Lediglich einigen „besonderen Beschränkungen“ seien die „Zigeuner“ vor und während der NS-Zeit unterworfen worden, nicht etwa systematischer Verfolgung – so sah es der Bundesgerichtshof in einem am 7. Januar 1956 gefällten Grundsatzurteil. Damit wurde die Diskriminierung der Roma in der Weimarer Republik legitimiert. Waren sie doch einem Sonderrecht unterstellt worden, das sie in ihrer Berufswahl und Bewegungsfreiheit einschränkte. Es war rechts- und verfassungswidrig, weil es gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verstieß. Die deutschen Sinti und Roma waren nämlich deutsche Staatsbürger wie andere auch. Dennoch wurden sie diskriminiert.
Aus dieser Diskriminierung wurde in der NS-Zeit Verfolgung: Ab 1933/34 wurden Roma gegen ihren Willen sterilisiert; ab 1935/36 wurden sie in besondere Zwangslager – die sogenannten Zigeunerlager gepfercht; ab 1938 wurden sie verhaftet und in Konzentrationslager verbracht; ab 1939 durften sie diese Lager und ihre sonstigen Wohnsitze nicht mehr verlassen; und ab 1940 wurden sie in den Osten deportiert.
Doch für all das seien die „Zigeuner“ quasi selber verantwortlich gewesen, meinte das Gericht. Genauer: ihre „asozialen Eigenschaften“. Daher sei auch ihre 1940 erfolgte Deportation oder – wie es das Gericht ausdrückte – „Umsiedlung“ in das polnische „Generalgouvernement“ keine „nationalsozialistische Gewaltmaßnahme aus Gründen der Rasse“ gewesen. Eine „rassische Verfolgung“ stelle erst ihre „Festhaltung“ in den Konzentrations- und Vernichtungslagern „nach dem Auschwitz-Erlass Himmlers in der Zeit nach dem 1. 3. 1943“ dar.
Hmmlers "endgültige Lösung"
Mit diesem Urteilsspruch leugnete das oberste Gericht der Bundesrepublik die rassistisch motivierte und intendierte Verfolgung und Ermordung der Roma, jedenfalls die vor dem 1. März 1943. Durch die Begründung scheinen rassistische Argumente. Schließlich kann von „asozialen Eigenschaften“ der „Zigeuner“ keine Rede sein. Die von SS-Chef Heinrich Himmler schon am 7. Dezember 1938 angeordnete „endgültige Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse“ war 1956 für den Bundesgerichtshof keine. Folglich hätten die Roma keinen Anspruch auf Wiedergutmachung. Dieses Unrechtsurteil wurde von dem Gericht eines Staates gefällt, der beanspruchte, kein „Unrechtsstaat“ wie die DDR, sondern ein Rechtsstaat zu sein. Wie konnte es dazu kommen?
Entgegen anders lautenden Bekundungen von Angehörigen der deutschen Mehrheitsbevölkerung, die nach 1945 „von nichts gewusst“ haben wollten, war die Verfolgung der deutschen und europäischen Roma natürlich bekannt. Schließlich hatte sie ja wie die der deutschen und europäischen Juden vor aller Augen stattgefunden. Bekannt war sie auch im Ausland, wurde dort aber kaum kritisiert. Vorzugsweise nicht von jenen europäischen Staaten, in denen die Roma ebenfalls diskriminiert wurden. Und das waren viele. Einige von ihnen haben sich während des Krieges auch an dem Völkermord der Deutschen an den Roma beteiligt.
Diese Komplizenschaft war wohl auch der Grund dafür, dass der Völkermord an den Roma bei den Kriegsverbrecherprozessen nur am Rande erwähnt wurde. Ging es doch in Nürnberg um allgemeine „Verbrechen gegen die Menschheit“ und um die „Vorbereitung eines Angriffskrieges“. Dafür wurden einige wenige deutsche Täter verurteilt. Beschlüsse über die Entschädigung der Opfer wurden nicht gefällt. Lediglich den Juden wurde ein Anspruch auf „Wiedergutmachung“ zuerkannt, den Roma nicht. „Wiedergutmachung“ für Sinti und Roma war 1945 kein Thema – nicht für die Siegermächte und schon gar nicht für die besiegten Deutschen.
Nur einigen einzelnen deutschen Sinti und Roma war es unmittelbar nach 1945 gelungen, als „Opfer des Faschismus“ anerkannt zu werden. Doch dies geschah mithilfe und auf Druck der Opferverbände, von denen die Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes (VVN) sehr bald in den Geruch kam, eine kommunistische Tarnorganisation zu sein. Nach Beginn des Kalten Krieges war dies kein gutes Zeugnis. So kam es, dass die Roma, die neben den Juden zu den Opfern des nationalsozialistischen „Rassenkrieges“ geworden waren, nun auch noch unter den Folgen des Kalten Krieges zu leiden hatten.
Die Entschädigung der Opfer wurde aber auch von den Tätern verhindert. Die Beamten der ehemaligen „Zigeunerpolizeistellen“, die nach 1945 in „Landfahrerpolizeistellen“ umbenannt wurden, gaben das Informationsmaterial, das sie während des Dritten Reiches gesammelt hatten, an die zuständigen Gerichte weiter. Die Richter hielten es für authentisch und benutzt es für den Nachweis, dass es sich bei den Roma um Asoziale handele.
Damit wurden die westdeutschen Sinti und Roma anders – und schlechter – behandelt als die ostdeutschen. In der DDR wurden sie als „Opfer des Faschismus“ angesehen, deshalb erhielten sie dort auch die entsprechenden Renten und sonstigen finanziellen Vergütungen. Dies galt allerdings nur, wenn sie nicht gegen die Gesetze der DDR verstießen. Das war ebenfalls eine skandalöse Willkürregelung, denn schließlich hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Und doch war das nichts im Vergleich zu der verweigerten Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland.
Sieben Jahre hat es gedauert, bis der Bundesgerichtshof sein Unrechtsu rteil von 1956 revidierte. Denn inzwischen waren einige Gerichte in ähnlichen Verfahren zu ganz anderen Entscheidungen gekommen,
Beschluss zur "Beihilfe"
Schließlich sahen sich die Karlsruher Richter am 18. Dezember 1963 genötigt, ihren Beschluss wenigstens teilweise zurückzunehmen. Die Bundesrichter räumten jetzt ein, dass rassenpolitische Motive für Maßnahmen, die seit dem Himmler-Erlass vom 8. Dezember 1938 getroffen wurden, „mitursächlich“ gewesen sein könnten. Daher wurde den Sinti und Roma jetzt gestattet, Entschädigungsanträge zu stellen, wenn sie aufgrund dieses Erlasses verfolgt worden waren. Erfolgreich waren diese Anträge jedoch meist nicht: Die Verjährungsfristen waren überschritten.
Immerhin konnten einige deutsche Sinti und Roma aufgrund eines Beschlusses des Bundestages vom Dezember 1979 eine „Beihilfe“ in Höhe von maximal 5.000 DM beantragen. Die Antragsfrist lief bereits zum Jahresende 1982 aus. Die meisten der wenigen überlebenden Sinti und Roma, denen man in den fünfziger Jahren ihr Recht versagt hatte, waren inzwischen gestorben. Daher mutete es schon zynisch an, wenn die Bundesregierung im Oktober 1986 in einem abschließenden Bericht über Wiedergutmachung und Entschädigung der Sinti und Roma behauptete, das Fehlurteil von 1956 habe „verhältnismäßig geringe praktische Auswirkungen“ gehabt.
Verschiedene Roma sind zwar danach noch für das Leid entschädigt worden, welches sie als Zwangsarbeiter oder als Opfer der fürchterlichen Menschenversuche erlitten hatten. Doch dabei handelte es sich meist um deutsche Sinti und Roma. Nur ganz wenige ausländische Roma haben bisher Wiedergutmachung erhalten. Das unterscheidet sie von der Opfergruppe der verfolgten Juden. Mit ihren Repräsentanten und Vertretern des israelischen Staates hat die Bundesregierung schon 1952 in Luxemburg ein Abkommen abgeschlossen, in dem Wiedergutmachungsansprüche geregelt wurden. Ein entsprechendes zweites Luxemburger Abkommen mit den Repräsentanten der Roma ist nicht geschlossen worden, und es besteht kaum Hoffnung, dass dies noch geschehen wird. Im westdeutschen Rechtsstaat hat es keine Wiedergutmachung an den Sinti und Roma gegeben. Dieses bundesrepublikanische Tabu ist nicht gebrochen worden.
Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte
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