"Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" - mit diesen Worten beendet der Wiener Journalist und zweitklassige Literat Theodor Herzl sein Buch Der Judenstaat. Als es erscheint, schreibt man das Jahr 1896. Wenig mehr als ein halbes Jahrhundert später wird der "Judenstaat" gegründet. Heute ist Israel der mächtigste Staat im Nahen Osten und verfügt über die Atombombe. Die Roma - der Singular heißt "Rom" und meint "Mensch" - besitzen weder einen Staat noch ein Pendant zu Theodor Herzl. Was verbindet sie mit dem Zionismus?
Nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens am 1. Januar 2007 leben nunmehr etwa zehn Millionen Roma in der EU. Auf dem Papier gleichberechtigte Bürger Europas, werden sie tatsächlich vielfach diskriminiert und in einigen Länder
nigen Ländern verfolgt, vorzugsweise in Osteuropa. Die Lage der Roma in Rumänien oder der Slowakei erinnert an das Schicksal osteuropäischer Juden zu Herzls Zeiten. Vergleichbar mit dem damaligen Antisemitismus erscheint der gegenwärtige Antiziganismus - die Feindschaft gegenüber den Roma.Wie andere Zionisten auch sah Herzl in den Juden keine Religionsgemeinschaft, sondern ein Volk. Gleiches trifft ebenso auf die Roma zu, die ursprünglich aus Indien kamen und im 14. Jahrhundert nach Europa einwanderten. Sie verfügen über eine eigene Sprache, das Romanes, eng dem altindischen Sanskrit sowie dem neuindischen Hindi verwandt und von nahezu allen der heutigen europäischen Roma verstanden und gesprochen.Ganz anders die meisten Juden vor 100 Jahren: Sie mussten das Ivrit genannte Neuhebräisch erst lernen, selbst viele Zionisten, Herzl eingeschlossen, beherrschten es nicht. Allerdings gehören die europäischen Roma nicht einer, sondern mehreren Religionsgemeinschaften an. Ungeachtet dessen bilden Juden wie Roma jeweils ein Volk mit eigener Sprache, eigener Kultur und - meist leidvoller - Geschichte.Können und wollen die Roma - wie die Juden - zu einer Nation werden? Augenscheinlich verfolgen die in Deutschland lebenden Roma keine derartigen Ambitionen. Wie Dänen, Friesen und Sorben gelten sie als nationale Minderheit und nennen sich "deutsche Sinti und Roma". Die Doppelbezeichnung entstand, weil jene Roma, die schon seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland siedelten, zum Stamm der Sinti gehörten. Sinti verhalten sich zu Roma ähnlich wie Bayern zu Deutschen. Dieser Vergleich ist auch deshalb berechtigt, weil sich die Sinti trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen mit ihrer deutschen Heimat verbunden zeigen und als Deutsche betrachten. Auch die Juden zu Herzls Zeiten fühlten sich Deutschland verbunden, dessen Staatsbürger sie waren. Dem Zionismus als der jüdischen Nationalbewegung tat das keinen Abbruch. Kann sich das bei den Roma wiederholen? Gibt es eine Nationalbewegung der Roma - einen "Roma-Zionismus"?Entsprechende Bestrebungen sind so alt wie der Zionismus. Schon 1878 veranstaltete der deutsche Sinto Josef Reinhardt einen internationalen Roma-Kongress in Cannstadt bei Stuttgart. 1925 gründete Nikolai Pankow in der Sowjetunion eine staatlich anerkannte Allrussische Zigeuner-Union. Sein Roma-Landsmann Steve Kaslow rief Anfang der dreißiger Jahre einen ähnlichen Zusammenschluss in den USA ins Leben. 1933 erlebte Bukarest einen Internationalen Roma-Kongress mit Delegierten aus neun Ländern. Dies alles war jäh vorbei, als mit dem Zweiten Weltkrieg der Völkermord an den Roma begann, der im Romanes als Porrajmos - "das Verschlungene" - bezeichnet wird.Erst 1956 wagen die Gebrüder Oskar und Vincenz Rose wieder einen Schritt der Integration und gründen in der Bundesrepublik Deutschland einen Verband rassisch Verfolgter nichtjüdischen Glaubens, der aber nicht lange besteht. Erfolgreicher ist Oskar Roses Sohn Romani, der ab 1978 den Zentralrat deutscher Sinti und Roma aufbaut und 1982 beziehungsweise 1985 erreicht, dass die Regierungen Schmidt und Kohl den Genozid an den Roma offiziell anerkennen. Bundespräsident Herzog erklärt 1997 sogar: Der Völkermord an den Juden und jener an den Roma waren gleichartig. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Rose bewirkt, dass sich die Bundesrepublik offiziell zum Minderheitenstatus der deutschen Sinti und Roma bekannte.Andere Roma streben nach mehr. Schon in den siebziger Jahren wollten die "Weltkongresse der Roma" eine Roma-Nation schaffen oder "erfinden" (Benedict Anderson). Zu diesem Zweck kreierte man eine blau-grüne Nationalfahne und rief dazu auf, einen "Romanestan" genannten Roma-Staat zu gründen. Dies sollte offenkundig in der indischen Urheimat der Roma geschehen, wie das Hindu-Symbol im Zentrum des neuen Banners nahe legt. Parallelen zur Nationalbewegung der Juden waren unübersehbar.Von der seinerzeit mutmaßlich erwogenen Rückkehr nach Indien redet heute keiner mehr - die Idee von der eigenen Nation lebt fort. Dass sie allerdings dem jüdischen Paradigma folgt und durch einen Nationalstaat Gestalt annimmt, erscheint im Augenblick zumindest so utopisch wie einst Herzls "Märchen vom Judenstaat". Bislang zieht kein Roma-Aktivist einen solchen Schritt in Betracht, doch die Vorstellung kursiert, einen nicht-territorialen Roma-Staat auszurufen und die Anerkennung der Roma als einer der constituent nations of Europe (also einer europäischen Nation) voranzutreiben. Vielleicht sind die Roma klüger als alle anderen europäischen Völker, indem sie das Stadium der Nation überspringen und gleich zu Europäern werden.Was geht uns, die wir in der Sprache der Roma gadsche genannt werden, das alles an? Sehr viel, denn die Lage der Roma ist nahezu überall in Europa extrem schlecht, was für die Bundesrepublik nur bedingt zutrifft, da hier nahezu alle Roma sesshaft sind und in der Regel einem Beruf nachgehen. Nicht wenige jedoch sind arbeitslos und von der Sozialfürsorge abhängig.Sehr viel prekärer sieht es in Osteuropa aus, wo in einigen Regionen tatsächlich noch nichtsesshafte Roma leben, teilweise in einer Größenordnung von bis zu 40 Prozent der jeweiligen Roma-Community. Die Sesshaften wiederum leben oft unter miserablen sozialen Verhältnissen und sehen sich systematisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Das beginnt schon mit der Diskriminierung für Roma-Kinder, die kaum beschult oder - häufig ohne Grund - in Sonderschulen abgeschoben werden.Vielfach schlägt die Diskriminierung in brutale Verfolgung um, die in einigen Staaten pogromartige Züge annehmen kann. Prinzipiell verpflichtet die Kopenhagener Erklärung von 1993 alle EU-Mitglieder, die nationalen Minderheiten zu schützen. Besonders Rumänien und Bulgarien sind freilich weit davon entfernt, diesem Gebot Genüge zu tun. Warum die EU das toleriert und - was die Behandlung der Roma angeht - bei seinen Neumitgliedern nach dem Prinzip der Double Standards verfährt, bleibt unerfindlich. Bestenfalls kann es mit den allenthalben grassierenden Vorurteilen gegenüber Roma erklärt werden. Nach jüngsten Umfragen pflegen zwischen 64 und 68 Prozent der Deutschen antiziganistische Einstellungen, während in Rumänien 75 Prozent und in der Slowakei 87 Prozent der Mehrheitsbevölkerung als Antiziganisten gelten - der Antiziganismus scheint zum kulturellen Code der europäischen Mehrheitsgesellschaft avanciert zu sein.Für all das sind nicht die Roma, sondern wir verantwortlich. Es kann daher nicht verwundern, wenn Gegenreaktionen nicht ausbleiben. "Bald schlagen wir zurück!", erklärte mir jüngst ein verbitterter Roma-Aktivist und Bürgerrechtler aus Rumänien, wo über eine Million Roma den schlechtesten Lebensbedingungen in ganz Europa ausgesetzt sind. Noch ist es nicht so weit, bislang scheint keine "Roma-Intifada" in Sicht. Ein "Roma-Zionismus" hingegen existiert - es handelt sich um eine Roma-Nationalbewegung, die genauso legitim ist wie die übrigen europäischen Nationalbewegungen einschließlich der jüdischen. Sie setzt auf jene zehn Millionen, die formal EU-Bürger sind, real aber diskriminiert werden. Europa muss sich der Erniedrigten annehmen, bevor es zur Katastrophe kommt. Niemand soll dann sagen, er habe das alles nicht gewusst.Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehört: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland (2007) sowie Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse (2005). Im März 2007 erscheint Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute.