Wer kennt nicht Günter Schabowski? Selbst ich kenne ihn, obwohl ich nie in jenem Politbüro gesessen habe, das, wie man inzwischen weiß, die Zustände in dem von ihm regiertem Land so schlecht kannte, daß es von den Todesschüssen an der Mauer keinerlei Ahnung hatte.
Diese Todesschüsse waren es, die mir die Gelegenheit verschafften, Günter Schabowski persönlich bei einer Podiumsdiskussion kennenzulernen. Die Kaltblütigkeit, mit der er in dieser Diskussion versicherte, eben erst aus dem Munde von Herrn Ullmann etwas über die Existenz eines Schießbefehles für die Staatsgrenze der DDR erfahren zu haben, diese Kaltblütigkeit hatte selbst für mich, der ich ja als gelernter DDR-Bürger einiges an Behördenkaltblütigkeit gewöhnt war, etwas Verblüffendes.
Wie kommt es nur, dass ausgerechnet dieses kaltblütige und in geschickter Selbstdarstellung nur zu geübte Politbüromitglied in die Geschichte eingegangen ist als der Schusselhans, der mittels eines zerknüllten Notizzettels aus Versehen am Abend des 9. November die Mauer geöffnet hat, ganz so wie es die weniger zerstreuten Ungarn mit ihrem Grenz zaun schon im August getan hatten?
Fragen über Fragen! Warum wurde die Grenze zuerst ausgerechnet an der Bornholmer Straße, weit entfernt vom Stadtzentrum, geöffnet? Ganz zu schweigen von der spannendsten aller Fragen zum 9. November: Wie stand Egon Krenz, der sich ja wieder und wieder als der eigentliche Garant der Friedlichkeit der Herbstrevolution präsentiert, zur Öffnung der Mauer? Hat er, der das Telefonieren mit Helmut Kohl für einen der wichtigsten Akte am Beginn seiner Regierungs tätigkeit hielt, vor der Maueröffnung Kontakt mit dem Bundeskanzleramt gehabt, etwa über den in der ersten Novemberwoche in Bonn aus- und eingehenden Dr. Schalck-Golodkowski? Musste nicht sichergestellt werden, dass der in Polen weilende Bundeskanzler rechtzeitig zu dem freudigen Ereignis auf Berliner Boden eintreffen konnte?
Angesichts der augenblicklichen Aktenlage werden diese Fragen offenbleiben müssen. Was aber nach zehn Jahren einer abermaligen Überlegung wert ist: Wie verhält sich denn die Maueröffnung ausgerechnet am 9. November, jenem Schlüsseldatum der deutschen Nachweltkriegsgeschichte, zu dem, was fünf Tage vorher in Berlin auf der Karl-Liebknecht-Straße, vor dem Palast der Republik und schließlich auf dem Alexanderplatz stattgefunden hatte?
Niemand kann heute mehr genau sagen, wie viele an der Demonstration vom 4. November 1989 teilgenommen haben. Aber es hat sich als der Wahrheit am nächsten kommend die Überzeugung durchgesetzt, dass es mehr als 500 000 waren, die damals mitgezogen seien. Insofern kann man den 4.11.1989 vergleichen mit der anderen Riesenkundgebung, die am 6.1.1919 auf der Westseite des Brandenburger Tores eine ebensolche Masse versammelte, von der es in Alfred Döblins November 1918 heißt, "die größte proletarische Masse, die die Geschichte je gesehen hat."
Döblin schildert es dann als Verhängnis für den ganzen weiteren Verlauf der deutschen Geschichte, dass die versammelte Masse führerlos dagestanden habe. War es am 4.11.1989 ähnlich oder gar genau so? In den nachträglichen Bewertungen der Friedlichen Revolution ist die Großdemo vom 4.11. auf dem Alexanderplatz stark umstritten und umkämpft.
Weil sie im Unterschied zu den spontanen Manifestationen in Dresden und vor allem der entscheidenden am 9. Oktober in Leipzig bei den Behörden angemeldet worden war, wird der Verdacht geäußert, der 4. November sei eine geschickte Inszenierung der SED zur Installation einer Art - um ausgewählte Bürgerrechtler erweiterten - neuen Nationalen Front gewesen. Höhepunkt dieser Diffamierungskampagne war ein Spiegel-Artikel im Frühjahr 1996, der unter Berufung auf die angeblich erst damals entdeckte MfS-Information "ZA/G 484/89" den Beweis antreten wollte, wie die Massendemo vom 4.11.1989 wenn auch nicht vom MfS initiiert, so doch wenigstens von ihm unterwandert gewesen sei.
Gegen solche Behauptungen muss mehr als ein Einspruch erhoben werden. Die zitierte MfS-Information war keineswegs eine Entdeckung des Spiegel. Sie war schon seit 1990 bekannt, seit sie Stefan Wolle und Armin Mitter in ihrer Sammlung von Befehlen und Lageberichten des MfS unter dem Titel Ich liebe euch doch alle! publiziert hatten.
Freilich kommt diesem Text aus dem Mielke-Ministerium ein hoher dokumentarischer Wert zu, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, als ihm der Spiegel und andere Anschwärzer der Friedlichen Revolution abgewinnen wollen. Zeigt er doch das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit des zentralen Machtorganes der SED gegenüber einer Initiative, die es in dieser Form in der DDR noch nie gegeben hatte.
Künstler des Deutschen Theaters und des Berliner Ensembles hatten sich zusammengetan, um eine Demonstration laut Art. 27 und 28 Verfassung der DDR zu organisieren, das heißt Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit zu nutzen, um eine Kundgebung des Misstrauens in die SED-Führungskompetenz durchzuführen. Sie traten damit in die Fußstapfen ihrer Dresdener Kolleginnen und Kollegen, die schon seit Anfang Oktober nach jeder Vorstellung im Staatsschauspiel eine Erklärung verlesen ließen, in der sie ihr Recht auf selbständiges Denken erklärten und daraus die Forderung ableiteten, einen Dialog zwischen Volk und Partei- beziehungsweise Staatsführung erzwingen zu dürfen.
Insofern muß man den 4.11.1989 in Berlin als die Antwort der Bürger und Bürgerinnen auf das in den Dialogwochen des Oktober von seiten der SED Vorgebrachte sehen. Die Antwort lautete, so wie es in Riesenlettern auf dem Transparent zu lesen war, das die der Menge vorangehenden Schauspieler trugen: "Protestdemonstration!" Dass es sich dabei selbstverständlich nicht, wie sonst in der DDR, um einen Protest gegen die bösen Imperialisten jenseits der Mauer handelte, sondern um den Protest gegen die SED und ihren Führungsanspruch, das konnte man nicht nur auf zahlreichen mitgeführten Transparenten lesen, die eine Volksabstimmung über den Führungsanspruch der SED forderten, sondern es wurde auch von der Seniorin aller Rednerinnen, der Schauspielerin Steffi Spira in unvergesslicher Weise auf den Punkt gebracht, als sie die herrschenden Parteigrößen aufforderte, dasselbe zu tun, was sie nach ihrer ebenso kurzen wie schlagkräftigen Rede tat: "Abtreten!"
Wer derlei für eine MfS-Veranstaltung halten möchte, den wird man nicht daran hindern können, das auch fernerhin zu tun. Aber gerade wer bei dieser These bleibt, muss dann auch einräumen, dass es sich, wenn schon um eine MfS-Veranstaltung handelte, dann um eine gründlich misslungene. Markus Wolf und Günter Schabowski wurden ausgepfiffen. Die in der zitierten MfS-Information 484/89 angeordneten Maßnahmen "militante feindliche Kräfte zu isolieren, positive Kräfte zu stärken und gesellschaftliche Kräfte in Abstimmung mit der Partei wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen" erweisen sich, verglichen mit der überwältigenden Klarheit des Misstrauensvotums der 500 000 an die Adresse der SED, als ein hilfloses Gestammel, das nur einmal mehr die inzwischen eingetretene Orientierungslosigkeit derer dokumentiert, die noch kurz zuvor durch Krenz hatten erklären lassen, ihre Führungsrolle stehe nicht zur Disposition.
Einer der Redner vom 4. November, Friedrich Schorlemmer, hat sich in seinem 1995 erschienenen Buch Was ich denke nachträglich die Frage gestellt, ob er nicht gut daran getan hätte, zum Marsch auf die Mauer aufzurufen unter der Devise: "Auf zum großen Spaziergang des Volkes in die Freiheit!" Er kommt zu dem Ergebnis, ein solcher Aufruf hätte in einem Chaos enden müssen und darum stehe er nach wie vor zu seinem Text von 1989, der solche gefährlichen Aufforderungen nicht enthielt.
Genau das aber wird von denen, die ein Interesse an der Diskreditierung des 4. Novembers haben, zum Anlass genommen darauf hinzuweisen, die Alexanderplatzversammlung habe es sorgfältig vermieden, auf die politische Kernfrage, die der Mauer, mit einem einzigen Wörtchen einzugehen. Ich kann persönlich bezeugen, dass das evident falsch ist. Denn mein eigener Enkel wanderte im Demonstrationszug mit einem Schild "Die Mauer muß weg!" Aber auch andere Transparente sprachen die Mauer an, freilich in einer Weise, die dem friedlichen und unprovokativen Charakter der Demonstration durchaus entsprach.
Da hieß es etwa: "Die Mauer im Kopf muß weg!" oder "Für die beidseitige Bemalung der Mauer". Diejenigen, die jetzt so gerne über die Mauer in den Köpfen der Ossis räsonieren, sollten sich lieber daran erinnern lassen, dass die Ostberliner vom 4. November es waren, die das Niederreißen der Abgrenzungsmauer in den Köpfen - freilich in allen, nicht nur in ein paar auf einer bestimmten Seite! - forderten. Sie konnten dies und die Bemalung der Mauer von beiden Seiten in aller Friedlichkeit fordern, weil sie inzwischen wussten: Diejenigen, die sich die Freiheit zur Protestdemonstration mit dem Ruf genommen hatten "Wir sind das Volk!", die hatten damit aller Welt und also auch der SED demonstriert, wo die Macht lag. Sie konnten darum in aller Friedlichkeit überzeugt sein, dass diese ihre Macht mächtiger sei als Mauer, Stacheldraht und der ganze Warschauer Pakt.
Der SED gelang es nicht, den Zug in Richtung Demokratie, politische Mündigkeit und rückhaltlose Wahrnehmung aller gesellschaftlichen Probleme abzulenken in die Gefilde einer erneuerten Nationalen Front. Nicht einmal auf den Trittbrettern des fahrenden Zuges vermochten sie sich zu halten. Am 7. November trat die Regierung, am nächsten Tag - auf der 10. ZK-Tagungung der SED - das gesamte Politbüro zurück. So konnte es den Gescheiterten schon recht sein, wenn am nächsten Abend an der Bornholmer Straße sich die Mauer und damit eine Hintertür öffnete, durch die man eine Flucht antreten konnte, von der die, die wie Schalck-Golodkowski diesen für Kommunisten etwas ungewöhnlichen Fluchtweg antraten, kaum hätten sagen können, ob es eine Flucht nach vorn oder nach hinten war! Insofern kann man mit sehr viel mehr Recht von der Maueröffnung sagen, was das MfS auf die Friedliche Revolution im Ganzen anwenden wollte: Es war "die von der Partei beschlossene Wende", wie es mehrfach in den MfS-Dokumenten des Jahres 1989 heißt.
Aber man täusche sich nicht: Auch wenn die unter dem Druck einer Koalition aus SPD, SED-PDS und CDU vom 6. Mai auf dem 18. März vorverlegten Wahlen zwar nicht zu einer neuen Nationalen Front, sondern zum Sieg einer "Allianz für Deutschland" und damit zur Rückkehr in den alten Parteienstaat und seine Marktwirtschaft führten - die Erfahrung der Friedlichen Revolution bleibt unwiderruflich. Woher rührt denn die vielgescholtene Unzufriedenheit der Bürger und Bürgerinnen der beigetretenen DDR? Weil sie natürlich die mittlerweile mit dem Markt- und Parteienpluralismus des Westens gemachten Erfahrungen nicht etwa an der verknöcherten Diktatur des SED-Wirtschafts- und Parteiapparates, sondern selbstverständlich an der von ihnen selbst zwischen dem 9. Oktober und dem 4. November des Jahres 1989 eroberten Freiheit messen, einer Freiheit zur demokratischen Selbstorganisation, deren Inbegriff für immer der Runde Tisch bleiben wird. Eine solche Freiheits erfahrung vergisst sich nicht!
Und wenn es fast hundert Jahre gedauert hat, bis die Grundrechte der Paulskirchenverfassung in unserem Lande in Kraft gesetzt wurden: diesmal wird es in sehr viel kürzerer Zeit klarwerden, daß die Konzepte des Runden Tisches realisiert werden müssen, wenn unsere Gesellschaft nicht mehr nur über Modernisierung debattieren, sondern auf die offenkundigen Herausforderungen eines neuen Jahrtausends wirklich antworten will. Denn zweierlei ist jetzt schon gewiss: Die sozialistische Diktatur war nicht die Alternative zum Kapitalismus, die sie zu sein behauptete. Die Probleme der Massenarbeitslosigkeit, der wachsenden Armut, der progressiven Zerstörung von Lebensgrundlagen wirft der Kapitalismus zwar auf, aber er löst sie ebensowenig wie der zusammengebrochene Sozialismus. Die Friedliche Revolution aber hat schon jetzt erste Schritte in eine Zukunft gewiesen, in der Staat und Gesellschaft völlig anders mit ihren natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen umgehen werden, als es je zuvor geschehen ist.
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