Steht der Verlierer schon fest?

Europawahl 2004 Der Beteiligung kommt eine größere Bedeutung zu als Gewinnen oder Verlusten einzelner Parteien

Man könnte wirklich meinen, es könne nur ein die Demokratie fanatisch hassender Mephisto gewesen sein, der ein Szenario heraufbeschworen hat, geeignet, alle Zustimmung zur europäischen Demokratie in einer Lächerlichkeit untergehen zu lassen, wie sie der derzeitige Wahlkampf für die Neuwahl des Europäischen Parlaments auf Schritt und Tritt kennzeichnet.

Allabendlich treten die konkurrierenden Parteien im Fernsehen auf: Rollen, Kostüme, Texte - das alles ist uns nur zu bekannt. Die CDU versichert zum man weiß nicht wievielten Male, Rot/Grün sei an allem Schuld. Also brauche man sie nur abzuwählen. Die SPD versichert mit zahlreichen Köpfen, allein sie verfüge über das allseits erwünschte Innovationspotenzial. Die CSU ihrerseits plädiert für ein starkes Bayern und erklärt sich zu diesem Behufe gegen den EU-Beitritt der Türkei, für dessen Realisierung oder Nichtrealisierung sie gar nicht zuständig ist. Die FDP - vor nichts zurückschreckend, wie immer - fordert inmitten einer bis zur Desolatheit deregulierten Gesellschaft noch mehr Deregulierung. Und die Bündnisgrünen? Sie lassen es bei der Farbe Grün bewenden, weil sie - gegen die klaren Voten von Cohn-Bendit und der eigenen Basis - sich der antidemokratischen Mehrheit von Parteien angeschlossen haben, die aus Angst um den Besitz der Staatsgewalt lieber die verfassunggebende Gewalt der Bürger verneinen als ihre Erbhofhegemonie über den Staat im Geringsten einschränken zu lassen. Natürlich ist das alles seit Jahrzehnten sattsam bekannt. Aber was in aller Welt soll dieses Potpourri aus den Parteienleierkästen mit dem Europäischen Parlament zu tun haben? Offenbar ist die Nichtachtung des Wahlvolks so weit fortgeschritten, dass es niemand mehr für nötig hält, auf eine so lästige Frage einzugehen.

Also lassen wir im zweiten Akt dieser Demokratie-Tragödie die Wähler auftreten, denen unentwegt für die begehrten Stimmungsbilder Mikrofone unter die Nase gehalten werden. Ja, sagen diese Wählerinnen und Wähler, was diese Wahl des Europäischen Parlaments für die gemeinsame Zukunft der Europäerinnen und Europäer zur Folge haben mag, das bleibt für uns im Dunkel. Aber so viel ist uns schon klar geworden: Alle beschuldigen sich wechselseitig der vollständigen Inkompetenz hinsichtlich der ausstehenden politischen Aufgaben. Haben sie damit nicht auch alle miteinander und gegeneinander Recht? Man könnte sich nur blamieren, wollte man am Wahlzirkus dieses seltsamen Meinungsjahrmarktes teilnehmen. Also deutet sich jetzt schon an, dass mehr als die Hälfte aller Wähler diese Blamage durch Stimmenthaltung oder Nichtwählen wird vermeiden wollen.

Damit steht der Hauptverlierer der Wahl jetzt schon fest: das Europäische Parlament, dem einmal mehr von ziellosen Politikern jede Autorität in einem Maße abgesprochen wird, dass einer von ihnen, der selbst jahrelang eine nicht unmaßgebliche Rolle in diesem Parlament gespielt hat, kürzlich öffentlich behaupten konnte, wenn die vom Konvent entworfene Verfassung in Kraft träte, dann habe das bis dato zahnlose Parlament endlich einmal Milchzähne bekommen.

Was soll der Wähler von solchen Auskünften halten, die ihm nahe legen, ein kindisches Parlament zu wählen? Er sollte fragen: Nun erklärt mir erst einmal, ihr abgebrühten politischen Zyniker, wie ein zahnloses Parlament in der Lage war, 1999 einen Verfassungsprozess in Gang zu bringen, der erstmals seit 1806 Schritte eingeleitet hat, den mit dem Ende des Römischen Reiches und des Römischen Kaisertums eingetretenen Zustand europäischer Verfassungslosigkeit zu beenden, jenen Zustand, der 1914 in das Chaos und Verderben eines Weltkrieges mündete.

Um diesen Prozess in Gang zu bringen, musste das Europäische Parlament etwas realisieren, was zum Beispiel zahlreiche und bedeutende Verfassungsrechtler in Deutschland für schlicht unmöglich erklärt hatten: Es musste sich als Mund der Unionsbürgerschaft artikulieren und eine Charta der Unionsbürgerrechte auf die politische Tagesordnung setzen. Das wiederum verlangte einen Schritt, der im damaligen Verfassungsrecht der EU gar nicht vorgesehen war: die Einsetzung eines Gremiums, das unabhängig von den anderen Institutionen der Union zu Werke gehen konnte.

Auch wenn die Verfassungsinitiative des Europäischen Parlamentes sich in einem institutionellen Rahmen vollzog, der nach wie vor von den im Europäischen Rat vertretenen Regierungen der Mitgliedsländer dominiert wird - entscheidend für den Verfassungsprozess war nicht dieses Machtgefüge, sondern die Freiheit zu einer Initiative, die nur aus dem Parlament als der Vertretung der Unionsbürgerschaft im Ganzen und aus der Einsicht in den transnationalen Charakter von Gesetzgebung auf EU-Ebene kommen konnte.

Es ist das Europäische Parlament, an dem sich jeder Unionsbürger und jede Unionsbürgerin klarmachen kann, warum die berühmte Streitfrage, ob die EU ein Staatenbund oder ein Bundesstaat ist, eine sinnlose Frage ist. Die Europäische Union kann weder ein Bundesstaat noch ein Staatenbund sein oder werden, weil sie überhaupt kein Staat ist, sondern - wie der Verfassungsentwurf sagt - eine Doppelunion von Staaten und Völkern.

Darum liegen ihre Aktivitäten in einer Dimension über den Staaten, im Transnationalen. Das ist etwas völlig anderes als die Dimension zwischenstaatlichen internationalen Handelns und seines Vertragsrechtes. Die Europäische Union dagegen handelt durch Gesetzgebung in einem Bereich, der zur Zeit noch weithin chaotisch und strukturlos und darum der Tummelplatz internationaler Piraterie und mafioser Pseudostaatlichkeit ist. Offenkundig sind sich auch die führenden EU-Politiker im Unklaren darüber, dass das "Außen" der EU nicht das "Außen" der traditionellen Außenpolitik, sondern das transnationale Außen einer erst noch zu erschließenden Dimension von Staaten und Völkerkommunikation ist.

Es war vielleicht doch kein Zufall, dass das Konzept einer europäischen Verfassung, wie es der Kreisauer Widerstandskreis gegen Hitler entwickelte, den meines Erachtens entscheidenden Begriff der neuen, transnationalen Dimension politischen Handelns bereits 1942 formulieren konnte, indem seinerzeit davon gesprochen wurde, dass es nur einer genossenschaftlichen Wahrnehmung von Souveränität gelingen könne, das Dilemma der Alternative von Bundesstaat oder Staatenbund hinter sich zu lassen.

Von diesem Konzept aus gesehen kommt etwa der Friedensbewegung vom Februar 2003 gegen den Irak-Krieg eine ganz andere verfassungsrechtliche Relevanz zu, als alle diejenigen wahrhaben wollen, die derartige Manifestationen als "Straße" verunglimpfen, nur weil sie in den antiquierten Gleisen nationaler und internationaler Außenpolitiken verharren wollen.

Dass im Gefühl für diese Differenzen auch die Quellen zu suchen sind, aus denen sich der hartnäckige Widerstand gegen das Verfassungsreferendum speist, dürfte unstrittig sein. Insofern kommt dem Ausmaß der Wahlbeteiligung am Sonntag vielleicht größere Bedeutung zu als den Gewinnen oder Verlusten einzelner Parteien.


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