Vereinigte Staaten

EU-Verfassungsentwurf Nicht rechts, nicht links, sondern geradeaus nach Europa

Also doch: Es gibt Anzeichen dafür, dass wir endlich im Begriff sind, auch politisch im 21. Jahrhundert anzukommen. Valéry Giscard d´Estaing, der wegen seiner konservativen Grundhaltung bekannte Vorsitzende des EU-Verfassungskonvents, hat einen Entwurf vorgelegt, der dokumentiert, dass wir nicht nur auf das historische Ereignis des Beitritts der osteuropäischen Länder zugehen. Auch die in Maastricht 1992 nur programmierte Überführung der Europäischen Gemeinschaften in eine wirkliche Politische Union wird mit diesem Verfassungsentwurf zur unwiderruflichen Richtungsentscheidung.

Während deutsche Verfassungsrechtler noch immer all ihren Scharfsinn aufbieten, um - wie im Fall der deutschen Vereinigung - über die Köpfe aller Unionsbürger hinweg die Unmöglichkeit einer EU-Verfassung zu dekretieren, weil der ein Staatsvolk und die nötige kulturelle Homogenität fehle, wagt es Giscard, den mittlerweile von Euroskeptikern gründlich in Misskredit gebrachten Namen der "Vereinigten Staaten von Europa" wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Er signalisiert damit, in welche Richtung er die Verfassungsarbeit zu führen gedenkt.

All das ist nichts weniger als selbstverständlich. Mussten wir doch seit der Entmachtung Michael Gorbatschows, des entschiedenen Befürworters eines "Hauses Europa", erleben, wie der gesamte Westen geradezu schlagartig vergaß, was er seit Beginn des Helsinki-Prozesses 1975, an dem auch die USA beteiligt waren, in Sachen europäische Einheit gegen Mauer und Abgrenzungspolitik gedacht und beschlossen hatte. Die Westeuropäer, zu Traditionen ihrer Hegemoniepolitik zurückgekehrt, unterstützten nicht die sich abzeichnende Demokratisierung im einstigen Ostblock, sondern förderten nach Kräften nationalistische Separatismen und Zerfall - besonders in der Sowjetunion und in Jugoslawien - mit allen inzwischen eingetretenen katastrophalen Folgen. All das dank einer Weichenstellung auf ausgefahrenen Gleisen des 19. Jahrhunderts, auf denen etwa die deutsche Unterstützung für den kroatischen und die britische für den serbischen Separatismus gefahren war.

Analog zu diesem Rückmarsch in die Außenpolitik des 19. Jahrhunderts vollzog sich eine geradezu gespenstische Tendenzwende in der öffentlichen Meinung über Krieg und Frieden. Die von der Anti-Hitler-Koalition vollzogene Verurteilung des Krieges als Instrument internationaler Politik, die zur Gründung der UNO mit dem Ziel eines Gewaltmonopols für sie geführt hatte, wurde auf einmal als Utopie kriegsmüder Schützengraben-Veteranen abgetan und die altimperialistische Losung "Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor!" als Axiom einer "neuen Politik" aus der Versenkung geholt.

Und ist die Proklamation einer "Heiligen Allianz" gegen den Terrorismus mit der Renaissance der blindesten religiösen Fundamentalismen, der kampflos hingenommenen Außerkraftsetzung des Strafrechts etwas Anderes als eine Neuauflage der Metternich-Politik antidemokratischer Restauration im Zeitalter der Karlsbader Beschlüsse?

Leider hatte der EU-Vertrag von Maastricht eine verhängnisvolle Zweideutigkeit hinsichtlich des Ziels der Einigung Europas heraufbeschworen. Er ließ offen, ob dieses Ziel eine neue Politische Union oder lediglich eine intensivierte zwischenstaatliche Zusammenarbeit sein sollte. Der erste Schritt über diese Zweideutigkeit hinaus wurde mit der Einberufung eines völlig neuen Gremiums getan, des mehrheitlich von Parlamentariern besetzten Konventes. Mit der rechtzeitig vor der Ratstagung von Nizza im Dezember 2000 abgeschlossenen Erarbeitung einer europäischen Grundrechtscharta konnte das erste Element einer EU-Verfassung geschaffen und damit der Weg zu einem Prozess eröffnet werden, an dessen Ende mit einer demokratisch verabschiedeten Verfassung für die EU ein neuer Typ von transnationaler politischer Institution verwirklicht sein wird.

Es ist dieser Hintergrund, auf dem der Umstand, dass ein Politiker wie Giscard d´Estaing dem Konvent einen Verfassungsentwurf präsentiert, eine besondere Signalwirkung zukommt. Ist dieser Schritt doch eine Vorentscheidung zugunsten einer realen Politischen Union, deren Tragweite nicht leicht überschätzt werden kann. Das zeigt sich auch darin, dass Giscard den von allen Euroskeptikern - namentlich den Briten - geradezu gehassten Begriff einer "föderalen" Ordnung der künftigen Union in seinen Entwurf aufgenommen hat.

Der fundamentale Charakter dieser Entscheidung sollte viel ernster genommen werden als der spektakuläre Vorschlag Giscards, mit einem aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments wie der nationalen Kammern bestehenden "Völkerkongress" eine neue Institution zu schaffen, deren einziger Zweck die Wahl eines EU-Präsidenten sein sollte. Dass Thronanwärter auf diese Präsidentschaft Gefallen an einem solchen Vorschlag finden, lässt sich denken. Aber seine Realisierungschancen sind gering. Er wäre eine Zäsur des derzeitigen Systems der EU. Darum darf man in diesem Vorschlag eine Nachwirkung jener Initiative sehen, mit der Giscard seinerzeit die von de Gaulle ausgelöste Krise der EG durch die Einrichtung des Europäischen Rates als ständiger Institution der Mitgliedsländer zu überwinden wusste. Dieser Rat wurde auf eine Weise zum Herrn der EU-Verträge, dass erst der Maastrichtvertrag von 1992 einen neuen Schritt mit der intendierten Gründung einer Politischen Union zu tun vermochte.

Daniel Cohn-Bendit hat jüngst in einem Vortrag erklärt, worauf der progressive Charakter der EU beruht: auf ihrer Doppelnatur als Union der Unionsbürger und als Union ihrer Staaten. Er wies darauf hin, dass die EU in dieser Eigenschaft so etwas wie die einzig angemessene Antwort auf die osteuropäischen Revolutionen in Ungarn 1956, der C?SSR 1968, in Polen 1988 gewesen sei. Man könnte hinzusetzen: Die Wahllosung der DDR-Bürgerbewegung Bündnis 90 "nicht rechts, nicht links, sondern geradeaus nach Europa" war wahltaktisch gewiss ein Misserfolg - als Definition dessen, was Fortschritt im 21. Jahrhundert heißen kann, dürfte sie nach wie vor uneingeschränkt gültig sein.

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