Als der damalige Bundespräsident von Weizsäcker 1992 in einem aufsehenerregenden ZEIT-Interview entschiedene Parteienkritik verlauten ließ, reagierten gerade seine eigenen Parteifreunde einschließlich des Bundeskanzlers verärgert, ja sogar beleidigt. Aber trotz aller Parteien apologetik und bemühter Defensive gab man Weizsäcker darin recht: Ein durchschnittlicher Anteil von 30 Prozent Nichtbeteiligung an Wahlen sei besorgniserregend.
Was aber soll man dann von einer Situation wie der heutigen sagen, in der es als beruhigend angesehen wird, wenn die Zahlen der Nichtwähler wenigstens nicht über 50 Prozent liegen? Am Anfang der neunziger Jahre war es üblich, von Politik- oder Politikerverdrossenheit zu sprechen. Inzwischen kann sich niemand mehr der Tatsache verschließen, dass wir es mit einer ernsten Krise der Parteiendemokratie zu tun haben.
Dieses Szenarium bestätigt eine Grund überzeugung, die im Herbst 1989 einen Teil der DDR-Opposition dazu führte, nicht Parteien, sondern Bürgerbewegungen als Instrumente politischer Willensbildung und Willensartikulation zu gründen. Diejenigen, die sich für diesen Weg entschieden, sahen im Zusammenbrechen der SED-Herrschaft nicht nur die Handlungsunfähigkeit einer Partei, die von sich behauptet hatte, sie sei die Partei der Arbeiter und Bauern und somit die einer Mehrheit der Bevölkerung. Vielmehr waren sie der Meinung, die Entstehung der SED-Diktatur schon sei auf ein Versagen aller jener Parteien zurückzuführen, die - trotz des tapferen Widerstandes Einzelner, der nie vergessen werden sollte! - sich mit der Mehrheit ihrer Mitglieder und Führungsgremien doch bereitfanden, dem Block der Nationalen Front beizutreten und damit dessen anti demokratische Herrschaft mitzutragen und mitzuverantworten. Wenn etwas Wahres an dem angeblichen Ausspruch Ulbrichts sein sollte: "Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alle Fäden in der Hand haben", dann waren es gerade die Nicht-SED-Parteien der Nationalen Front, die der SED den Dienst leisteten, deren Diktatur eine demokratische Kostümierung zu verleihen.
Trotz der tragfähigen und angemessenen Festlegungen im Grundgesetz kam es schon seit der Mitte der siebziger Jahre zu jener Debatte über "Unregierbarkeit", an der sich, als eine Art Vorspiel der heutigen Krisensyndrome, erste Zweifel am Funktionieren des parteienbeherrschten Verbändestaates melden. Wie sehr sich das Bild seitdem gewandelt hat, ist nicht zuletzt an einem charakteristischen Terminologiewechsel erkennbar. Der ohnehin immer schon fragwürdige Begriff der "Volksparteien" - ist die Tendenz zur Einparteienherrschaft und der hochbedenkliche Anklang an "Volksgemeinschaft" je überhörbar gewesen? - wird ersetzt durch die unbegrenzt deutbare Kategorie der "Mitte", in dem die Großparteien ihren Herrschaftsanspruch anmelden, der jede andere politische Position als die ihre an die Peripherie und darum in die politische Irrelevanz verweisen soll.
Die gänzliche Inhaltsleere dieses Begriffes der Mitte und demzufolge das ihm innewohnende politische Orientierungsdefizit ist soeben der SPD zum nur zu verdienten Verhängnis geworden. Aber man darf das nicht sagen, ohne sofort hinzuzufügen, auch bei den Bündnisgrünen gibt es genügend Leute, die sich eifrig an der Selbstinszenierung der politischen Bedeutungslosigkeit auf dem Weg ins alleinseligmachende Reich der Mitte beteiligen!
Zwei Fakten haben das Parteiengefüge von Grund auf verändert: die mit den Grünen eingetretene Politisierung der ökologischen Frage und die mit der postkommunistischen Bürgerbewegung auf die Tagesordnung gesetzte Aufgabe einer Demokratisierung der nationalstaatlich parzellierten Gesellschaft.
Längst vor Beginn der Debatten über die Globalisierung der Wirtschaft und der Märkte war mit der politischen Thematisierung der Ökologie eine Aufgabe von globalen Dimensionen gestellt worden. Also war es zwangsläufig, dass die Grünen mit dieser Aufgabenstellung ein für allemal den nationalen Horizont traditioneller Parteipolitik nicht nur verlassen hatten, sondern auch in einen scharfen Gegensatz zu ihm getreten waren. Verfolgt man die bei den Bündnisgrünen in den letzten Wochen und Monaten geführten Strukturdebatten, so gewinnt man den Eindruck, sie wollen alles tun, um diese mit ihrem Programm notwendig gegebenen Spannungen und Gegensätze endlich loszuwerden.
Wer globale Aufgaben im Rahmen einer nationalstaatlich verfassten Partei thematisiert, übernimmt die Beweislast dafür, dass er von diesem Ausgangspunkt neue Antworten auf die Fragen der innerstaatlichen Politik zu geben vermag. Die Grünen haben das in Bezug auf Energie- und Steuerpolitik auch wirklich getan. Aber sie haben es bisher fast völlig versäumt, daraus die Konsequenz zu ziehen, dass diese Antworten lediglich Teilantworten aus dem Vorfeld einer kulturellen Transformation sind, in der Trennung von Ökonomie und Ökologie Barbarei und der Anthropozentrismus der globalen Ausbeutung der Kern aller demokratiefeindlichen Diktatur ist. Wann endlich werden die Grünen Konzepte vorlegen, aus denen hervorgeht, welches die ersten Schritte zu Pilotprojekten einer Bildungs- und Kulturpolitik sein sollen, die lebensnotwendigen Umorientierungen entsprechen?
Und um das volle Gewicht der Beweislast, die die Grünen hier tragen, kenntlich zu machen: Sie haben auf einzelstaatlicher Ebene dafür einzustehen, dass in der globalen Dimension die Gewaltenteilung zwischen Wirtschaft, Recht und Kulturenkommunikation überhaupt erst einmal eingeführt wird. Allein durch eine solche Gewaltenteilung auf globaler Ebene können Missbräuche wie die Aushebelung nationaler Steuer- und Sozialrechte, die Patentierung natürlicher Ressourcen, die Vermarktung und Vernichtung ganzer Biotope und Infrastrukturen durch die globale Transport- und Tourismusindustrie unterbunden werden. Die Proteste gegen derartige Vorhaben kann man sich nicht laut genug vorstellen. Aber wer sie scheut, sollte dem politischen Geschäft besser fernbleiben!
Mit dem anderen Namen- und Programmbestandteil "Bündnis 90" steht es ähnlich. Die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989, auf deren Initiatoren zur Zeit allerorten elegische Grabreden als liebenswerte Utopisten gehalten werden, verstanden und verstehen sich nach wie vor als Aktivisten einer zivilgesellschaftlichen Demokratie, in welcher der öffentliche Diskurs samt der aus ihm folgenden Willensbildung, nicht von Parteien beherrscht, sondern von ihnen begleitet, aufgenommen und in die kompetenten Institutionen übertragen wird. Kein Wunder, dass die Apologeten der Parteienherrschaft gegen Bürgergesellschaft und Runden Tisch polemische Ausfälle richten. Jene nennen sie "ominös", diesen setzen sie herab als vorparlamentarische Improvisation.
Diese Polemik ist insofern verständlich, als alle Dokumente des Zentralen Runden Tisches von 1989/90 zeigen, dass es den Bürgerbewegungen um nichts Geringeres ging als eine neue Ortsbestimmung des Politischen überhaupt in einer von Diktatur und Repression befreiten Zivilgesellschaft. Ein Vorhaben, das sich insofern auch an die westliche, liberalistisch-kapitalistische Gesellschaft und deren Marktwirtschaft richtete, als es die vielfach vor- und antidemokratischen Züge derselben benannte und in Reformkonzepte einbezog. Konzepte, die freilich deswegen auf Ablehnung von verschiedensten Seiten stießen, weil sie gegen westliche Erwartungen nicht darauf hinausliefen, den Klassenkampf durch den Geschlechterkampf, den sozialistischen durch den kapitalistischen Eigentumszentralismus zu ersetzen oder die verfassunggebende Gewalt der Bürgerschaft auf ihre stimmabgebende zu reduzieren.
Aber waren sich die Grünen im klaren, dass sie sich bei der Fusion mit Bündnis 90 auf ein Konzept einließen, das ihren Strömungstraditionen schnurstracks zuwiderlief, weil es den Fundamentalismus aller Spielarten - nicht nur den rechten! - überholte durch ein Demokratiekonzept, das auf die Macht des Rechtes orientiert ist und darum der politischen Machtfrage den zweiten Rang zuweisen muss? Vieles spricht dafür, dass sie sich darüber nicht im klaren waren oder es immer noch nicht sind.
Dann aber wird es höchste Zeit, dass sie sich darüber klarwerden. Weder sind sie die Anti-Parteien-Partei, die sie gern einmal sein wollten, noch eine Partei wie andere auch. Das letztere sein zu wollen, ist ein Konzept der politischen Selbstliquidation, das schneller Erfolg haben könnte, als mancher und manche glaubt. Nein, sie sind die Zivilgesellschaft- und Bürgerrechtspartei, weil sie die Bürgerbewegungspartei sind, die Partei der Wende von der Kultur der Technokratie zu der der Ökologie und der Befriedung des Verhältnisses von Mensch und Schöpfung.
Bürgerbewegungspartei sein, das heißt nicht Befehlsempfänger und Kurier der Bürgerbewegungen, aber Ansprechpartner, Kontaktstelle und Katalysator des außerinstitutionellen und spontanen Diskurses zu sein. Darum können Bündnis 90/Die Grünen weder Greenpeace noch Amnesty International oder ein Komitee für Grundrechte ersetzen. Aber warum sollten sie nicht deren politische Anwälte und Ombudsorganisation sein? Wie anders wäre die Debatte um den Kosovo-Konflikt verlaufen, wenn an die Stelle laut starker Beschimpfungen und Selbstrechtfertigungen eine Kommunikation getreten wäre, die auch den Dissens als einen Aspekt politischer Mündigkeit hätte akzeptieren können!
Es ist dies ein Argument mehr für die Doppelspitze einer politischen Gruppierung, in der nicht nur die Geschlechterparität unaufgebbares Strukturprinzip ist, sondern die, weil sie gerade kein parlamentarisches oder exekutives Entscheidungsorgan, sondern eines der demokratischen Meinungsbildung ist, jederzeit auch fähig sein muss, einen unauflösbaren Dissens abbilden und repräsentieren zu können, also genau das zu tun, was die Bekämpfer der Doppelspitze zu verhindern versuchen.
Um so einmütiger und entschiedener sollte eine parteienkritische, aber nicht parteienfeindliche Bürgerbewegungspartei in ihrem Engagement für eine Selbstbegrenzung der Parteienmacht sein. Die Parteienherrschaft, die den Staat zum Erbhof von sich gegenseitig die Pfründe zuschanzenden Großparteien macht, muss beendet werden, wenn die Demokratie nicht weiter geschädigt werden und verfallen soll.
Einer Änderung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen bedürfte es dazu nicht. Wohl aber müsste die leider auch in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes eingedrungene Lehre vom Parteienstaat und von Parteien als Quasi-Verfassungsorganen dadurch der Boden entzogen werden, dass der Paragraph 1 des Parteiengesetzes von 1967, der den Parteien eine Einflussnahme "auf alle Gebiete des politischen Lebens" einräumt, ihnen die Aufgabe der politischen Bildung überträgt und sie sogar im Widerspruch zur Forderung der Gewaltenteilung verpflichtet, auf Parlament und Regierung einzuwirken, ersatzlos gestrichen wird. Wenn andere Verteidiger unserer Demokratie dazu nicht bereit oder willens sind, wird Bündnis 90/Die Grünen die Kraft aufbringen, sich zu diesem im Interesse der Demokratie unaufschiebbaren Schritt aufzuraffen?
Bisherige Beiträge:
Ausgabe 43: Parlamentarier
Ausgabe 43: Schön, wenn Kapitalparteien "erschöpft" wären
Ausgabe 44: Locker bleiben!
Ausgabe 46: Des Parteiengesetzes streichen Bündnis 90/Die Grünen
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