In den Wahlurnen begraben

Demokratie im Zeitalter ihrer Selbstzerstörung Die Regierung Schröder regiert ebenso wenig wie die Regierung Kohl

Mildes Befremden, in der Regel aber höhnisches Gelächter erntet, wer sich derzeit zur Demokratie als der einer modernen Gesellschaft einzig angemessenen Staatsform bekennt. Es sei denn, die Pflichten der politischen Korrektheit schränken die Ungeniertheit ein. Also - so wird gefragt - ausgerechnet unsere viel gepriesene Demokratie soll Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit garantieren? Da kann man doch nur lachen, und zwar aus Galgenhumor! Freiheit - wo überall Überwachungskameras daran erinnern, dass die Regierung ihre Bürger als Sicherheitsrisiko betrachtet. Gleichheit - die gibt es doch angesichts der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich allenfalls bei den Parteien, deren ganzes Wirken darauf ausgeht, diese Schere zu verschleiern. Und gar Brüderlichkeit? Wer kann von derlei Sentimentalitäten noch sprechen, wo Konkurrenz und Gewalt - vom Mobbing am Arbeitsplatz bis zur Schusswaffe in der Schule oder dem Bombenlegen aus der Luft - zu Aktionsprinzipien geworden sind, die alles beherrschen?

Als die friedliche Revolution 1989 darauf hinwies, dass die repräsentative Demokratie dort an ihre Grenzen stößt, wo die Repräsentationsorgane dieser Demokratie unfähig werden, die Willensbildung einer Gesellschaft abzubilden, wurde sie belehrt, diesem Urteil liege die Übergangssituation nach der Diktatur zugrunde. Die habe die Ausbildung funktionierender Repräsentationsorgane verhindert. Sobald letztere aber errichtet seien, stehe deren demokratischer Repräsentativität nichts mehr im Wege.

Als Ende 2001 engagierte Bürger aus Ostdeutschland ihren Eindruck vom angeblichen Funktionieren der gesamtdeutschen Demokratie unter dem Titel Wir haben es satt! zusammenfasste, wurden ihnen besonders die Vergleiche verübelt, die sie zwischen den Demokratiedefiziten der DDR und denen der Bundesrepublik nach 1990 gezogen hatten. Ihre DDR-Sozialisierung habe sie blind gemacht für den grundsätzlichen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur, wurde ihnen vorgeworfen.

Aber ist es auf die Dauer mit dem Fortbestand von Demokratie vereinbar, wenn alle ihre Organe, statt die Aufgaben der Repräsentation der Bevölkerung und ihres politischen Willens wahrzunehmen, dazu übergehen, jede Aktivität in den Dienst ihrer Selbstbestätigung zu stellen? Am augenfälligsten zeigt sich dies im Niedergang der Parlamentsautorität, der im Bundestag bedenkliche Ausmaße angenommen hat. Seine Debatten haben ein Niveau erreicht, das auf Beobachter nur noch abstoßend wirken kann. Die Opposition beschränkt sich ganze Legislaturperioden hindurch darauf, der Regierung Versagen vorzuwerfen und Ministerrücktritte zu fordern. Die Regierung antwortet mit der ständig wiederholten Erklärung einer völligen Inkompetenz der Opposition. Was soll aus der Demokratie in dem sehr wahrscheinlichen Fall werden, dass beide Recht haben?

Um die Kritik auf das Parlament zuzuspitzen: Es hat im November 2001, nach dem 11. September, in einer verfassungswidrig durchgeführten Vertrauensabstimmung - nur gegen die Stimmen der PDS - seine Selbstentmächtigung beschlossen, indem es dem Kanzler faktisch die volle Autorisierung für alle Entscheidungen seiner Außenpolitik bis zum Ende der Legislaturperiode erteilte. Der Bundestag hat es hingenommen, dass Gerhard Schröder zunächst für Fragen der Bioethik, mittlerweile für die Renten-, Sozial- und Gesundheitspolitik die Sachdebatten aus dem Parlament in Kommissionen verlegt hat, denen jede demokratische Legitimation abgeht. Der Bundestag hat es schließlich zugelassen, sich lächerlich zu machen durch die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, deren krasse Ineffektivität nur denen verborgen bleiben konnte, die sie zur Verlängerung der auch in den Debatten des Plenums stereotypen Schuldzuweisungen nutzen wollten.

Und wie steht es um die Legitimierung der frei gewählten Regierung? Der Tiefstand ihrer Umfragewerte zeigt trotz aller Stimmungsabhängigkeiten, dass auch sie keine Ausnahme vom allgemeinen Autoritätsverfall der Demokratie bildet. Auch hier liegen die Gründe für diesen Zustand auf der Hand: Sie regiert nicht. Das heißt, sie trifft keine Entscheidungen, die - weil von der Verfassung gefordert - im Interesse des ganzen Staates liegen, auch wenn sie keineswegs allen Bürgern gefallen. Die Regierung Schröder regiert ebenso wenig wie die Regierung Kohl. Sie passt sich lediglich der jeweils - im Blick auf die nächste Wahl - mächtigsten Lobby an. Dadurch wird das für eine Wahl irrelevante untere Drittel der Bevölkerung von ihr gar nicht mehr vertreten. Die Regierung tut mit, wenn Arbeitslosen die Schuld an ihrer Lage zugeschrieben und so getan wird, als ob die durch Fusionen regelmäßig eintretende Vernichtung Tausender von Arbeitsplätzen die Arbeitslosen zu verantworten hätten. Sie tut mit, wenn Sozialhilfeempfänger, die nichts tun, als ihnen gesetzlich zustehende Leistungen zu beanspruchen, wie Straftäter der Aufhebung ihres Bankgeheimnisses, demütigenden Meldepflichten und Wohnungskontrollen unterworfen werden.

Dass all diese Deformationen etwas mit der Herrschaft der Parteien und vor allem der Parteiführungen zu tun haben, das pfeifen die Spatzen von allen Dächern des Landes. Parteien sind es, die eine Gewissensbindung der Abgeordneten - vom Grundgesetz nach Art. 38 verlangt - nach Belieben einschränken oder außer Kraft setzen. Parteien sind es, die sich in allen relevanten Schlüsselpositionen von Justiz und Medien die Macht nach ihren Proporzwünschen teilen und in nichtöffentlichen Kungelrunden über Führungspersonal entscheiden. Parteien sind es schließlich, die zwar aufwendige Programmdebatten veranstalten, diese aber inhaltlich nahezu völlig entleeren, indem sie an der angestrebten »Mitte« und bloßem Machterhalt orientiert bleiben.

Der Bevölkerung zweifelt längst nicht mehr an der Bedeutungslosigkeit dieser Programme. Darum ist ihre Diagnose des Demokratieverfalls eine ganz andere. Sie sagt, mit Hamlet: »Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!« Die Wirtschaft regiere die Welt, und die Politik - sie sei lediglich das Ensemble ihrer Schachfiguren. Die Wirtschaft sei es, die sich in Deutschland mit Steuermillionen sanieren lässt, wenn die Pleite droht.

So unbestreitbar das alles ist - dieser populären Meinung liegt doch einer der verbreitetsten, aber auch fundamentalsten politischen Irrtümer zugrunde. Nämlich der: Kern aller demokratischen Freiheiten sei die Freiheit zwischen möglichst vielen Angeboten - Fernsehprogrammen, Automarken und Joghurtsorten - wählen zu können. Der Irrtum besteht nicht nur darin, dass mit der Zahl der Angebote auch ihre Ähnlichkeiten wachsen und damit die Auswahl immer bedeutungsloser wird. Nein! Die Basis der Demokratie ist nicht die Wahlfreiheit des Konsumenten, sondern die Freiheit und Mündigkeit von Bürgern, jene Staatsgewalt zu stiften, die laut Verfassung nur vom Volke ausgehen kann, wenn das Ergebnis Demokratie sein soll. Darum kann eine Regeneration der von Verfall und Selbstzerstörung bedrohten Institutionen nur von einer friedlichen Revolution ausgehen, in der die Bürger ihre Herabstufung zu bloßen Konsumenten abschütteln und - genau wie in der Friedensbewegung - einer Marginalisierung mit Macht widerstehen.

Dass die Degradierung zum bloßen Konsumenten mit einer so deprimierenden Freiwilligkeit geschieht, beruht auf dem Rabatt des Lustgewinns, der den Degradierten winkt. Aber am Ende ist das auch für die, die ihr Bankkonto und nicht ihre Grundrechte für ihren wichtigsten Besitz halten, ein schlechtes Geschäft. Ganz so wie die Bürger der DDR, die eine schnelle D-Mark den Mühen eines Verfassungsprozesses, der ihre Rechte gesichert hätte, vorzogen und sich bald nicht nur mit schmerzhaften Einschnitten in ihr Eigentum wiederfanden. Darum wehrt den Anfängen! Die jetzt programmierte Schieflage der Demokratie wird nicht bei den zur Zeit Wehrlosen halt machen. Sie könnte am Ende das ganze Schiff zum Kentern bringen.

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