Bedingt demokratisch

1962 Mit der Spiegel-Affäre kommt es zu einem Skandal, wie ihn die Bundesrepublik noch nicht erlebt hat. Der danach gern reklamierte Liberalisierungsschub bleibt aus

Die Bundeswehr war 1962 nur „bedingt abwehrbereit“. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, einen (vermuteten!) Angriff der Truppen des Warschauer Paktes abzuwehren. Zu dieser Einschätzung der Lage in einem wohlgemerkt vermuteten Konfliktfall hatte das NATO-Herbstmanöver Fallex 62 geführt. Das war allgemein bekannt und wurde auch einigen Journalisten des Magazins Der Spiegel bekannt gemacht. Sie verwerteten die ihnen von einigen Militärs zugesteckten Informationen für einen Artikel, der am 8. Oktober 1962 unter der Überschrift „Bedingt abwehrbereit“ veröffentlicht wurde. Dies geschah freilich erst, nachdem sein Inhalt wiederum mit Militärs und Politikern abgesprochen, dazu vom Bundesnachrichtendienst (BND) überprüft worden war. Es handelte sich um eine höchst merkwürdige, ja eigentlich skandalöse journalistische Praxis, die es in einer vollendeten Demokratie nicht geben sollte. Diesem Anspruch genügte die Bundesrepublik nicht – sie war nur bedingt demokratisch.

Schließlich griff der Staat ein und machte aus der Spiegel-Affäre einen Staatsskandal. Es kam dazu, als am 28. Oktober 1962 normale und Sondereinheiten der Polizei wie die „Sicherungsgruppe Bonn“ die Redaktion des Spiegel besetzten, Dokumente konfiszierten und Journalisten verhafteten, darunter den Herausgeber und Chefredakteur Rudolf Augstein.

Das Szenario erinnerte die Zeitgenossen an Vorgänge, wie sie sich 29 Jahre zuvor in ähnlicher Form in den ersten Monaten der NS-Diktatur abgespielt hatten. Doch lassen wir diesen möglicherweise unzulässigen Vergleich zwischen einer deutschen Diktatur und einer deutschen Demokratie und widmen uns zunächst der Frage, warum der Staat so spät zugriff. Was war zwischen dem 8. Oktober 1962, als die „Bedingt abwehrbereit“-Nummer des Magazins erschien, und den überfallartigen Festnahmen und Durchsuchungen Ende Oktober geschehen? Um die Frage zu beantworten, müssen wir unseren Blick vom nebligen Hamburg auf das sonnige Kuba richten. Hier hatten die Sowjets Abschussvorrichtungen für Mittelstreckenraketen installiert. Von denen hätte, wären sie mit Atomköpfen bestückt worden – was bekanntlich nicht passiert ist – eine direkte Bedrohung der USA ausgehen können. Die so hervorgerufene neue militärische Lage hätte eine neue militärische Strategie der NATO erfordern können. Im englischen Kauderwelsch des Nordatlantikpaktes gab es die bereits unter dem Label preemptive strike – sie meinte einen präventiven Atomkrieg. Tatsächlich haben den seinerzeit NATO-Generäle ernsthaft erwogen und vorgeschlagen – nicht zuletzt unter Verweis auf die Lehren des NATO-Herbstmanövers Fallex 62. Ihrer Auffassung schloss sich der damalige westdeutsche Verteidigungsminister an. Sein Name war Franz Josef Strauß.

Hier schließt sich der Spiegel-Kreis. Im bewussten Artikel war die Preemptive-Strike-Strategie zwar mit keinem Wort erwähnt worden, man hätte sie aber zwischen den Zeilen lesen und folgende Forderung aufstellen können: Anstatt einen Angriff der Truppen des Warschauer Paktes mit konventionellen Waffen abzuwehren, sollte die NATO lieber mit atomaren angreifen.

Haltet den Dieb!

Ein präventiver Atomkrieg verstieß allerdings gegen nationales und internationales Recht. Immerhin war die „Vorbereitung eines Angriffskrieges“ vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal 1945/46 geächtet worden. Angeklagt, einen Angriffskrieg geplant und ausgelöst zu haben, waren von diesem Gericht Generäle und Politiker Hitlers als Kriegsverbrecher zum Tode beziehungsweise zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Das wollten sowohl die alten wie die neuen Generäle und Politiker der Bonner Republik unbedingt vermeiden. Daher – um von sich und ihrer Schuld abzulenken – riefen sie „Haltet den Dieb!“ und verlangten, diesen vermeintlichen Dieb in Haft zu nehmen. Gemeint war der Spiegel.

Die Spiegel-Redakteure wurden aber nicht wegen Diebstahls von irgendwelchen geheimen Dokumenten (die waren ihnen ja von den Generälen und Politikern ausgeliefert worden), sondern wegen Landesverrats verhaftet. Dabei handelte es sich um ein Vergehen, das von den autoritären und zutiefst antidemokratischen Vorgängern der Bundesrepublik erfunden, ins Strafgesetzbuch geschrieben und für antidemokratische und zutiefst verbrecherische Zwecke und Ziele genutzt worden war.

Dennoch und obwohl der entsprechende Paragraf 94 des deutschen Strafgesetzbuches von den siegreichen Alliierten kassiert wurde, hatten ihn die demokratische Bundesrepublik wie die diktatorische DDR wieder in Kraft gesetzt und für Zwecke verwandt, die fundamentalen demokratischen Grundsätzen widersprachen. Dies war nicht nur, aber besonders beim Spiegel-Skandal der Fall. Bei dem es sich genau genommen gleich um mehrere Skandale handelte. Zu der unrechtmäßigen Festnahme der Spiegel-Redakteure in Deutschland durch deutsche Polizisten kam die Verhaftung des Spiegel-Redakteurs Conrad Ahlers in Spanien durch spanische Polizisten. Schon dies war empörend. Noch empörender war jedoch, dass die Verhaftung von Ahlers durch die Handlanger eines faschistischen Staates erfolgte, womit man es bei Francos Spanien zweifellos zu tun hatte.

Ungeachtet dessen unterhielt die Bundesrepublik enge Beziehungen zu Francos Diktatur – dies nicht nur in politischer und wirtschaftlicher, sondern auch in militärischer Hinsicht. Kurz zuvor hatte man sich in Bonn sogar um Militärbasen auf der Iberischen Halbinsel bemüht. Es lässt sich zumindest vermuten, dass die Geheimdienste beider Länder recht gut miteinander konnten. Ohne diese Kooperation hätte es nicht zur sofortigen Festnahme von Ahlers kommen können.

Damit war die Skandal-Kette noch nicht zu Ende. Skandalös und eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig war ferner, dass einige der Ende Oktober 1962 verhafteten Journalisten erst im Februar 1963 wieder auf freien Fuß kamen, obwohl es von Anfang an außer Frage stand, dass sie in keiner Weise für die ihnen angelasteten Vergehen verantwortlich waren. Hier saßen völlig Unschuldige in Haft. (Einige von ihnen teilten dieses Schicksal mit Personen, die nach und wegen des KPD-Verbots von 1956 zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren.)

Vieles vergessen

Mindestens ebenso skandalös war es, dass die am Spiegel-Skandal wirklich schuldigen Politiker und Polizisten ihre nur kurz unterbrochene berufliche und politische Karriere fortsetzen konnten. Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß wurde zwar von Kanzler Adenauer entlassen, stand aber bei der Bundestagswahl 1980 kurz davor, selbst Regierungschef zu werden.

All das scheint heute vergessen. Der Ausgang der Spiegel-Affäre wird landauf und landab und in nahezu allen Medien als Beweis für die Festigkeit der westdeutschen Demokratie und ihre Überlegenheit gegenüber der ostdeutschen Diktatur gefeiert. Letzteres ist sicher richtig. Doch hat die Spiegel-Affäre wirklich einen „kräftigen Liberalisierungsschub“ gebracht, wie der Historiker Heinrich August Winkler meinte?

Hier sind Zweifel angebracht. Immerhin blieb vieles von dem dauerhaft beschädigt, was im Herbst 1962 Schaden genommen hatte. Die demokratischen Rechte und Freiheiten der Bundesbürger sind nicht erweitert, sondern eingeschränkt worden. „Mehr Demokratie“ hatte Willy Brandt versprochenen – es wurde weniger: Man denke an die Notstandsgesetze, Berufsverbote, ein beschnittenes Demonstrationsrecht, gestärkte Verfassungsschutzbehörden oder die Perfektionierung von staatlichen Überwachungsmethoden. All das hat es nach und trotz der Spiegel-Affäre gegeben – und gibt es immer noch. Ein Ende und die wirkliche Wende zum Guten und Demokratischen sind nicht abzusehen.

Wolfgang Wippermann schrieb zuletzt über das Luxemburger Abkommen von 1952 zur Entschädigung verfolgter Juden

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