Im Bundestag ist von der Regierungskoalition beantragt worden, einen Dialog über die Errichtung eines europäischen "Zentrums gegen Vertreibungen" zu beginnen. Der Kontext dieses Vorschlages ist bekannt. Er ist durch die nicht ohne Emotionen auf beiden Seiten geführte deutsch-tschechische Debatte um die Rechtsgrundlage der Vertreibungen der Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei neu belebt worden.
Wie kam es zur Wiederaufnahme einer Debatte, die durch wechselseitige Verträge, offizielle Erklärungen und sogar durch eine Stiftung in einer bilateral befriedigenden Weise beendet worden war? Nun, es gibt einen Verband, der eine offenbar als wahlrelevant betrachtete Gruppe der Bevölkerung, vor allem in Bayern, repräsentiert. Er gedenkt den näher rückenden EU-Beitritt Tschechiens und Polens für seine Zwecke zu instrumentalisieren und tritt daher für die Annullierung tschechischer Gesetze ein, die seinerzeit die Rechtsgrundlage für die Vertreibung der Sudetendeutschen darstellten. Alle Welt weiß, diese Forderung ist nichts anderes als der Restbestand jenes Revisionismus, der die völkerrechtliche Legitimität der Potsdamer Protokolle von 1945 und aller auf ihnen beruhenden Gesetze von Anfang an bestritten und darum bis 1990 die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 gefordert hat.
Nachdem im Sommer 1990 beide deutsche Parlamente diesen Forderungen den Boden entzogen hatten und dies mit dem 2+4-Vertrag auch völkerrechtlich fixiert wurde - Günter Gaus wies jüngst daraufhin, dass die Benes-Dekrete sozusagen die Oder-Neiße-Grenze der Tschechen seien: Hätte man ihre endgültige Anerkennung 1989/90 zur Voraussetzung der deutschen Vereinigung gemacht, wäre die Frage längst ausgestanden - nachdem also besagte Entscheidungen gefallen waren, änderten die Vertriebenenverbände ihre Strategie. Seitdem versuchen sie, die Kompetenzen der EU gegen ihnen hinderliche nationale Souveränitäten auszuspielen. Hinderlich sind diese Souveränitäten deswegen, weil deren Gesetze geplanten Entschädigungsforderungen und einer Volkstumspolitik im Wege stehen, die Kollektivautonomie anstrebt - ohne Rücksicht darauf, dass solche Bestrebungen im 20. Jahrhundert ganze Staatsgebiete zerstört haben.
In diesem Kontext kann man nur von einer äußerst gefährlichen Unklarheit des von der Koalition eingebrachten Vorhabens sprechen. Eine Institution gegen Vertreibungen soll es werden. Aber gibt es die denn nicht bereits in Gestalt der UN-Hochkommissariate für Menschenrechte und Flüchtlinge? Oder soll eine neue Institution entstehen, um Vertreibungen zu kontrollieren und zu verhindern, die dank eines blockierten Asylrechts, einer unzulänglichen Einwanderungsgesetzgebung und einer nur partiell ratifizierten Kinderrechtskonvention stattfinden?
Nein - erklärt man uns. Es handle sich um eine Kombination aus Begegnungs-, Forschungs- und Dokumentationszentrum, in dem die Betroffenen ihr Leid wiedererkennen können. Ziel sei, solches Leid in Zukunft zu verhindern. Man kann sich angesichts dieser Angaben nur wundern. Gibt es keine seit Jahrzehnten tätige Regional- und Nationalgeschichtsschreibung, die das angeblich erst zu Dokumentierende längst erforscht und publiziert hat? Völlig unbekannt scheint den Antragstellern die Tatsache zu sein, wie lange schon in Kreisau/Krzyzowa ein Begegnungszentrum existiert, das die genannten Zwecke seit Jahren verfolgt. Freilich nicht im Kontext revisionistischer "Wir-sind-aber-auch-Opfer"-Mentalität, sondern als Gedenkstätte des europäischen Widerstandes gegen die Hitlerbarbarei, die ja die slawischen Teile Europas, in denen nach nazistischer Lesart Untermenschen lebten, der deutschen Herrenrasse zur freien Verfügung gestellt hatte.
Überaus seltsam erscheint auch der Gedanke, dass die Vertriebenen einer besonderen Institution in Berlin oder Breslau/Wroclaw bedürften, "um ihr Leid wiedererkennen zu können". Und ist es geschmackvoll, dem polnischen Wroclaw zuzumuten, das Leid der deutschen Vertriebenen zu erinnern, zumal deren Universität in ihrer Forschung auch die dunklen Kapitel der polnisch-deutschen Beziehungen nie ausgeklammert hat?
Was ich an dem Projekt besonders verwerflich finde, ist der Missbrauch der europäischen Dimension für die Nachbarschaftsprobleme. Sie werden von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe künstlich am Leben erhalten, die die deutsche Mitverantwortung für die Hitlerkatastrophe als Kollektivschuldzuweisung brandmarkt, andererseits aber kollektive Sonderrechte beansprucht. Ist der Satz der Potsdamer Protokolle, dass die Deutschen irgendwann die Konsequenzen dafür hinzunehmen haben, dass sie mit übergroßer Mehrheit Hitler begeisterte Gefolgschaft geleistet haben, etwa keine Wahrheit?
Wer dieser Einsicht auf immer neuen Nebengleisen auszuweichen sucht, wird der europäischen Einigung nur immer neue ethnizistische Stolpersteine in den Weg legen, so wie es zur Zeit die unsägliche Benes-Dekrete-Debatte tut. Wenn sich der Kanzlerkandidat der CDU/CSU beim Pfingstreffen der Sudetendeutschen offen zum Revisionismus bekennt, ist er als Europapolitiker untragbar und damit auch nicht wählbar. Warum erheben Stoiber und andere nicht die Forderung, das Münchner Abkommen, den entscheidenden Schritt zur Zerstörung der Tschechoslowakei für völkerrechtswidrig und darum für rechtsunwirksam von Anfang an zu erklären? Wer diesen Schritt nicht will, sollte auch gegenüber den Folgen dieser Rechtswidrigkeit zurückhaltend sein.
Was wir brauchen, ist nicht die Instrumentalisierung deutscher Gedächtnispolitik im Interesse eines offenen oder verkappten Revisionismus, sondern eine effektive politische Verabschiedung des hinter allen ethnischen Säuberungen stehenden Gedankens von der ethnischen Einheitlichkeit des Staatsvolkes als Existenzbedingung eines lebensfähigen Staates. Wirkliches Zentrum gegen Vertreibung kann darum nur eine Verfassung der EU sein, durch die Vertreibungen für immer ausgeschlossen sind, weil sie eine Union gleichberechtigter Völker zum Inhalt hat, in der die kleineren Völker nicht mehr von den größeren als Minderheit unterworfen sind. Die Ansprüche an ein Umdenken in diese Richtung sind freilich erheblich. Kann es angesichts der offenkundigen Gräuel der beiden Weltkriege eine deutsche Bevölkerungsgruppe geben, die von sich behauptet - wie es die Vertriebenencharta von 1950 tut -, sie sei die vom Leid der Zeit am schwersten betroffene? Kann es je zukunftweisend sein - wie der gleiche Text es tut -, zu behaupten, unendliches Leid sei "vom letzten Jahrzehnt" über die Mehrheit gebracht worden, statt schlicht zuzugeben, dass das, was hier "das letzte Jahrzehnt" genannt wird, nichts anderes war als der Größenwahn des Deutschen Reiches?
Erinnerungsstätten zu errichten, das sind schwerwiegende, weil traditionsstiftende Akte. Der Bundestag hat zuletzt mehr als eine Fehlentscheidung getroffen. Er sollte sich beim Thema Vertreibung darum im Klaren sein, ob er rückwärts- oder zukunftsorientiert votieren will. Er entscheidet sich zwischen München und Kreisau - zwischen dem nationalistischen und dem demokratischen Europa. Eine der Stifterfiguren des Naumburger Domes ist die polnische Prinzessin Regelindis, dargestellt als lächelnde junge Frau. Beim jetzigen Zustand des deutsch-polnischen Miteinanders müsste sie eigentlich weinen.
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