Seinen gewichtigen Reden der vergangenen Wochen hat der Bundespräsident eine weitere hinzugefügt. Die Erklärung vom 4. April vor dem Europäischen Parlament fügt sich ein in die von Außenminister Fischer am 12. Januar 1999 am gleichen Ort eröffnete, seit dem Abschluss des Maastricht-Vertrages längst fällige Debatte über die inhaltliche und - das heißt auch verfassungsrechtliche - Ausgestaltung der Europäischen Union.
Der Maastrichtvertrag begnügt sich mit der Feststellung, die EU solle eine immer engere "Union der Völker" sein, "in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden". Möglichst bürgernah! Ein Rechtsbegriff von so weiträumiger wie verheißungsvoller Unklarheit! Kein Wunder, dass die Diskussion in den Mitgliedsländern und im Europäischen Parlament zunächst dominiert wurde von institutionellen Fragen, die sich aus der Einführung der Unionsbürgerschaft, dem Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments und der neuen Institution des Europäischen Bürgerbeauftragten ergaben.
Es waren die Verfassungsklagen des Liberalen Brunner und der deutschen Vertreter in der grünen Fraktion des Europaparlaments, die diese Debatte ins Grundsätzliche vertieften. Gerade die Position der Kläger gegen die Vereinbarkeit des Maastrichtvertrages mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik zeigten aufs Deutlichste, wie wenig selbst Europa-Abgeordnete die merkwürdige Zwiespältigkeit des dreigeteilten Maastrichtvertrages verstanden. Er regelt in seinem ersten, den EG-Vertrag integrierenden Teil die Struktur des Raumes ohne Binnengrenzen, bedient in seinem zweiten und dritten - die Außen- und Sicherheitspolitik wie die Innen- und Justizpolitik betreffenden - Teil aber ein, dem ersten widersprechendes Verfassungsprinzip: das der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Im Gegensatz zur Meinung der damaligen Kläger hat Maastricht die Position der nationalen Souveränitäten nicht etwa geschwächt, sondern zum dominierenden Prinzip der Verfassungsorganisation erhoben. Dies um so mehr, als die Fortentwicklung der Integration nach der "Methode Regierungskonferenzen" der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit anheim gegeben wurde. Eine Entscheidung, deren lähmende Konsequenzen die unbefriedigenden Ergebnisse der Konferenzen von Amsterdam 1997 und Nizza 2000 aller Welt vor Augen geführt haben. Selbst den beteiligten Regierungen sind sie nicht verborgen geblieben.
Es ist nun der rot-grünen Bundesregierung zu bescheinigen, dass sie inzwischen Europapolitik nicht mehr als Chefsache und Ressortpolitik des Auswärtigen Amtes betrachtet, die man an der Hand eines großen Bruders aus Frankreich oder den USA betreiben kann, sondern allein als Demokratie-Verantwortung europäischer Innenpolitik - im grenzfreien Raum der Union europäischer Völker. Es war daher eine nicht genug zu begrüßende Entscheidung, den ersten Schritt in dieses Neuland mit der Europäischen Grundrechtscharta zu tun, wie es Fischer Anfang 1999 in Straßburg vorschlug. Das zog sofort eine Verfahrensrevolution nach sich: Die Erarbeitung der Charta wurde dem aus Vertretern des europäischen und der nationalen Parlamente, Vertretern des Rates, der Kommission und Experten bestehenden Konvent übertragen. Damit war die "Methode Regierungskonferenzen" erstmals erfolgreich durchbrochen.
Johannes Rau kommt das Verdienst zu, diesen Durchbruch nicht nur als solchen erkannt, sondern ihn auch als ersten Schritt auf dem Weg in einen Verfassungsprozess verstanden zu haben, der die bisherigen Blockaden, wie sie aus dem Maastrichter "Intergouvernementalismus" und der Staatsfixierung des traditionellen Verfassungsrechts resultieren, hinter sich lassen muss. Die Föderation europäischer Staaten als Union der Völker - und damit eben nicht als "Vereinigte Staaten von Europa"! - zu schaffen, das wird niemals auf dem Weg von Regierungskonferenzen möglich sein. Dazu bedarf es eines neuen Konventes, der durch die Partizipation der Unionsbürger und -bürgerinnen erweiterte Kompetenzen erhalten hat. Rau hat ganz richtig gesehen, dass Europäische Kommission und Europäisches Parlament der bereits vorhandene Kern eines politischen Gemeinwesens sind, das weder Superstaat noch bloßer Staatenbund, sondern eine gemeinsame Integrationsinitiative der ihre Isolation hinter sich lassenden Nationen ist.
Man kann es nicht genug unterstreichen: Die Straßburger Initiative der Bundespräsidenten ist die einzig authentische Antwort auf die Vexierfrage nach dem Wesen der deutschen Nation. Die Deutschen können nur Nation sein im Kontext der Gemeinschaft mit Nationen, ohne die sie selbst bestenfalls eine "Einigung ihrer Stämme" sind, wie die Weimarer Reichsverfassung so treffend sagt. Nation wurden die Deutschen durch die Reformation, in der sie sich eine Verfassung gaben, die nicht mehr imperial, von Rom abhängig und darum von der politischen Unruhe entlastet war, welche Nachbarn im Westen oder Osten zu ihr gehören.
Die Deutschen sind darum nicht die "verspätete Nation" Plessners, der man einige chauvinistische Exzesse schon nachsehen darf. Sie sind Nation vielmehr im älteren, mittelalterlichen Sinne des Wortes, wo Nation Teil einer Universität und darum immer Gemeinschaft mit anderen Nationen bedeutete. Sollte dieses Verständnis von Nation nicht genau das sein, das wir für die Zukunft der EU als Union der Völker ins Auge fassen müssen? Ausgeschlossen ist der Begriff des nationalen Einheitsstaates aus dem 19. Jahrhundert, der nicht nur, aber gerade in Deutschland zum Sprengstoff wurde, weil er immer als ein Ausgrenzungs- und Apartheidsbegriff mit Leitkultur und aufgedonnertem und deswegen künstlichem Nationalstolz gewirkt hat. Im Sinne des partizipativen und konkordanten Nationalbegriffes artikulieren auch die Deutschen ihre eigene nationale Tradition, wenn sie die Unantastbarkeit der Menschenwürde - nicht der Deutschenwürde! - an die Spitze ihrer Verfassung stellen und sich definieren mit dem Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte.
Sie tun das als Nation der Reformation - wegen der Unveräußerlichkeit der individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit; als Nation der kulturellen Katholizität, wie sie Leibniz im Blick auf die Einheit einer überkontinentalen Kulturfreiheit suchte; als Nation eines ethischen Universalismus, wie ihn Kant wegen der Nichtinstrumentalisierbarkeit jedes Einzelnen und seiner Freiheit forderte; als Nation einer Kulturhumanität, wie sie Mozart und Beethoven wegen der gleichen Teilhabe aller am Schönen mit ihren Werken verfolgten. Derartiges ist mit dem Leitkulturstolz des "Deutschland, Deutschland über alles" gewiss nicht vereinbar. Eher schon mit dem "Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern woll´n wir sein..." Bertolt Brechts.
Was Johannes Rau in Straßburg gesagt hat, war in diesem Geist gesprochen und darum gewiss ein Hoffnungssignal für den Weg in die europäische Föderation. Zugleich hat der Präsident der Bundesrepublik Deutschland damit eine Klarstellung über den Platz unserer Nation in Europa vollzogen. Alle Verfassungsorgane, vor allem aber alle Bürgerinnen und Bürger sollten sich dafür einsetzen, dass diese Klarheit nicht durch nationalistische Kampagnen von welcher Seite auch immer getrübt werden kann.
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