In der Hierarchie der Opfer ganz unten

Genozid Die Sinti und Roma nutzen die Erinnerung an den Völkermord der Nazis als politisches Instrument. Das mag manchen nerven – ist aber zu akzeptieren

Die Mörder haben sich zu ihrer doppelten Schuld bekannt. „Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden“, erklärte der Leiter der Einsatzgruppe D, als er von den alliierten Anklägern gefragt wurde, ob Roma „wie die Juden“ ermordet worden seien.

Die alliierten Richter haben das ebenso gesehen. Sie haben den Massenmord an den Roma, der in ihrer Sprache – dem Romanes – „Porrajmos“ (das Verschlungene) genannt wird, als Völkermord eingestuft und damit auf eine Stufe mit dem Genozid an den Juden, der „Shoah“ (Katastrophe) gestellt. Allerdings haben sie weitgehend darauf verzichtet, die Täter zu bestrafen und die Opfer zu entschädigen.

Dies haben sie den Deutschen überlassen. Und die weigerten sich, beides zu tun. Der Porrajmos ist nicht zum Gegenstand von Gerichtsverfahren geworden. Die meisten Täter sind nicht bestraft worden. Einige konnten sogar ihre Karriere fortsetzen. Von den Opfern des Porrajmos und ihren Angehörigen haben bisher auch nur die deutschen eine Entschädigungszahlung erhalten. Und dies auch erst spät. Hatte der Bundesgerichtshof doch 1956 höchstrichterlich entschieden, dass die Roma nicht unter „rassenideologischen Gesichtspunkten“, sondern wegen ihrer „asozialen Eigenschaften“ verfolgt worden seien.

Dieses krasse Fehlurteil ist zwar in der Folgezeit etwas revidiert worden, weshalb dann doch einige deutsche Sinti und Roma in den zweifelhaften Genuss der „Wiedergutmachung“ gelangt sind. Doch dies galt und gilt bis heute nicht für die ausländischen Roma. Von ihnen hat kaum jemand „Wiedergutmachung“ erhalten. Dies wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Die Bundesrepublik Deutschland hat nämlich bis heute kein international gültiges und rechtlich verbindliches Abkommen mit den Repräsentanten der Roma abgeschlossen. Bei den Juden war dies anders. Mit ihren Repräsentanten und dem Staat Israel ist schon 1952 ein entsprechendes Abkommen zu Stande gekommen, das nach dem Verhandlungsort als das Luxemburger Abkommen bezeichnet wird.

Doppelte Schuld

Wer war und ist an der Ungleichbehandlung von Juden und Roma schuld? Nur die Juristen und Politiker? Nein. Auch, ja vornehmlich die Historiker. Denn die haben sich zunächst überhaupt nicht und dann sehr vorurteilsbehaftet mit der Geschichte des Porrajmos beschäftigt. Dies hat sich erst seit den 1980er Jahren geändert. Verschiedene jüngere Historiker aus dem In- und Ausland brachen das Schweigen und arbeiteten in mühseliger Quellenarbeit heraus, dass der Porrajmos sehr wohl mit der Shoah vergleichbar ist: Beide Genozide waren intendiert, rassistisch motiviert und zielten auf eine totale Vernichtung beider Ethnien ab.

Doch diese bereits erzielten Erkenntnisse sind in den vergangenen Jahren wieder in Frage gestellt worden. So wird bezweifelt, ob die Verfolgung und Vernichtung der Roma wirklich rassistisch motiviert war. Waren, wenn nicht alle, so doch einige nicht doch „Asoziale“? – wird keineswegs nur hinter vorgehaltener Hand gefragt. Sind wirklich alle Roma mit der gleichen Intensität verfolgt worden? Hat man in Deutschland die „reinrassigen“ und im Osten die sesshaften Roma wenn schon nicht geschützt, so doch ausgespart? Hat es wirklich einen umfassenden Plan zur Ermordung der Roma gegeben? Schließlich sind die Roma, anders als die Juden, von Hitler nur am Rande erwähnt worden.

Doch wichtiger als diese leicht zu widerlegenden historischen sind die geschichtspolitischen Argumente, die gegen die These von der Vergleichbarkeit von Shoah und Porrajmos vorgebracht werden. An erster Stelle steht das, wie soll man sagen, Dogma von der absoluten Singularität der Shoah. Es ist umstritten. Auch in Israel. Hier haben einige der jüngeren israelischen Historiker auf die politische Instrumentalisierung der Singularitätsthese durch israelische Politiker hingewiesen, welche mit dem Hinweis auf die Shoah nicht nur das Existenzrecht, sondern auch die Innen- und Außenpolitik Israels legitimiert haben.

Ein schwieriges, weil auch von Antisemiten verschiedener Couleur genutztes Feld, die mit der These von der Instrumentalisierung der Shoah auch seine Existenz in Frage stellen. Dies ist natürlich mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen. Gerade hier in Deutschland und von „uns Deutschen“.

Denn schließlich waren „wir“ es, welche die Juden ermordet haben. Aber eben auch die Roma. Und zu dieser doppelten Schuld müssen „wir“ uns bekennen. Schließlich wird sie durch die Tatsache, dass „wir“ nicht einen, sondern zwei Völkermorde begangen haben, nicht geringer.

Geschichte als Kampfmittel

Daher darf es auch keine Hierarchisierung der Opfer geben. Doch genau das ist bereits geschehen. Einmal in unseren Schulbüchern, in denen, wenn überhaupt, der Genozid an den Roma nur am Rande erwähnt wird. Zum anderen durch die Errichtung von Denkmälern, welche, wie das Berliner Holocaustdenkmal, bewusst nur den „ermordeten Juden Europas“ gewidmet ist.

Das haben die Repräsentanten der deutschen Sinti und Roma scharf kritisiert und eine Gleichbehandlung gefordert, was ihnen letztlich verwehrt wurde. Stattdessen sollen sie – es ist bekanntlich immer noch nicht fertig gestellt – ein eigenes Denkmal erhalten, das aber, weil baulich viel kleiner, den fatalen Eindruck hervorruft, als ob auch der Völkermord an den Roma kleiner als der an den Juden gewesen ist.

Der Porrajmos ist zu einem Gegenstand der Geschichtspolitik geworden. Nicht nur der deutschen, sondern auch der Geschichtspolitik der Roma. Ist der Porrajmos und die Erinnerung an ihn doch zu einem konstitutiven Bestandteil ihres Geschichtsbewusstseins und ihrer kollektiven Identität geworden. Deshalb wird an ihn im nationalen und internationalen Rahmen auf Konferenzen und an Gedenktagen immer wieder erinnert. Doch nicht nur das. Ganz offen wird auch Geschichtspolitik betrieben. Dies mit dem Ziel, die rechtliche und soziale Lage der gegenwärtigen Roma in den einzelnen Ländern zu verbessern und auf der internationalen und europäischen Ebene mehr Mitspracherechte zu erhalten. Das mag einigen Nicht-Roma missfallen, ist aber dennoch oder gerade deshalb zu akzeptieren.

Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin und Autor des Buches Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich (Berlin 2005)

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