Mögen die Regierungen, die sich nunmehr überraschend rückhaltlos für nationale Referenden zu einer Europäischen Verfassung aussprechen, noch so vordergründig auf bloßen Machterhalt spekulieren - die entbrannte Debatte wird man nicht so leicht abwürgen können, wie es mit der deutschen Verfassungsdiskussion 1990 bis 1993 geschehen ist. Denn jetzt geht es um Europa. Auch die einer weiteren Integration feindselig gegenüber stehenden Parteigänger eines "Europas der Nationen" können sich dem Umstand nicht mehr verschließen, dass die alten Nationen angesichts ihrer wachsenden Instabilität das Problem, aber keinesfalls die Lösung sind. Deshalb sehen sich die Gegner einer Volksabstimmung zur EU-Verfassung gezwungen, andere Argumente zu mobilisieren.
So behauptet Kanzler Schröder, in Deutschland sei ein derartiges Referendum schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich. Das Grundgesetz biete keinerlei Rechtsgrundlage dafür. Ein Argument, das schon während der deutschen Wiedervereinigung auftauchte, um eine neue Verfassung zu verhindern. Wie damals kann ich mich auch jetzt nur wundern über eine Grundgesetzauslegung, für die der Wortlaut unserer Verfassung allenfalls assoziativen Wert zu haben scheint. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk durch Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe (...) ausgeübt." So steht es unmissverständlich in Artikel 20 des Grundgesetzes. Kann man sich deutlicher ausdrücken? Freilich, wer diese Sätze nicht mehr lesen kann, ohne sie sofort zu übersetzen in das Axiom: "Alle Staatsgewalt geht von den Parteien aus", der hat natürlich Mühe einzusehen, dass dieser Artikel keine Verfassungsänderung, sondern lediglich eine gesetzliche Regelung für eine solche Abstimmung verlangt. Das Verfassungsargument kann daher gegen ein deutsches EU-Referendum nur als Missverständnis oder gezielte Desinformation vorgebracht werden.
Immer chaotischer und anarchischer
Ich will nicht bestreiten, dass man eine Ablehnung des EU-Verfassungsentwurfs als faktische Austrittserklärung verstehen kann. Aber abgesehen davon, dass der Entwurf selbst in Teil I (Titel IX/Art. 59) eine Austrittsmöglichkeit einräumt und ein Verfahren dafür festlegt, sollte man doch von den prinzipiellen Motiven des europäischen Verfassungsvorhabens ausgehen. Laut Teil I des vorliegenden Entwurfs basiert die EU auf dem Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Eine Akzentsetzung, die man nicht oft genug wiederholen kann. Der Doppelnatur der EU als einer Union der Bürger wie der Staaten folgend, kann der verfassungsgebende Akt, um den es sich bei dem Konventsentwurf handelt, nicht ohne aktive Teilnahme der Bürger vollzogen werden. Mit einem "Ja" oder "Nein" zur EU als solcher hat das nur insofern etwas zu tun, als die abzustimmende Frage sich an Unionsbürger richtet, von denen man vernünftiger Weise voraussetzen muss, dass sie auf dem Boden der Europäischen Union stehen. Ob sie diese irgendwann eventuell verlassen wollen - das steht auf einem anderen Blatt.
Folglich ergeht an Außenminister Fischer die Frage: Will auch er - wie seine Vorgänger im Vereinigungsprozess - den betroffenen Bürgern ihre verfassungsgebende Gewalt kurzerhand absprechen? Man sollte das schon deswegen nicht tun, weil der europäischen Verfassungsfrage in der heutigen weltpolitischen Situation unbedingte Priorität zukommt. Daran hängt die Entscheidung, ob es der Völkergemeinschaft zumindest an einer Stelle gelingt, aus einer sich immer chaotischer und anarchischer darstellenden Globalität in eine neue transnationale Dimension politischen Handels auszubrechen. Nur so kann man sich von einer zusehends panikartige Züge annehmenden, auf Terrorismus und Gegenterrorismus fixierten politischen Haltlosigkeit distanzieren.
Es sind im Übrigen nicht Probleme von heute und gestern, die uns in eine so chaotische Globalität geführt haben. Hat doch Europa seit 1806, dem Ende des Heiligen Römischen Reiches, in einem verfassungslosen Zustand gelebt. Das von neuzeitlichen Staatsrechtslehrern als "Monstrum" verspottete mittelalterliche Reich besaß zuvor eine Kompetenz, die sich durch keine militärisch noch so stark abgestützte Staatlichkeit ersetzen ließ: eine universale Rechtsautorität nämlich, die imstande war, eine Befriedung Europas in einem Jahrhunderte dauernden Prozess durchzusetzen und die regelmäßig aufflammenden Konfessionskriege schließlich durch den Westfälischen Frieden von 1648 für immer zu beenden.
Der Wiener Kongress von 1814/1815 aber brachte keine neue Verfassung Europas hervor, sondern lediglich ein Bündel zwischenstaatlicher Kompromisse, die mit Beginn der Hegemonie Preußens unaufhaltsam jenen politisch unhaltbaren Schräglagen zustrebten, die den Absturz in das Weltkriegszeitalter von 1914 bis 1945 unvermeidlich werden ließen. Man kann es fast als Wunder bezeichnen, dass ein dem Ungleichgewicht des 19. Jahrhunderts nur zu ähnliches Szenario zweier antagonistischer Supermächte 1989/90 in eine Friedliche Revolution und nicht in den von vielen gefürchteten - aber von anderen auch gewünschten - Dritten Weltkrieg geführt hat.
Weder Bundesstaat noch Staatenbund
Die jetzt möglich gewordene Europäische Verfassung besiegelt insofern das friedliche Ende von 200 Jahren Verfassungslosigkeit in Europa. Ein Ende, das in zahlreichen Dokumenten nach 1989 ersehnt, aber jetzt erst durch den Zehn-Länder-Beitritt glücklich erreicht werden kann. Ein Ende, das die Ideologiedebatten der postkommunistischen Jahre ebenso archiviert wie jene Staatstheorien, die einerseits der "einzig übrig gebliebenen Supermacht" zu einem neuen, Identität durch Abgrenzung stabilisierenden Feindbild verhelfen wollen, andererseits die längst ausstrukturierte neue politische Einigung der EU immer wieder durch den Streit über die Alternative Staatenbund und Bundesstaat aufhalten.
Die Zeiger des politischen Stundenschlages stehen längst woanders. Das Zeitalter der Supermächte ist mit dem Ende der Sowjetunion 1991 abgelaufen. Schon der Ausdruck die "übrig gebliebene Supermacht" zeigt, wie sich auch die Lage für die USA seither geändert hat. Was nach 1991 kam, hatte nichts mehr mit Weltmacht zu tun, sondern mit Globalität und Unbeherrschbarkeit aller wichtigen kulturellen und politischen Handlungssphären.
Analoges gilt für den Streit "Staatenbund oder Bundesstaat" und die Devise vom "Europa der Vaterländer". Die Europäische Union ist weder Bundesstaat noch Staatenbund. Ihre Verfassung zeigt es auf beinahe jeder Seite. Sie ist viel mehr eine Rechtsgemeinschaft und Gesetzgebungseinheit im Neuland transnationalen Handelns. Insofern ein erster Schritt in eine Gewaltenteilung, bei der zur Zeit nur das Chaos des Fusionierens und Zentralisierens herrscht, vergleichbar dem Riesenwuchs der Tierwelt des Erdmittelalters vor deren Zugrundegehen.
Man mache es sich an Teil II des Verfassungsentwurfes klar: an der Europäischen Grundrechtscharta, der zur Zeit modernsten Grundrechtsformulierung weltweit. Wer will, dass sie geltendes Recht wird, der muss dafür sorgen, dass diese Verfassung in Kraft tritt - legitimiert durch den ausdrücklichen Willen der Bürger eines Friedensraumes vom Polarkreis bis zum Atlantik und dem östlichen Mittelmeer.
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