Ausrufezeichen

Auszug aus der Rede von Wolfgang Ullmann

Ich sehe in Bündnis 90/Die Grünen heute mehr denn je jene Partei, der ich als einziger das selbstkritische Augenmaß zutraue, das nötig ist, um jene Selbstbeschränkung der Parteienmacht und Parteienhegemonie herbeizuführen, in der der Staat nicht zum Erbhof der Parteien und ihrer Personalpolitik deformiert wird.

Der Name Bündnis 90/Die Grünen war und ist ein Programm, und er sollte es auch bleiben: er umschreibt die Absicht, durch eine Art Brückenkopf mit den Bürgerbewegungen verbunden zu bleiben. Zur Zeit freilich ist das ein totes Gleis, eine Linie, auf der sich nichts bewegt. Sehr bedauerlich, wie ich unterstreichen möchte. Denn welche Fülle von Aktivitäten gibt es bei den Bürgerbewegungen! Die bekannten Initiativen für »Mehr Demokratie«, die auf das Grundgesetzjubiläum bezogene Initiative »Die Bürgergesellschaft lebt!« Wo gibt es für solche Ansätze öffentliche Unterstützung von Seiten Bündnis 90/Die Grünen, außer daß einige von uns auf Unterschriftenlisten stehen?

Es sind diese Bürgerbewegungen, bei denen die akutelle Diskussion über ein Recht auf Arbeit stattfindet.

Es sind die Bürgerbewegungen, die über eine Reform des Eigentumsrechtes diskutieren und dies mit dem Blick auf die ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Länder. Unterbleibt diese Reform, drohen diesen Ländern bei einer Osterweiterung der EU noch drastischere Enteignungen, als die, die in der ehemaligen DDR während des Einigungsprozesses und nach ihm stattgefunden haben. Dabei erwarten diese Länder gerade von der Europäischen Union Schutz gegen solche Eigentumstransfers, deren verheerende Folgen in Rußland offen zutageliegen!

Diese Dringlichkeit führt mich auf mein letztes, aber sozusagen dreifach unterstrichenes Ausrufungszeichen.

Was tun die lieben Bündnisgrünen angesichts solcher Dringlichkeiten? Sie sitzen einmal wieder zu Hause und haben Strukturprobleme. Allen Ernstes - Strukturprobleme! Ja - ist denn wirklich jemand hier im Saal, der ernsthaft glaubt, die Hessenwahl sei verlorengegangen, weil wir zwei Bundessprecherinnen haben? Diese üble Nachrede haben die beiden wirklich nicht verdient!

Für uns als Bündnis 90/Die Grünen wären solche Anpassungen an die Parteiennormalität der sicherste Weg, uns überflüssig zu machen!

Was aber steht denn auf unserer Tagesordnung, wenn es nicht die Strukturreform ist? Klare Antwort: Das Regieren lernen! Was das Regieren anbelangt, so können wir uns nicht auf ein Naturtalent wie Joschka Fischer verlassen. Wir alle müssen uns klarmachen, wir sind eine Regierungspartei - auch wenn wir in einer Bundes- oder Landesdelegiertenkonferenz oder auch auf irgendeiner Oppositionsbank eines Länderparlamentes sitzen.

Und was ist der erste Schritt zum Regieren lernen? Die Einsicht, daß es höchste Zeit ist, die nicht nur veralteten, sondern mittlerweile versteinerten Zöpfe der Fundi-Realo, Funda-Reala-Alternative abzuschneiden. Sie abzuschneiden durch die Einsicht, daß diese Alternative irgendwann einmal eine historische Berechtigung gehabt haben mag, aber für das Regieren schlechterdings absurd ist.

Wer regiert, muß immer beides zugleich sein. Er oder sie muß Prinzipien haben, etwas wollen. Aber er oder sie muß auch wissen, was er oder sie will. Und er oder sie muß drittens wissen, daß, was er oder sie durchsetzen will, durchgesetzt werden muß in einem Milieu, in dem es ganz andere Willen und entgegengesetzte Interessen gibt.

Viele stellen sich das Regieren immer noch so vor: Grüne Politik besteht darin, daß wir, auf einem Ministersessel sitzend, klein und fein wie wir sind, zu Dingen, mit denen wir uns nicht weiter befassen, aus unserem grünen Wunschzettelkasten den grünen Punkt hinzufügen. Was in der Praxis dabei herauskommt, wißt Ihr alle. Man leistet Widerstand gegen irgendwelche Projekte, solange, bis diese Verhinderungsstrategien sinnlos geworden sind, weil das Projekt längst steht. So etwas kostet Stimmen.

Darum endlich heraus aus den kommoden Nischen der Daueropposition und hinaus aufs freie Feld der Einsicht, daß Regieren nicht heißt »grüne Politik« betreiben, grüne Punkte auf etwas anderes draufkleben, sondern von grünen Prinzipien aus eine Politik für alle, die Roten oder Knallroten, die Schwarzen oder Tiefschwarzen, die Gelben oder Weißblauen betreiben und dabei unter Beweis stellen, daß diese Prinzipien nicht nur allen nützen, sondern unentbehrlich sind.

Regieren heißt freilich auch klarzustellen, was mit uns keineswegs geht und nicht von uns akzeptiert wird. Dazu gehören alle Versuche, Joschka Fischer gegen Jürgen Trittin oder Jürgen Trittin gegen Joschka Fischer auszuspielen, auch wenn es bedauerlicher Weise der Bundeskanzler selbst ist, der solches versucht ...

Regieren heißt für Bündnis 90/Die Grünen, für einen Friedensraum Europa und eine kernwafffenfreie Europäische Union eintreten, einen Friedensraum, dessen Außengrenzen durch ein angemessenes Einwanderungsrecht und die Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger geschützt sind. Diesen Friedensraum ohne Massenvernichtungswaffen werden wir nicht gegen die Atommächte Frankreich und Großbritannien und schon gar nicht gegen die USA, sondern allenfalls mit ihnen durchsetzen können.

Regieren heißt für Bündnis 90/Die Grünen für eine Revision der europäischen Agenda eintreten, wie sie im Delors-Weißbuch von 1993 niedergelegt ist. Da heißt die Liste der Prioritäten Informationstechnologie-Biotechnologie-Ökotechnologie umzukehren. Unser Bestreben muß sein, die Ökotechnologie auf den ersten und die Informationstechnologie auf den dritten Platz zu bringen.

Regieren heißt für Bündnis 90/Die Grünen schließlich die Meinungsführerschaft in Sachen Verfassung, die wir 1990 bis 1993 hatten, zurückzugewinnen, diesmal im Blick auf die Zukunft der Europäischen Union. Ich sehe niemanden außer uns, der bereit wäre, eine klare Antwort auf die Frage der Weiterentwicklung der Politischen Union nach Maastricht und nach Amsterdam zu geben.

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