Ende Juni 2019 stieg in der Redaktion der Zeit weißer Rauch auf. Habemus papam! Feuilletonchef Adam Soboczynski verkündete in einem brillanten Essay ein deutsches Pfingstwunder: „Die Grünen haben ihren Meisterdenker gefunden.“ Und die taz jubelte: Der Meister, der da denke, sei „Deutschlands wichtigster Gegenwartsanalytiker“. So wurde der Münchner Soziologe Armin Nassehi der neue „Papst der Moderne“. Als Stellvertreter Niklas Luhmanns auf Erden sollte er fortan die überforderte Gesellschaft ethisch und systemtheoretisch beraten.
Niemand scheint dafür besser geeignet. Nassehi, meist in schwarz gekleidet wie ein Hohepriester, sangesfreudig wie Johannes Paul II. und eloquent wie Roger Willemsen, ist ein Mediengenie. Studiert man
in Mediengenie. Studiert man seine Website, fällt einem als erstes ins Auge, dass der Menüpunkt „Nassehi in den Medien“ eine schier unendliche Liste bereithält, während sein Lehrangebot an der Uni doch eher bescheiden ausfällt.Nassehi ist ein öffentlicher Intellektueller. Bewundert und gefragt wie sein Philosophenkollege Richard David Precht. Doch anders als dieser tritt er nicht als Sturm-und-Drang-Prophet des bevorstehenden Umbruchs in Erscheinung, sondern als nachsichtiger Versöhner, der für menschliche Schwächen viel Verständnis aufbringt. Er streichelt die Seelen seiner Zuhörer und vergibt ihnen ihre Sünden. Egal, ob er beim Neujahrsempfang der Erzdiözese Bamberg redet oder beim 70. Geburtstag des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann: Nassehi beruhigt und entspannt. Ethisch berät er sowohl Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder als auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Armin Laschet.Mit Laschet verbindet ihn – neben dem Vornamen – die katholische Prägung. Nassehi wuchs in einer konservativ-katholischen Familie auf, durchlief diverse katholische Jugendgruppen und singt noch heute voller Inbrunst Monteverdis Marienvesper und Bachs Johannes-Passion. 2012 berief ihn der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle, damals stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in den Stiftungsrat des kircheneigenen Forschungsinstituts für Philosophie, 2018 hievte ihn der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx in den Stiftungsrat der Katholischen Universität Eichstätt. Offen bekannte Nassehi: „Ich würde sagen, dass für mein Denken das Katholische durchaus eine Rolle spielt.“Auf Nichteingeweihte mag dieses Denken – wegen der geradezu artistisch verwendeten Begrifflichkeit – etwas überkomplex wirken, doch im Grunde ist es recht einfach. Man könnte es so zusammenfassen: Moderne Gesellschaften wie unsere sind funktional so stark ausdifferenziert, dass jedes einzelne Subsystem (Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft und so weiter) seiner eigenen Logik folgt: Das Subsystem Wirtschaft will Profite machen, die Politik will Mehrheiten gewinnen und Macht erhalten, das Recht will Normen setzen, die Bildung Wissen vermitteln, die Medizin Gesundheit herstellen und die Wissenschaft Wahrheit herausfinden. In Krisen geraten diese unterschiedlichen „Logiken“ aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen in Konflikt miteinander, und da es in der Moderne kein übergeordnetes (autoritäres) Steuerungszentrum mehr gibt (keinen Gott!), schlittern wir ohne befriedigende Lösung (ohne Erlösung!) von einer Krise in die nächste, begleitet vom „wachsenden Unbehagen in der Gesellschaft“.Gewitzt und wortgewandtVerschärft wird die Situation noch dadurch, dass hochkomplexe Gesellschaften durch ihre auseinanderstrebenden Subsysteme besonders resistent gegen Veränderungen sind. Zwar wisse das Subsystem Wissenschaft längst, was mit dem Klimawandel auf uns zukommt und was deshalb zu tun ist, doch die anderen Subsysteme ziehen daraus nicht die notwendigen Konsequenzen. Nassehi erklärt dieses Phänomen (er nennt es Paradoxon) gern mit persönlichen Erfahrungen: Er wisse zum Beispiel, dass er für seine Körpergröße zu dick sei, schaffe es aber nicht, weniger zu essen und sein Ernährungsverhalten radikal umzustellen. Und so ergehe es der ganzen Gesellschaft. Sie habe alles Wissen parat, ändere sich aber nicht oder, im besten Falle, nur quälend langsam. Nassehis Generalthese gipfelt deshalb in der Erkenntnis, dass moderne Gesellschaften für disruptive revolutionäre Veränderungen „zu träge“ sind und dass die naive Hoffnung auf radikalen Umsturz nur soziale Illusionen, also Enttäuschungen nährt.Gewitzt und wortgewandt wie kein Zweiter verteidigt Nassehi den Status quo. Denn ihm geht es ja bestens. Er ist, wie er selbstironisch einräumt, „ein braver bayerischer Staatsbeamter“, gut besoldet und großzügig abgesichert. Er wird mit Ämtern, Preisen und Anfragen überhäuft, liebt Wein, Wort und Gesang und – vor allem – gut funktionierende Geräte, Prozesse und Systeme. Er ist technikaffin. Ein rundum positiver, selbstzufriedener Mensch. Gäbe es da nicht diese eine schmerzende Stelle in seiner Theorie, die für einen gläubigen Katholiken eine unerträgliche Leerstelle bedeutet und die er der säkularen Gesellschaft deshalb bei jeder passenden Gelegenheit unter die Nase reibt: dass sie ihr steuerndes Zentrum, ihren Gott verloren habe und sich deshalb so schwertue und so schrecklich unwohl fühle.Hier nun kommen die Grünen ins Spiel. Denn Nassehi sieht in dieser aufstrebenden Volkspartei neuen Typs das geeignete Instrument, um die auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Subsysteme wieder unter einen Hut zu bringen. Aufgabe der Grünen sei es, lagerübergreifende Bündnisse zu vermitteln, also „schlaue Leute“, die in den jeweiligen Subsystemen isoliert vor sich hin wursteln, an runden Tischen zu versammeln. Unter der Schirmherrschaft der Grünen sollen etwa Klimaaktivisten und Unternehmer gemeinsam an praktischen Lösungen feilen oder Ärzte mit Datenspezialisten praktikable Coronamaßnahmen austüfteln. Die Grünen seien für diese Aufgabe besonders gut geeignet, weil sie, anders als die Milieuparteien Union und SPD, über vielfältige Andockstellen in allen Subsystemen der Gesellschaft verfügen. Und da sie keinen ideologischen Ballast mit sich herumschleppen, könnten sie quasi als überparteiliche Systempartei selbstlos moderieren und konstruktive „Bündnisse“ zwischen unterschiedlichen Interessengruppen schmieden.Nassehi schwebt nicht weniger vor als die Umwandlung der einstigen „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) in eine affirmative Systempartei. Ganz ähnlich ist die Transformation der SPD von Karl Marx zu Eduard Bernstein verlaufen: Reform statt Revolution. Kleine Schritte statt unerreichbarer Ziele. Die klassische Linke habe sich endgültig überlebt. Auch das „große Nein“ der 68er sei nur popkulturelle Revolutions-Pose gewesen.Das Disruptions- und Verzichtsgerede linksgrüner Postwachstumsanhänger widert Nassehi geradezu an. Die ätzende Kapitalismuskritik eines Niko Paech oder Hartmut Rosa möchte er den Grünen ebenso austreiben wie die naive Sozialromantik der Fridays-for-Future-Bewegung. Nassehi, der pragmatisch denkende Chefideologe, liefert den intellektuellen Überbau für die fällige Anpassung der grünen Basis an die Realitäten. Etwa daran, dass Menschen große Veränderungen scheuen, wenn sich das Bestehende einigermaßen „bewährt“ hat. Auch das Neue könne sich nur durchsetzen, wenn es sich „in der Praxis bewährt“, wenn es „funktioniert“.Unpolitisch und angepasstFür solche Weisheiten erhält Nassehi viel Beifall, vor allem aus der Mitte der Gesellschaft. Und je abstrakter sein systemtheoretisches Begriffslabyrinth wird, desto sicherer ist ihm die ehrfürchtige Anerkennung seiner bildungsbürgerlichen Zuhörerschaft. Machtfragen klammert er geschickt aus, Interessenkonflikte und Verteilungskämpfe kehrt er unter den Teppich irgendwelcher „Strukturen“. Politische Bewegungen haben in seiner „funktional differenzierten Gesellschaft“ keinen Platz. Je tiefer man in Nassehis Systemtheorie einsteigt, desto dringlicher stellt sich die Frage: Was fasziniert die gegenwärtige Grünen-Spitze eigentlich so an diesem Soziologen? Wozu brauchen Robert Habeck, Winfried Kretschmann oder Katrin Göring-Eckardt Politikberatung in Form banaler Erkenntnisse wie jener, dass „die Gesellschaft in ihren jeweiligen Instanzen und Systemen jeweils nur mit den Mitteln arbeiten kann, die ihr zur Verfügung stehen“? Können Grüne mit solchen Nullsätzen etwas anfangen?Eine denkbare Erklärung findet sich in der strategischen Neuausrichtung der Grünen im Jahr 2018. Armin Nassehis Vordenkerrolle ergab sich nämlich just zu der Zeit, als Robert Habeck und Annalena Baerbock gemeinsam den Parteivorsitz übernahmen. Als Stichwortgeber im Hintergrund wirkte das „Zentrum Liberale Moderne“ um Ralf Fücks und Marieluise Beck, in dessen Beirat Nassehi sitzt. Vorbereitet wurde hier das lagerübergreifende Projekt einer schwarz-grünen Koalition im Bund, wohl wissend, dass die Mehrheit der Grünen-Mitglieder das nicht wollten. Der grünen Partei war dabei jene Funktion zugedacht, die in den Nachkriegsjahrzehnten die FDP erfüllt hatte: zuverlässig für bürgerliche Mehrheiten zu sorgen.Nassehi begründet das höchst elegant. An der Seite der Grünen, sagt er, solle sich der ausgezehrte Konservativismus erneuern: „Ich denke, dass die entscheidende strategische Partnerschaft für das Experiment einer Politik der Bündnisse mit unterschiedlichen Logiken am ehesten mit der Union möglich ist, auch weil das das eigentliche Thema eines modernen Konservativismus sein müsste.“ Der kluge Christdemokrat Norbert Lammert, bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, holte Nassehi daraufhin als Fellow zur Konrad-Adenauer-Stiftung.Der schwarz-grüne Plan schien zeitweise unausweichlich und wäre wohl auch aufgegangen, hätte es nicht fünf, sechs Wochen vor der Bundestagswahl diesen abrupten Absturz der Unionsparteien (und der Grünen) gegeben. Plötzlich scheint schwarz-grün keine realistische Option mehr zu sein, die Zustimmung zu diesem „lagerübergreifenden Bündnis“ ist von 60 auf 40 Prozent gefallen. Und die Grünen müssen sich ernsthaft fragen, ob die unpolitische Anpassungsstrategie nach dem Modell ihres „Meisterdenkers“ Nassehi nicht ein Fehler war, eine groteske Fehleinschätzung, die dazu beigetragen hat, dass die Grünen ihren Vorsprung in den Umfragen wieder eingebüßt haben: Lagen sie im Mai noch bei 26 Prozent Zustimmung, so stehen sie derzeit nur mehr bei 16 Prozent.Der jüngst vielbelächelte Wahlwerbespot der Grünen, der die deutsche Gesellschaft harmoniesüchtig und lagerübergreifend im Volkslied Kein schöner Land zusammenführen sollte, war nämlich nichts anderes als die kongeniale Umsetzung der nassehischen Bündnisstrategie.Placeholder infobox-1