Schon der Anfang dieser Geschichte, die jede Eignung besitzt eine unendliche zu sein, war eine krasse Verkehrtheit. Während der Untersuchungsausschuss des Bundestages tätig war, der in der vorletzten Legislaturperiode die Hintergründe der Parteispendenaffäre durchleuchten und dies nicht zuletzt unter dem irrigen Auftrag tun sollte, ob und welche Schmiergelder die Politik der Bundesregierung während des deutschen Vereinigungsprozesses beeinflusst haben könnten, kam ein Schlaumeier auf die Idee: Man sollte gegen den hartnäckig schweigenden Helmut Kohl den Paragrafen 22 des Stasi-Unterlagengesetzes mobilisieren, der die Nutzung von Stasi-Unterlagen für die Zwecke parlamentarischer Untersuchungsausschüsse regelt.
Ein in mehreren Hinsichten abwegiger Gedanke. Denn das System der Parteispenden und schwarzen Kassen war nun einmal eine rein bundesdeutsche Angelegenheit. Man konnte es nicht völlig ausschließen - aber dass Helmut Kohl mit seinen Ostberliner Kollegen diese heißen Themen am Telefon behandelt haben sollte, das konnte ihm nur jemand zutrauen, der die Ost-West-Beziehungen völlig falsch einschätzte.
Man weiß es doch: die innerdeutschen Geld-Transfers liefen vor allem über kirchliche Kanäle. Also musste in den Akten der EKD-Vertretung in der Bonner Fritz-Erler-Straße oder den Dienststellen des Diakonischen Werkes und der Caritas recherchieren, wer Genaueres erfahren wollte.
Der Schalck-Golodkowski-Untersuchungsausschuss des Bundestages hatte das bereits ohne allzu viel Erfolg versucht. Der Chef der Behörde, die den nur zu treffenden Namen "Kommerzielle Koordinierung" trug, saß dem Ausschuss in einer geradezu humoristisch wirkenden Sicherheit gegenüber. Warum wohl? Weil er genau wusste, weshalb er nicht nach Moskau wie sein unglücklicher Chef, sondern nach Stuttgart geflohen war. Wohl wissend, dass seine dortigen Geschäftsfreunde ihm am besten helfen konnten, die es denn auch prompt taten.
So konnte auch Kohl mit seinen Klagen wegen einer Verletzung der Privatsphäre den Parteispenden-Ausschuss des Bundestages in seiner falschen Fährte immer nur bestätigen. Dass der Ex-Kanzler wegen der Stasi-Abhörprotokolle einen "Opfer"-Status in Anspruch nahm und damit einen, den das Gesetz gerade nicht kennt, das nur von "Betroffenen" spricht, war - abgesehen von dieser juristischen Ungenauigkeit - vor dem Hintergrund der von ständiger akribischer Überwachung geprägten heutigen Gesellschaft geradezu lächerlich.
Das Stasi-Unterlagengesetz sieht in einer flächendeckenden Abhörung keinen "Opfer"-Status. "Betroffener" hingegen ist man laut Paragraf 6 Abs. 3 "durch Eingriffe wie die Operative Personenkontrolle" oder einen "Operativen Vorgang", das heißt einen gezielten Eingriff in die Privatsphäre. Dass es das sogar einem Bundeskanzler gegenüber geben konnte, zeigt das Beispiel von Willy Brandt, für das selbst Markus Wolf meinte, sich persönlich entschuldigen zu müssen.
Dass für Kohl aber schon die alltägliche Abhörpraxis Probleme aufwirft, erklärt sich bereits aus dem Quantum der Protokolle. Kann jemand, dessen Gespräche mit der DDR Tausende von Seiten gefüllt haben, die SPD wegen ihrer einstigen Neuen Ostpolitik, die sie im vollen Licht der Öffentlichkeit verfolgt hat, noch des Verrats an der deutschen Einheit anklagen? Oder ihr die ebenso öffentlich geführten Debatten über das SPD-SED-Papier von 1987 zum Vorwurf machen? Als Minister der Modrow-Regierung hatte ich noch Gelegenheit, das Auslaufen dieser Beziehungsgeschichte in der Kameraderie von SED-Kollegen mit den Bonner Kollegen zu bestaunen, ebenso wie den Unterschied von Kohls diplomatischen Freundlichkeiten gegenüber Egon Krenz im Gegensatz zu der ostentativen Geringschätzung für Hans Modrow.
Wenn man sich die Fragen stellt, auf die durchaus Antworten in den Stasi-Protokollen stehen könnten, dann sind Kohls Blockaden nur zu verständlich. Zuerst die für den deutschen Vereinigungsprozess so entscheidende Frage: Seit wann wusste die Bundesregierung von der Einigung zwischen amerikanischer und sowjetischer Administration, dass die DDR als zu schwere Last für den Ostblock freigegeben werden müsse?
Man erinnert sich: Das Drängen auf schnellstmögliche Vereinigung wurde seit Januar 1990 von der Bundesregierung immer wieder mit der Enge des so genannten "Zeitfensters" begründet, das für die Vereinigung offen stehe. Es könne sich jederzeit durch einen Macht- oder Politikwechsel in Moskau wieder schließen, hieß es. Wusste die Bundesregierung aber bereits Anfang 1990 vom Grundsatzbeschluss der Supermächte, dann waren die zitierten Andeutungen nichts als bloße Vorwände für jene Beschleunigungspolitik, deren klarster Ausdruck die von einer Koalition aus SPD, CDU und SED-PDS durchgesetzte Vorverlegung des Termins für die ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer war. Die fanden am 18. März 1990 statt, obwohl sich der Runde Tisch auf den 6. Mai verständigt hatte. Ich vermute, das Märchen vom drohenden Politikwechsel in Moskau wird inzwischen von niemandem mehr geglaubt. Um so wichtiger wäre eine endgültige Klarstellung, um ein nüchternes Bild des deutschen Vereinigungsprozesses zu gewinnen.
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist eine ganz persönliche. Als ich am 1. März 1990 auf einer Pressekonferenz das erste Treuhandgesetz der DDR-Regierung der Öffentlichkeit vorstellte, fragte mich ein Journalist der Bild-Zeitung, was ich denn meinte, wenn die Währungsunion bereits am 1. Juli 1990 vollendet sei. Ich habe eine sehr vage und ausweichende Antwort gegeben. Denn mir war klar: Der Mann verfügt über mir unbekannte Informationen. Der Zeitplan der Währungsunion stand also bereits am 1. März 1990 fest und war in Bonn erarbeitet worden. Wozu also die turbulenten und umständlichen Verhandlungen in der Volkskammer, die erst am 18. Mai mit der Zustimmung zu dem Bonner Gesetz und seinem Zeitplan abgeschlossen wurden?
Ich will noch auf zwei Fragen kommen, die den Beginn des Vereinigungsprozesses betreffen, ihn aber im Ganzen präjudiziert haben. Die erste betrifft die Mauereröffnung. Der patriotische Mythos behauptet, es sei das an der Bornholmer Straße in Berlin drängende Volk gewesen, das die Öffnung erzwungen habe. Günter Schabowski habe dies in jener berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989 - sozusagen aus Versehen - ausgelöst und legitimiert. Das Merkwürdigste an diesem Komplex von Ereignissen aber ist die Tatsache, dass der in Polen weilende Helmut Kohl rechtzeitig in Berlin eintraf, um mit seinen Kollegen zwar auf nicht sehr harmonische, aber sicher gut gemeinte Weise in das Deutschlandlied einstimmen zu können.
Die Frage ist doch: Hat es vorher mit Egon Krenz eine Abstimmung dergestalt gegeben, dass die Maueröffnung so stattfand, dass Kohl aus Polen zurück sein konnte, kurze Zeit, nachdem sie stattgefunden hatte? Sollte diese Frage mit Ja beantwortet werden müssen, dann ist sie gewissermaßen der Höhepunkt jener gesamtdeutschen Vernetzung, die Tausende von Seiten der Abhörprotokolle bezeugen. Denn was die Gerüchte über den vorgeblichen Politikwechsel in Moskau nur nahe legen und unterstützen konnten, das bewirkte die Maueröffnung wirklich: einen Prozess in Gang zu setzen, der seiner eigenen Dynamik folgte.
Die zweite Frage bezieht sich auf den Umgang mit DDR-Volkseigentum und auf die Rolle des ehemaligen DDR-Staatssekretärs Alexander Schalck-Golodkowski. Wie kam es, dass er dem Untersuchungsausschuss des Bundestages genau so fröhlich gegenübersaß wie allen Gerichten, vor denen er zu erscheinen hatte. "Ick bin bloß een janz kleenes Würstchen, das ein paar Kalaschnikows zu verkaufen hatte!" Originalton Schalck-Golodkowski, besonders witzig im Munde eines Zwei-Meter-Mannes.
Stellt sich nicht die Frage: Gab es Absprachen zwischen der Bundesregierung, dem Bundesnachrichtendienst und Alexander Schalck-Golodkowski, die ihm einen Status der Indemnität - der völligen Straflosigkeit - erteilten, so dass er keinen Untersuchungsausschuss und kein Gericht mehr zu fürchten brauchte? Welches war der Anteil von Helmut Kohl an derartigen Regelungen?
Ich bin mir ganz sicher, dass diese Fragen eines Tages auf Grund des jetzt schon vorliegenden Quellenbestandes beantwortet werden. Helmut Kohl wird es nicht verhindern. Sein Versuch, sich als armer verfolgter Privatmann aus der Affäre zu ziehen, wird ihm auf der ganzen Linie misslingen.
Darum halte ich den Vorschlag der nochmaligen Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes für keine gute Idee. Sie bestärkt mich eher in meiner Reserve schon gegenüber der Novellierung von 2002. Was ist herausgekommen? Die Auslegungskunststücke der Leipziger Richter, die denselben Publizisten anderen Maßstäben unterwerfen wollen, wenn er für die Frankfurter Allgemeine oder die Süddeutsche Zeitung schreibt, wieder anderen, wenn der Text für die Juristenzeitung bestimmt ist. Was für ein Verständnis von Öffentlichkeit und Pressefreiheit kommt hier zu Tage!
Die Bundesbehörde sollte dieses Mal das Gesetz, auf dessen Grundlage sie arbeitet, mit mehr Wucht verteidigen als das erste Mal. Denn so steht doch die Partie: Kann die Parteiendemokratie des Westens die Transparenzforderungen der Friedlichen Revolution des Stasi-Unterlagengesetzes aushalten oder nicht? Der Bundestag von 1991 bejahte diese Frage: Will die deutsche Rechtsprechung dieses Ja zurücknehmen?
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