Die Hochstimmung über den „Aufbruch“ ist schon wieder verflogen. Viele Bürger spüren: Das „Fahren auf Sicht“ könnte sich unter der neuen Regierung fortsetzen, trotz Olaf Scholz’ vollmundiger Ankündigung, ein Langzeitprogramm für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft vorzulegen.
Warum wächst der Argwohn, noch bevor die neue Regierung vereidigt ist? Die Gründe sind in den USA zu besichtigen. Denn so, wie sich die unterschiedlichen politischen Strömungen der US-Demokraten bereits im ersten Regierungsjahr gegenseitig blockieren, so wird es den deutschen Ampelkoalitionären ergehen. Die Spannweite und heterogene Zusammensetzung der Demokratischen Partei ähnelt derjenigen der Ampelkoalition auf frappierende Weise. Hier wie dort müssen linksgrüne, sozialdemokratische, linksliberale, wirtschaftsliberale und konservative Positionen zusammengeführt werden. Hier wie dort passen post-keynesianische Transformationsmodelle und neoliberale Staatsferne schlecht zusammen. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich den Streit zwischen Alexandria Ocasio-Cortez und dem Kohlelobbyisten Joe Manchin um Größe und ökosoziale Ausrichtung der geplanten Investitions- und Sozialprogramme auch in Berlin vorzustellen, etwa zwischen einer grünen Transformationsministerin und einem wirtschaftsliberalen Finanzminister.
Die idealistische Staatsauffassung der Grünen muss geradezu zwangsläufig mit der idealistischen Marktauffassung der Liberalen kollidieren. Glauben Erstere, der Staat könne so viel Geld drucken, wie er für seine Programme benötigt, so glauben Letztere, der Markt werde durch freien Wettbewerb perfekte Lösungen aus dem Hut zaubern.
Inflation und Migration
Dieser innere Widerspruch der Koalition wird verschärft durch jene Krisen, die den Bürgern allmählich die Zuversicht rauben: die Corona- und die Migrationskrise, die Geldentwertung und die Klimakatastrophe, von außenpolitischen Verwerfungen ganz abgesehen.
Niemand kann heute sagen, ob nach der vierten Coronawelle eine fünfte oder sechste folgt. Ob sich Virusmutationen entwickeln, gegen die alle bisherigen Impfstoffe versagen, ob sich der kräftezehrende Ausnahmezustand verstetigt. Das Einzige, was sicher ist: Deutsche Behörden sind stets überfordert; das Hin und Her der Krisenbewältigung erzeugt depressive und explosive Stimmungen. Wie in den USA.
Auch das Flüchtlingsthema kehrt mit Macht zurück. Autokratische Regime drohen offen mit der „Waffe der Migration“: Wir schicken euch Millionen Menschen über die Grenze, wenn ihr uns weiterhin sanktioniert oder unsere Flüchtlingsabwehr nicht mit Euro-Milliarden vergütet. Unter diesem Druck werden Innen- und Außenpolitik erstarren. In den USA ist es den Republikanern gelungen, Joe Biden für den Ansturm an der Südgrenze verantwortlich zu machen und in die Enge zu treiben. Ein grüner Innenminister in Deutschland hätte das gleiche Problem.
Vorboten einer Öko-Revolte
Die lockere Geldpolitik der Notenbanken, die riesigen Ausgabenprogramme der Industrieländer zur Krisenbekämpfung, die Börsen- und Immobilienpreisblasen, die Lieferengpässe, die Klimapolitik und der Fachkräftemangel lassen die Preise steigen, was vor allem die Ärmeren trifft. Ein Großteil des Ansehensverlustes der US-Demokraten ist auf die Inflation zurückzuführen.
Schließlich die Folgen der Erderwärmung: Weil Naturkatastrophen die eigene Haustür erreichen, gedeiht auch in Deutschland die Alarmstimmung und mit ihr die Bereitschaft, jede Regierungspolitik als folgenloses Blabla abzutun. Radikalökologen jenseits der Grünen, Hungerstreiks und Widerstandsaktionen sind die Vorboten einer Öko-Revolte, die der selbsternannten „Klima-Regierung“ das Vertrauen entzieht.
Hinzu kommt, dass viele Klimaschutzmaßnahmen, die von den Großstadtparteien SPD, Grüne und FDP geplant sind, eher die Geldbörsen und den Alltag der Provinzbewohner belasten: Energetische Gebäudesanierung, Windkraftausbau, Mobilitätsverteuerung. Das wird den Graben zwischen den Großstadt- und den Provinzparteien CDU, CSU und AfD vertiefen – wie zwischen städtischen Demokraten und ländlichen Republikanern in den USA. Zu erwarten ist daher eine harte Opposition gegen das „Ampel-Gehampel“: sowohl durch eine CDU unter Friedrich Merz als auch durch eine AfD unter Björn Höcke; sowohl durch die mit der Klimapolitik unzufriedenen Bewegungen als auch durch die von der „Entfesselung der Marktkräfte“ enttäuschten Unternehmer. Befeuert wird deren Kritik von einer wachsenden Politikverachtung in der Mitte der Gesellschaft.
Deutsche Zwischenwahlen
Schon bei den „Zwischenwahlen“ im Frühjahr 2022 könnte sich die Stimmung gegen die Ampelkoalition wenden. Die CDU-Ministerpräsidenten im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen dürften gestärkt aus den Landtagswahlen hervorgehen und den Aufbruchselan der „Fortschrittskoalition“ zum Erliegen bringen. Das Fahren auf Sicht würde zum Herumirren im Nebel.
Ist ein solches Worstcase-Szenario, wie es Joe Biden gegenwärtig erlebt, hierzulande noch abzuwenden? Gut möglich, dass wir bald von einem Koalitionsvertrag überrascht werden, der das SPD-Gelübde „Scholz packt das an“ tatsächlich erfüllt. Gut möglich, dass Rote, Grüne und Gelbe dann an einem Strang ziehen. Aber Hand aufs Herz – wahrscheinlich ist es nicht.
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