Wenigstens eine Wahlfreiheit hat der US-Außenminister der irakischen Bevölkerung zugestanden: Sie könne sich entscheiden, ob sie mit dem "Rest der Welt" den Weg zur Demokratie beschreiten oder im jetzigen Chaos verharren wolle.
Gern möchte man wissen, was Herr Powell unter dem "Rest der Welt" versteht. Ist es ein Ausdruck der neuen Bescheidenheit, dass vom "Rest der Welt" statt von der "einzig übrig gebliebenen Supermacht" und ihren willigen Verbündeten die Rede ist? Oder schlägt sich in diesem weit ausholenden Wort nur nieder, was auch sonst als neue Orientierung der amerikanischen Irak-Politik zu hören ist, das Bestreben einer "Internationalisierung des Konfliktes", nachdem Kosten und Dauer der Besatzung die Ressourcen der USA zu überfordern drohen?
Das Echo, das diese Fragen in der EU - nicht zuletzt in Deutschland - gefunden haben, weist einerseits darauf hin, dass es erheblichen Klärungsbedarf gibt, andererseits sich offenkundig in den USA wie in Europa eine Tendenz zu regen beginnt, den von Präsident Bush nach dem 11. September 2001 ausgerufenen Ausnahmezustand zu beenden und zur Normalität einer internationalen Rechtsordnung zurückzukehren. Bis jetzt weiß allerdings niemand so recht, was das eigentlich heißen soll, was als Inhalt einer neuen Irak-Resolution der UNO vorgeschlagen wird: Ein UN-Mandat - und zwar ein möglichst "starkes" - für internationale, aber unter US-Kommando stehende, im Irak stationierte Streitkräfte? Was ist ein "starkes" Mandat? Eines, das die bestehenden UN-Kompetenzen ausdehnt? Und das, obwohl die Vereinten Nationen gerade dabei sind, ihre Präsenz in Bagdad einzuschränken, nachdem ihre Vertretung Ziel eines Anschlages wurde?
Aus der US-Administration hört man immer wieder den besonders gern von Sicherheitsberaterin Rice gebrauchten Vergleich, die Demokratisierung des Irak solle dem Vorbild der Entnazifizierung Deutschlands nach 1945 folgen. Kann man sich etwas Abwegigeres vorstellen als diese Parallele? Die Befreiung Hitlerdeutschlands war das Ergebnis eines fast sechsjährigen Krieges, in dem die USA keineswegs die alleinige Führung innehatten. Vielmehr waren sie Mitglied einer Allianz, deren Führung zweifellos bei Großbritannien und der Sowjetunion lag. Im krassen Gegensatz zum Irak bestand die deutsche Bevölkerung in ihrer übergroßen Mehrheit aus begeisterten Anhängern Hitlers. Und wiederum ganz anders als im Irak konnte diese Mehrheit in Kürze für die westliche Demokratie gewonnen werden, weil Währungsreform und Marshall-Plan in den Westzonen sehr schnell die Rückkehr zum Lebensstandard aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch von 1939 herbeiführten. Ein Standard, dessen westliche Bestandteile Besatzern und Besetzten gemeinsam waren.
Einen Berührungspunkt freilich gibt es zwischen 1945 und 2003: Das Bewusstsein vom Gebot eines Neuanfangs. Aber auch hier fehlt nicht der Kontrast zwischen beiden Epochenbrüchen. Waren es 1945 die Kriegs- und Totalitarismusverwüstungen, so waren es nach 1990 die Völkerkonflikte bis hin zum Bürgerkrieg in Jugoslawien, die nach einer neuen Weltordnung riefen. Während man sich 1945 einig war, die neue Weltordnung könne nur eine Friedensordnung unter dem Gewaltmonopol der UNO sein, gab es nach dem Ende des Kalten Krieges zwei bis auf den heutigen Tag konträre Antworten. Die eine, bis zum Ende der Sowjetunion 1991 vorherrschende, sah in der Weiterentwicklung einer UN-Friedensordnung die einzig angemessene Antwort auf den Zusammenbruch der Fronten des Kalten Krieges. Mit der anderen wurde eine neue Imperialismusdoktrin für eine von den USA dominierte Weltordnung proklamiert. Diese Doktrin ließ nie einen Zweifel daran, dass sie die den Vereinten Nationen nur so weit zu akzeptieren bereit war, als sie ihren neoimperialistischen Absichten nicht im Wege stand.
Das Merkwürdigste an diesem Programm war und ist freilich, dass es mit dem Pathos der Modernität auftritt. So wird die seit 1991 nicht abreißende Kette bewaffneter Invasionen damit gerechtfertigt, dass nach dem Ende bi- oder multilateraler Nationalkriege das Zeitalter eines globalen, auf lokale Terrorismen reagierenden Interventionismus begonnen habe. Als ob dieser Interventionismus etwas anderes wäre als der Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts mit seinen Opium- und Kolonialkriegen samt "Panthersprüngen" rings um den Erdball. Gibt es doch einen Grundzug, der den alten und neuen Imperialismus verbindet: Die Notwendigkeit, Kriegsgründe zu manipulieren. Von Bismarcks "Emser Depesche", die 1870 aus einer "Chamade eine Fanfare" werden ließ, über das unannehmbare Serbienultimatum von 1914 bis zum "Tonking-Zwischenfall" im Vietnamkrieg führt eine direkte Linie zur nuklearen Bedrohung, die angeblich vom Irak ausging und einen Präventivkrieg rechtfertigte.
Die mit dieser Manipulation eingetretene Glaubwürdigkeitskrise eines vermeintlich dem globalen Demokratietransfer dienenden Imperialismus geht so tief, dass sie nicht durch die Rückkehr zum Vorangegangenen bewältigt werden kann. Folglich ist die UNO herausgefordert, jede nachträgliche Legitimierung des Präventivkrieges gegen den Irak eindeutig auszuschließen. In diesem Sinne wäre zu wünschen, die EU verließe endlich den falschen Weg, sich gegenüber dem Unilateralismus der USA als konkurrierende Weltmacht profilieren zu wollen, und wäre statt dessen mit ihrem Paradigma einer befriedeten Weltregion anderen Regionen behilflich. Die deutsche Regierung schließlich sollte endlich klarstellen, dass die Entscheidung gegen den Irak-Krieg kein taktisches Manöver war, sondern im Respekt vor der Friedensbewegung des 15. Februar 2003 und jener Grundgesetzartikel getroffen wurde, die jede Teilnahme an einem Angriffskrieg verbieten und alle Aktivitäten hin zu einer globalen Friedensordnung zum zwingenden Staatsziel erklären.
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