastricht zum Verfassungsprinzip erhoben. Mit einem Fehler: Blickt man auf die 1950 angestrebte europäische Friedensordnung, dann muss von einem Raum des Friedens, statt von einem Raum der Sicherheit die Rede sein. Die Ursprungsidee der europäischen Integration, dass allein eine Friedensordnung gegeneinander kriegsunfähigen Völkern Sicherheit gewährleistet, darf nicht dem Sicherheitsdenken der Renationalisierung preisgegeben werden!

Für die Verfassung der EU würde das zur Folge haben, dass in die Substanz der geltenden Verträge weit weniger eingegriffen werden müsste, als andere Vorschläge das verlangen, zumal der Maastrichtvertrag die Charta von Paris ausdrücklich zu seinen Voraussetzungen zählt. Eine Zusammenarbeit mit der NATO wäre keineswegs ausgeschlossen. Freilich wäre sie in jedem Fall an die Rechtsgrundlagen dieses Friedensraumes gebunden, wohingegen der anachronistische Versuch, die 1954 gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft wiederzubeleben, hinfällig würde.

Auch zwei weitere Veränderungen wären durchaus kompatibel mit der derzeitigen Rechtssituation: die Umwandlung des Rates in eine mit Mehrheit beschließende Staatenkammer und die längst fällige Übertragung der Rechtspersönlicheit von den einzelnen Gemeinschaften auf die EU selbst. Aber wie weit selbst die EU-Politiker noch von einem hinlänglichen Verständnis des Wesens der neuen politischen Struktur der EU entfernt sind, zeigt der Versuch des CSU-Abgeordneten Friedrich, den Text der Charta durch Mobilisierung der Kirchen im Sinne des deutschen Staatskirchenrechts abzuwandeln. Ein Vorhaben, das auf so heftigen Widerstand stieß, dass die Verabschiedung der Charta auf dem Spiel stand. Dieser Versuch musste scheitern. Aber dass er überhaupt unternommen wurde, zeigt: Es gibt noch immer, auch unter Politikern, Leute, die in den Begriffen einer Vergangenheit von vor 1989, ja vor 1945, denken. Zukunftsfähige Politik kann nur noch in jenem Friedensraum stattfinden, zu dessen Ausgestaltung die EU einst gegründet wurde und die als ein politisches Gebilde in die geschichtliche Wirklichkeit getreten ist, dessen Entstehung auch die Kämpfe zwischen Staat und Kirche hinter sich gelassen hat, denen jene europäischen Nationen entstammen, die mittlerweile in ganz neue Dimensionen politischen Handelns eingetreten sind.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden