Eigentlich sind alle Bürgerinnen und Bürger ständige Vertreter der Demokratie, deren Staatsgewalt ja nichts anderes sein soll als das Resultat ihrer Willenseinheit. Aber unter den Bedingungen einer politischen Philosophie, die genau diesen plebiszitären Ursprüngen misstrauisch bis feindselig gegenübersteht, weil sie Repräsentanz und ständige Vertretung zum Monopol der Parteien erheben will und auch tatsächlich erhoben hat, braucht eine Demokratie, die lebendig bleiben will, immer wieder solche, die sich weder bloß den gesellschaftlichen Mehrheiten beziehungsweise Minderheiten oder den Parteirepräsentanten zuordnen lassen. Für diese Leute ist das Vertretersein in der Demokratie eine individuelle Leidenschaft, die geradezu persönlichkeits- und charakterbestimmend werden muss. Dies gilt um so mehr, je weniger sie für ihr Engagement auf besondere Unterstützung rechnen können.
Günter Gaus hat zweifellos zu dieser dritten Spezies gehört, zu jener der "Ständigen Vertreter". Seine persönliche Besonderheit dabei war, dass er diese seine Rolle 1974 in amtlicher Eigenschaft übernahm. Als Staatssekretär der Brandt-Regierung wurde er als erster in ein Amt berufen, das eine Folge des Grundlagenvertrages war, mit dem die beiden deutschen Staaten 1972 eine singuläre und darum hochkomplizierte Form der wechselseitigen Anerkennung ausgehandelt hatten.
Beziehungen auf staatsrechtlicher Ebene, aber unterhalb der völkerrechtlichen, so lautete die Formel, deretwegen Gaus nicht Botschafter werden konnte, sondern "Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Deutschen Demokratischen Republik" bleiben musste.
Was aber ist der Unterschied zwischen einem Botschafter und einem "Ständigen Vertreter"? Der erstere ist Repräsentant eines einzigen Staates, der ihn entsandt hat und nichts außerdem. Ganz anders der "Ständige Vertreter" der Bundesrepublik in Ostberlin. Natürlich war auch er der Repräsentant Bonns. Aber wie er das war, das musste im Alltag der diplomatischen Praxis immer neu austariert werden. Während die DDR alles daran setzte, aus eigenem Aufwertungsinteresse den Status des "Ständigen Vertreters" möglichst weitgehend dem eines Botschafters, das heißt der völkerrechtlichen Ebene anzunähern, achtete die westdeutsche Seite aufs peinlichste darauf, Status und Praxis des "Ständigen Vertreters" auf die staatliche Ebene zu beschränken.
Gaus gelang es, die diplomatischen und protokollarischen Engpässe hinter sich zu lassen, indem er sein Amt vor allem politisch auffasste und ausfüllte und dabei mehr als ein Dutzend innerdeutscher Verträge aushandelte. Noch viel wichtiger aber war ihm, sich als "Ständiger Vertreter" auch der ostdeutschen Bevölkerung zu verstehen und zu bestätigen. Er gewann ein solches Ausmaß an Innensichten der DDR, wie es sonst höchstens einige westdeutsche Journalisten besaßen, mit dem er aber unter westdeutschen Politikern eine Einzelerscheinung blieb. Leider können wir ihn nicht mehr nach dem Echo fragen, das seiner Tätigkeit von Seiten der DDR-Bevölkerung antwortete. Ich fürchte aber, er würde zu antworten haben, dass gerade aus den Reihen der Dissidenten die Kritik an seiner Amtsführung überwog. Einer Amtsführung, die niemals aus den Augen verlor, was dem Amtsträger an Korrektheit abverlangt war, und daher zahlreiche, an sie herangetragene Wünsche nicht zu erfüllen vermochte.
Dieser Nachruf ist nicht der Ort, die Berechtigung solcher Kritik zu untersuchen. Eben deswegen will ich als ehemaliger DDR-Bürger die Gelegenheit ergreifen und auch im Namen meiner Landsleute erklären - wir konnten sehr wohl wahrnehmen, dass das MfS das Haus mit dem Bundesadler an der Hannoverschen Straße mit besonders vielen Horch- und Spähposten umgab, um DDR-Bürger abzuschrecken, von ihrem Zugangsrecht Gebrauch zu machen. Die "Ständige Vertretung" war für jeden DDR-Bürger sichtbarer Ausdruck dafür, dass der Brandt-Bahrsche "Wandel durch Annäherung" die Annäherung an die DDR-Bevölkerung und einen Wandel von deren Lebensumständen zum Ziel hatte und nicht etwa die Stabilisierung der SED-Diktatur.
Auch nach dem Ende seiner Amtszeit in der DDR blieb Gaus ein "Ständiger Vertreter", und zwar seit 1990 in verstärktem Maße einer neuen gesamtdeutschen Öffentlichkeit, deren Zustandekommen ohne Gaus nicht einmal gedacht werden kann. Während man heute in namhaften Presseorganen noch immer jenes Klischee von einer DDR-Bevölkerung zitiert, die "durch Indoktrination verdorben, notorisch obrigkeitsfromm, und initiativlos" sei, wurde Gaus nicht müde darauf hinzuweisen, dass die DDR nicht nur aus der SED und einer von ihr beliebig manipulierbaren Masse bestanden hat.
Die in seiner legendären Interview-Reihe enthaltenen Porträts mehr oder weniger prominenter Ostdeutscher belegen allesamt, welche Originale dem gesamtdeutschen Familienalbum fehlen würden, hätte Günter Gaus sich ihnen nicht zugewandt. Ich selbst verliere in ihm jemanden, der meine ostdeutschen Perspektiven auch dort zu verstehen vermochte, wo er sie sich unter keinen Umständen zu eigen machen wollte, wie im Fall der Stasi-Akten.
Gaus meinte, ihre Öffnung könne nur auf eine zusätzliche Rechtfertigung der Ideologen des Kalten Krieges und ihrer auch ohne die Aktenöffnung längst bekannten Klischees hinauslaufen. Ich glaube, dass er in dieser Hinsicht irrte. Die Akten erweisen sich als unbrauchbar für Verwertungsinteressen des Kalten Krieges.
In einer anderen Hinsicht allerdings dürfte Gaus Recht behalten. Die Aktenöffnung wird nicht als Pilotprojekt einer transparenteren Demokratie in die Geschichte eingehen. Eine im Banne des Anti-Terrorkampfes stehende Innenpolitik sucht Transparenz allenfalls in Maximalforderungen zur Bürgerüberwachung, keinesfalls aber in Transparenz staatlichen Handelns.
Es ist diese sich einerseits verbarrikadierende, andererseits sich auflösende Demokratie, der Gaus vor ein paar Monaten die Gefolgschaft öffentlich gekündigt und seine Wahlverweigerung vorausgesagt hat. Der ständige Vertreter einer ihre Selbstachtung aufgebenden Demokratie mochte Günter Gaus nicht sein. Aber ist er mit diesem Rücktritt nicht dennoch der ständige Vertreter derer, die sich schon während des Kalten Krieges wie auch durch seine Weigerung, den "Geßlerhut" der allerletzten Sieger der Geschichte zu grüßen, aufgerichtet fühlten?
Es sind diese Momente, die das Porträt von Günter Gaus in der Galerie des 20. Jahrhunderts verankern. Porträts eines Mannes, der sich in verschiedensten Umständen treu blieb als der ständige Vertreter einer Demokratie, die man zwar misshandeln, aber nicht zerstören kann, weil ständige Vertreter wie Gaus das jedes Mal verhindern werden.
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