Es ist für mich selbst ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß der Abschluß einer im Zeichen der EURO-Einführung stehenden und vom Verlauf der Kriege in Ex-Jugoslawien tief beschatteten Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes zugleich das Ende meiner eigenen parlamentarischen Tätigkeit mit sich bringt. Ich hasse feierliche Schlußworte und Abschiedszeremonien. Aber auf eines legte ich während der letzten Parlamentssitzung in Strasbourg großen Wert: Mich von Jakob Södermann, dem ersten, aus Finnland stammenden, zuhöchst erfolgreich tätigen europäischen Bürgerbeauftragten persönlich zu verabschieden. In dem Gespräch, das wir bei dieser Gelegenheit führten, erwähnte er, daß sein Vater im Zweiten Weltkrieg von den Nazis erschossen worden war. Seine Worte erschienen wie ein Rückblick auf die düsterste Epoche Europas, die überlebt zu haben wir beide als das Hauptmerkmal unserer Lebensläufe betrachteten. Aber wir waren uns auch darin einig, daß Europa vor ähnlichen Düsternissen nur dann bewahrt bleiben würde, wenn der Einsatz für Menschenrechte sich konkretisiert im friedlichen Mühen um die Rechte der Bürger- und Bürgerinnen in einem nicht mehr gespaltenen Europa. Offenkundig wird bei der anstehenden Europawahl am 13. Juni auch darüber entschieden, ob es sich in diesen Abschiedsworten um Privatmeinungen zweier erfahrener Politiker oder um mehrheitsfähige politische Einsichten handelt.
Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung: Vor zehn Jahren waren das öffentliche Angelegenheiten. Nicht nur in der DDR, aber vor allem in ihr. Denn Gerechtigkeit - das verhieß ein Ende des Ausschlusses der mittelosteuropäischen Bevölkerungen vom Freiheits- und Lebensstandard der Länder vor dem Eisernen Vorhang. Frieden, dieses Wort bedeutete die Gewißheit, daß die friedliche Revolution, die eine hochgerüstete, mit modernster Raketentechnik bestückte Armee verschrottete, den Schritt in eine Epoche getan hatte, in der die waffen- und befestigungsgestützten Abgrenzungen in einem kriegsunfähig gewordenen Europa ihr Ende gefunden hatten, und darum nicht nur Michail Gorbatschow vom Gemeinsamen Haus Europa sprechen konnte. Und Bewahrung der Schöpfung, das war nicht mehr nur eine christliche Losung, sondern Stichwort für einen Wechsel der Perspektiven. Hin zu einer Umwelt und Lebensgrundlagen nicht mehr ausbeutenden, sondern sie erhaltenden und pflegenden Kultur.
Aber wo stehen wir denn heute, nach dem Kölner Ratsgipfel, während die NATO und Jugoslawien über ein Ende des Kosovo-Krieges verhandeln - am Vorabend der Wahl eines neuen europäischen Parlaments?
Es ist, als ob alle Welt sich verschworen habe, Erfahrungen und Perspektiven von 1989 in den Wind zu schlagen und so gründlich wie möglich zu vergessen. Britische Zeitungen jubeln darüber, daß es gelungen sei, »Slobo gründlichst zu verkloppen«, ganz als ob ein Krieg ein Gaudi sei wie Klassenkeile oder so etwas wie das Toben von Hooligans. Die deutschen Zeitungen - mehr dichterisch und philosophisch aufgelegt - gaben entweder dem serbophilen Diktator das Wort zu traurigen Publikumsbeschimpfungen oder der pathetisch auftrumpfenden politischen Korrektheit seiner Gegner, die ihm progressive Paranoia attestieren. Aber muß man nicht einräumen, daß es zur Zeit einiger nicht ganz leichten Anstrengungen bedarf, angesichts der uns überflutenden Wort- und Bilderbotschaften bei gesundem Verstande zu bleiben? Denn, obwohl offenbar weithin davon ausgegangen wird, daß wir es schon vergessen haben - wir können uns noch sehr wohl daran erinnern, wie man uns versicherte, ein kurzes Bombardement werde MilosÂe vic´ sofort an den in Rambouillet verlassenen Verhandlungstisch zurückbringen. Kurz darauf hieß es, man führe keinen Krieg gegen das serbische Volk, sondern gegen den ständig mit Hitler verglichenen MilosÂevic´. Und man erklärte uns, die Zielgenauigkeit der NATO-Spitzentechnologie reiche bis auf Abstände von zehn Zentimetern.
Seltsam, seltsam bei derartiger Zielgenauigkeit: Ein ums andere Mal wurden lauter Leute getroffen, gegen die man angeblich keinen Krieg führte, bis hin zur chinesischen Botschaft, die - so versicherte man uns - das Opfer einer veralteten Karte wurde, die diese so zielgenau operierende Armee versehentlich benutzt habe.
Das alles aber hätten wir als Kollateralschäden zu entschuldigen. Denn schließlich geschähe alles Bombardieren einzig und allein zu dem Zweck, die zu Zehntausenden fliehenden Kosovo-Albaner eben davor zu schützen, fliehen zu müssen. Und niemals dürfe vergessen werden: MilosÂevic´ sei schließlich der neue Hitler, gegenüber dem alles vermieden werden müsse, was aussähe wie ein Münchner Appeasement. Warum in aller Welt begann man dann gerade jetzt, aufs Neue mit ihm zu verhandeln? Nicht etwa in Rambouillet, wohin er angeblich zurückgebombt werden sollte, sondern an den Grenzen des leergeflüchteten, mit Uran 238, Minen und Streubomben kontaminierten Kosovo?
Es bleibe denen überlassen, die uns belehren, genau auf dem von der NATO beschrittenen Wege gelte es Menschenrechte zu verteidigen, den schmählichen Knäuel dieser Widersprüche zu entwirren. Die Berufung just des Mannes, dessen Pressekonferenzen unseren Menschenverstand und unser Rechtsgefühl ständig provozierten, zum »Mr. GASP« der EU kann gewiß nicht als Auflösung dieser Konfusion gelten. Aber freilich ist sie das Eingeständnis, daß die Union, die mit der Entscheidung für eine einheitliche Währung der Weltöffentlichkeit ein unübersehbares Signal gegeben hat, den Konsequenzen dieses Signals nicht länger so aus dem Wege gehen kann, wie das die letzte Regierungskonferenz von Amsterdam getan hat. Die EURO-Union muß klarstellen, daß sie jetzt schon eine Politische Union ist und darum eine Politik verfolgt, die einer solchen Union entspricht. Daß sie dabei ihr Verhältnis zur NATO auf eine Weise regulieren muß, die die atlantische Sicherheitspartnerschaft als einen globalen Stabilitätsfaktor nicht gefährdet, ist unbestreitbar. Aber zuallererst hat die EU klarzustellen, was die Politische Union in Sachen Frieden und Völkergemeinschaft bedeuten soll. Darum muß daran erinnert werden, daß es hier eine Verfassungsaufgabe zu lösen gilt, um die man in Maastricht und Amsterdam einen weiten Bogen zu machen versucht hat. Die Römischen Verträge - geschlossen zu Anfang der europäischen Integration in den fünfziger Jahren - erklärten schon bei der Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrie in den Mitgliedsländern, Ziel dieser Maßnahme sei eine Friedens ordnung, in der Staaten die Möglichkeit verloren haben, gegeneinander Krieg zu führen. Seit 1989 aber steht die EU vor der Aufgabe, das damals nur angestrebte Ziel dadurch zu verwirklichen, daß sie den inzwischen geschaffenen Raum ohne Binnengrenzen in einen Friedensraum überführt, den die in ihm ansässigen Staaten dadurch definieren, daß alle in ihm auftretenden Konflikte allein auf dem Weg der Konsultation, der Mediation oder der dafür zuständigen Gerichtsbarkeit zu lösen seien. Die Mitgliedsländer können Militärallianzen wie der NATO angehören. Deren Aktivitäten innerhalb dieses Friedensraumes jedoch sind an Bedingungen und Entscheidungen der EU-Organe gebunden.
Leider hat es die EU versäumt, sich klarzumachen, daß die Frage nach der NATO-Mitgliedschaft der künftigen Beitrittsländer in Mittelosteuropa genau diese Frage aufwarf. Sehr zum Schaden der letzteren, wie Polen und Tschechien jetzt angesichts des Kosovo-Konfliktes sofort zu spüren bekamen. Aber nicht weniger zum Schaden auch der gegenwärtigen Mitgliedsländer, die alle möglichen institutionellen Probleme wälzten, statt sich klarzumachen, daß die bevorstehenden Beitritte den Aggregatzustand der EU insgesamt verändern würden, weil der Schritt von der Wirtschaftsunion zur Politischen Union nicht mehr ohne aktive Mitwirkung der Unionsbürger und -bürgerinnen würde zustande kommen können.
Es war daher ein ermutigendes Zeichen, daß das von Außenminister Fischer am 12. Januar 1999 in Straßburg vorgetragene Programm der deutschen Ratspräsidentschaft die Frage nach einer Weiterentwicklung des EU-Vertrages zur Verfassung aufwarf und als ersten Schritt die Aufnahme einer Grundrechts charta in diesen Vertrag auf die Tagesordnung setzte. Daß der hochbedenkliche Verlauf des Kosovo-Krieges diese Pläne in den Hintergrund treten ließ, unterstreicht eher die Dringlichkeit des Vorhabens, als daß es sie in Frage stellt.
Unser Autor sitzt seit 1994 für Bündnis90/DieGrünen im Europa-Parlament.
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