Moderne Kreuzritter

Europa und seine Verfassung Wer den Osten des Kontinents verwestlichen will, wird die Spaltung nicht überwinden

Dass Europa mit Westeuropa identisch sei und Europäisierung darum nichts anderes als Verwestlichung bedeuten könne, das ist nach wie vor eine unangefochtene Selbstverständlichkeit unserer derzeitigen politischen Philosophie. Es ist dieselbe Art des Denkens und Handelns, die bis 1989 Westdeutschland mit Deutschland schlechthin gleichsetzte und an dieser Voraussetzung auch dann noch festhielt, nachdem seit Anfang der siebziger Jahre das Vorhandensein eines zweiten Deutschland wenigstens politisch akzeptiert werden musste.

Gerade hat eine Fernsehinszenierung, die den besten Deutschen per Zuruf meinte finden zu können, aufs Krasseste dokumentiert, dass es ein einheitliches deutsches Geschichtsbild nicht gibt. Eine westdeutsche Mehrheit hält Konrad Adenauer für den "genialsten, mutigsten, menschlichsten, weltweit wirksamsten" (so die Kriterien der Sendung) aller Deutschen, während die Ostdeutschen Karl Marx diese Stellung einräumten. Albert Einstein, der Kopernikus des 20. Jahrhunderts, musste froh sein, auf dem zehnten Rang der Bestenliste geduldet worden zu sein.

Was würde wohl zu Tage kommen, wenn diese Art medialer Meinungsforschung europaweit eröffnet würde? Hätten Dichter von der Größenordnung Puschkins, Dostojewskis, Mickiewiczs, Mandelstams, Pasternaks wohl je eine Chance, unter die ersten Zehn der Publikumslieblinge zu geraten? Wohl kaum, und so mag diese betrübliche Reflexion wenigstens ein Anlass sein, daran zu erinnern, dass der Fall des Eisernen Vorhangs im Herbst 1989 damals von allen Seiten als die historische Chance zur Überwindung der Spaltung Europas begeistert begrüßt wurde, so wie es die Präambel des Maastricht-Vertrages feierlich bekundet.

Dass dieser Vertrag eine Union der europäischen Völker nicht nur gründen wollte, sondern auch wirklich gegründet hat, das nahmen die "hohen, vertragschließenden Mächte" erst wahr, als sie nicht nur die Euro-Währung realisieren mussten, sondern sich auch noch mit dem vom EU-Parlament und von der EU-Kommission initiierten Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union konfrontiert sahen. Zuvor hatte schon ein ähnlicher Konvent, ebenfalls vom Parlament veranlasst, den Text für eine europäische Grundrechtscharta erarbeitet. Und hat man sich bereits vor Augen geführt, dass mit dem 1995 erfolgten EU-Beitritt Finnlands das Land EU-Mitglied wurde, von dem 1975 der Helsinki-Prozess seinen Ausgang genommen hat, der jenen Wandel im Ostblock einleitete, an dessen Ende die Auflösung der kommunistischen Diktaturen stand?

Leider haben die Transformationen in den mittelost- und südosteuropäischen Beitrittsländern im Westen alle Überzeugungen bestärkt, jene Prozesse beträfen allein die Beseitigung osteuropäischer Rückständigkeiten und bestätigten somit lediglich die Auffassung, Europäisierung, das sei nichts anderes als die nachholende Übernahme westlicher Modernität. Dass diese oft genug auch mit publizistischem Nachdruck geäußerten Überzeugungen geeignet waren, genau jenes Misstrauen zu schüren, das sich jetzt in zahlreichen Änderungsanträgen der Beitrittskandidaten am vorgelegten Konventsentwurf niederschlägt, wen wundert das? Ein wirksamer Abbau dieses Misstrauens wäre möglich gewesen, hätten Deutschland und Frankreich den Mut gefunden, bei der Stimmenverteilung zu bleiben, die in Nizza vor drei Jahren verabredet worden war.

Die "Kommunikationsprobleme", die nun angesichts des Verfassungsentwurfs zu Tage treten, haben allesamt ihre Ursache in dem kleineuropäischen Denken der Westeuropäer. Huntington, der Kulturkriegstheoretiker aus den USA, hat schon kurz nach dem Fall des eisernen Vorhangs in einem Essay die These verteidigt, die Grenze Europas sei identisch mit den Grenzen der lateinischen Kulturen, wie man an den damals sich schon abzeichnenden ethnischen Konfliktfronten in Jugoslawien ablesen könne.

So wenig man die These Huntingtons und noch viel weniger die aus ihr gezogenen Konsequenzen akzeptieren kann - ein Verdienst kommt ihr zu: Die Erinnerung daran, dass nicht die Grenzziehungen der Anti-Hitler-Koalition und auch nicht der Kommunismus es waren, die zu der mehr als vierzigjährigen Spaltung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg geführt haben.

Diese Grenzziehungen schlossen vielmehr an jene Spaltung der Kulturen in Europa an, die in den Jahrhunderten des 2. Jahrtausends östliche und westliche Christenheit getrennt haben, nachdem Karl der Große und seine Theologen die Christen des Ostens als Ketzer exkommuniziert, ihnen die Bürgerschaft im Römischen Reich abgesprochen und sie zu nichtrömischen Griechen degradiert hatten.

Es geschah während ökumenischer Verhandlungen auf Zypern, an denen ich als Vertreter des Lutherischen Weltbundes teilzunehmen hatte, dass einer meiner lutherischen Kollegen in den Ruf ausbrach: "Das wäre ja so, als ob wir einander wie Heiden behandelten." Da antwortete einer der orthodoxen Metropoliten lächelnd: "Ja merkt Ihr denn gar nicht, dass Ihr genau das Jahrhunderte hindurch mit uns gemacht habt?" Dieser Wortwechsel von 1983 erinnerte an das, was den östlichen Christen 1204 geschehen und keineswegs vergessen war: Ein Heer westlicher Kreuzritter - also eine Schar jener, die das Kreuz im Unterschied zum Kopftuch muslimischer Frauen zu einem Zeichen des Friedens und der Toleranz deklarierten und die angeblich zur Befreiung des Heiligen Grabes in Jerusalem aufgebrochen waren - überfiel und plünderte Konstantinopel, um anschließend in dieser Stadt eine Kolonialherrschaft über die östlichen Christen zu errichten.

Dass dieses Konstantinopel von 330 bis 1453 die Hauptstadt Europas war, scheint denen völlig entfallen zu sein, die heute den Ausschluss der Türkei aus Europa wegen deren kultureller Fremdheit fordern. Sie sollten sich lieber daran erinnern, dass Konstantinopel auch deswegen von den Türken erobert werden konnte, weil die dortigen Christen am Ende lieber bei geminderten Bürgerrechten unter türkischer Herrschaft ihren Glauben leben wollten, als unter der Tyrannei der Lateiner, die diesen Glauben verketzerten und das noch heute tun.

Darum sei hier zum Widerstand gegen alle jene aufgerufen, die in der Tradition religiöser Herrschaftsabsichten einen Gottesbezug an die Spitze der europäischen Verfassung stellen wollen. Sie verkennen nicht nur die Natur dieser Verfassung, indem sie sie nach dem Vorbild einer einzelstaatlichen betrachten. Sie sind auch unehrlich hinsichtlich ihrer Absichten. Die fromme Begründung, der Gottesbezug sei ein Appell zur Demut gegen die Versuchung menschlicher Hybris, vermag niemanden zu überzeugen, der die deutsche Debatte um den Gottesbezug der Grundgesetzpräambel miterlebt hat. Das ist nicht nur angesichts der zahlreichen Gottesbezüge in Hitlers aggressivsten Reden illusionär. Es ist auch unglaubwürdig, weil gerade die, die diese Forderung jetzt so hartnäckig vertreten, dass das Verfassungswerk an ihrer Unversöhnlichkeit zu scheitern droht, ausgerechnet jene sind, die sich in ihrer religiösen und politischen Hybris noch nie gescheut haben, die Glaubens- und Gewissensfreiheit ihrer Mitmenschen so einzuschränken oder ganz außer Kraft zu setzen, wie es der Kruzifixstreit gezeigt hat und der Kopftuchstreit gerade wieder demonstriert.

Nein, wer die fundamentalen Traditionen Europas nicht auf das ungehinderte Streben nach Glückseligkeit im liberalistisch-westlichen Sinne einengen will, der kann sich auch nicht auf Alibi-Forderungen wie den Gottesbezug im Verfassungstext stützen. Er muss vielmehr etwas erinnern, was jüngst Imre Kertesz in einem eindrucksvollen Berliner Vortrag betont hat. Er nannte den Sinai, Golgatha und Auschwitz die drei Fundamentalepochen Europas. Alle drei Orte liegen nicht in jenem Westen, der sich mit Europa identifiziert und seine Standards als die allein maßgeblichen ausgibt.

Sinai, der Ort der zehn Gebote, steht dafür, dass nicht das "Herr-Herr-Sagen" in und außerhalb der Verfassung den Menschen vor jenen Maßlosigkeiten der irreligiösen, aber auch der religiösen Hybris bewahrt, sondern allein der Gehorsam gegenüber allen Imperativen der Menschlichkeit - auch denen der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Golgatha mit dem Kreuz, das ist die unauslöschliche Erinnerung daran, dass auch die schimpflichste Misshandlung bis zum Justizmord am Galgen eine Menschenwürde nicht auszulöschen vermag, die nicht auf Schönheit und Erfolg, sondern auf Leiden und Erbarmen beruht.

Auschwitz aber, das Kennmal des 20. Jahrhunderts, bezeugt unwidersprechlich und unauslöschlich, was eintritt, wo den Imperativen der Menschlichkeit der Gehorsam gekündigt, Leiden und Erbarmen aber verworfen werden.

Alles Reden über eine europäische Wertegemeinschaft wird so lange phrasenhaft bleiben, wie es nur die westeuropäischen Überzeugungen festschreiben und durch Gottesbezüge religiös legitimieren will. Was Not tut, wenn wir die Jahrhunderte europäischer Kulturspaltung im 21. Jahrhundert endlich beenden wollen, das ist eine Perspektivenerweiterung, die den Osten Europas und seine Geschichte entdeckt, statt sie nur verwestlichen zu wollen.


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