Hegel müsste man heißen

SACHBUCH Wolfgang Thierse denkt über europäische Perspektiven für Ostdeutschland nach

Unaufgeregt, aber unmissverständlich erläutert Thierse, warum er davon gesprochen hat, dass Ostdeutschland, das "Beitrittsgebiet" der alten Bundesrepublik, auf einer neuen "Kippe" stehe. Das Wort ist ihm von vielen Seiten übelgenommen worden. Man verstand nicht - und man wollte wohl auch nicht verstehen -, dass Thierse nicht Schwarzmalerei bezweckte, sondern den in Sachen Ostdeutschland verordneten Optimismus durch realistische Perspektiven ergänzen wollte.

Realismus in Sachen Ostdeutschland heißt nun einmal: zur Kenntnis nehmen, was Thierses Buch sogar in Schautafeln präsentieren kann. Dass nämlich seit Beginn der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Abwanderung nach Westdeutschland wieder steigt, umgekehrt aber die Parameter von Investitionen und Angleichung der Lebensstandards zwischen Ost und West wieder rückläufig sind.

Thierse selbst hat auf zahlreichen Besuchsreisen in verschiedenen Ländern des Ostens an Ort und Stelle erleben können, welche Konsequenzen die von ihm konstatierte politisch-kulturelle Klimaverschlechterung zur Folge hat: "In Teilen der ostdeutschen Jugend werden mangelndes Selbstwertgefühl, Orientierungsdefizite und Ungewissheiten durch Gewaltbereitschaft kompensiert. Hier finden wir eine geschichtsvergessene, im Wortsinn nationalsozialistische Haltung. Nationalistische Ressentiments und antikapitalistische Rhetorik begleiten eine sich vorwiegend fremdenfeindlich äußernde Verunsicherung und Wut."

Dieser Lage der "Kippe" stellt Thierse seine Idee eines "zweiten Anlaufs" für all jene Bemühungen entgegen, die von verschiedenen Bundesregierungen unter dem Titel des "Aufbaus Ost" verfolgt wurden und werden. Es ist ein Vorzug des Buches, dass es nicht beim bloßen Aufruf bleibt, sondern in seinem fünften Kapitel - "Ein zweiter Anlauf für die ostdeutsche Wirtschaft" - detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie den konstatierten Rückläufigkeiten begegnet werden kann. Dieses Kapitel erscheint mir darum als der harte Kern des Ganzen. Das in acht Abschnitte gegliederte Reformprogramm steht unter der Überschrift "Nach fünf Jahren Stagnation den Aufholprozess wieder in Gang setzen". Es schlägt Maßnahmen öffentlicher Investitionsförderung, Arbeitsmarkt- und Forschungsinitiativen vor, außerdem die Nutzung des ökologischen Strukturwandels als Chance für den ländlichen Raum.

Das Buch läuft auf einen europapolitischen Schlussteil hinaus, der zeigen will, wie der deutsche Problemfall "Beitrittsgebiet" als "europäische Verbindungsregion" ein ganz neues Gewicht und zusätzliche Attraktivität gewinnen könnte.

Hier vermisse ich die Konkretheit des vorangegangenen Kapitels. Die Anknüpfung an schon Geschehendes, etwa in der Europa-Universität Viadrina und den verschiedenen Euro-Regionen entlang der östlichen EU-Grenze, hätte erworbene Erfahrungen für Konklusionen und Verallgemeinerungen nutzbar machen können.

So gern man ein solches von aller Schönfärberei wie Miesmacherei gleich fernes Buch liest, bei mir war der Gesamteindruck ein von seinem freundlichen Verfasser wohl ganz und gar nicht beabsichtigter: Ist die "Ex-DDR", habe ich mich gefragt - das "Beitrittsgebiet", die "fünf neuen Länder", gerade wenn man sie in einer europäischen Perspektive sieht -, nicht ein überwältigendes Paradigma dafür, dass der Westen auf das Epochen-Ende von 1989 bisher keine dem ungeheuren Ausmaß politischer, kultureller und wissenschaftlicher Probleme angemessene Antwort zu geben vermocht hat?

Um es an der hübschen, das Buch eröffnenden Anekdote zu erläutern: Die Mitteilung, dass auch der Verfasser der Phänomenologie des Geistes, der in Jena die "Weltseele zu Pferde" zum Rekognoszieren hatte reiten sehen, im Alltag des Herrn Geheimrats Goethe zweimal (und das zweite Mal mit der Drohung, nach dem Westen, nämlich nach Bamberg zu gehen) um Gehaltserhöhung ersuchen musste - wird sie den unterbezahlten Ossi von heute trösten oder ihm nicht vielmehr ein wehmütiges Lächeln entlocken? Etwa des Sinnes: Hegel müsste man heißen und einen kurzen Draht zum Herrn Geheimen Rat besitzen, statt all der endlosen Scherereien mit den unendlichen Instanzen Bonner Tradition in der noch immer nicht in Berlin angekommenen Republik!

Wolfgang Thierse: Zukunft Ost. Rowohlt Verlag Berlin, 2001, 160 Seiten; DM 29,90

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