Der Westen hat sich verkalkuliert. Er glaubte, mit ein paar koordinierten Wirtschaftssanktionen könne er Russland in die Knie zwingen, doch nun machen ihm die Folgen der eigenen Sanktionspolitik zu schaffen, während Russland mit stoischer Gelassenheit und beachtlicher kapitalistischer Flexibilität auf Druck von außen reagiert.
Ja, das autoritär geführte Russland war immer schon leidensfähiger und improvisationstüchtiger – neudeutsch: resilienter – als der Westen. Die jüngere Geschichte des Landes bezeugt es: von der Bewältigung der demütigenden Friedensbedingungen im Ersten Weltkrieg über den anschließenden Bürgerkrieg und die rücksichtslose Industrialisierung bis hin zur verlustreichen Abwehr des deutsch
es deutschen Vernichtungsfeldzugs mit 24 Millionen toten Sowjetbürgern. Gegen diese grauenhaften Ereignisse war die Eindämmungspolitik des Westens im Kalten Krieg eine geradezu beschauliche Episode. Die Russen, so die brutale Ideologie ihrer Führer, seien es gewohnt, mit Einschränkungen zu leben, gesellschaftliche Opfer zu bringen und Erniedrigungen zu ertragen.Auch die Deutschen waren es lange gewohnt, sich ihren Führern zu unterwerfen und dies als Schicksal anzunehmen: von den schrecklichen Materialschlachten und Hungerwintern im Ersten Weltkrieg über die Nachkriegswirren und die Hyperinflation bis hin zum „Kreuzzug gegen den jüdischen Bolschewismus“. Selbst als die eigenen Städte schon brannten, standen sie noch zum Führer. „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!“ lautete der Sinnspruch für das sinnlose Verheizen des letzten Aufgebots.Bürger sollen Beschränkungen, Zumutungen und Wohlstandsverluste akzeptierenDiese deutsche Ideologie der Selbstaufopferung hat Gott sei Dank nicht überlebt. Jahrzehntelanger Wohlstand, die beherzte Nutzung demokratischer Freiheiten und eine von Protestbewegungen getragene gesellschaftliche Liberalisierung haben aus der Bundesrepublik ein zivilisiertes Land gemacht, in dem junge Leute ermuntert werden, nicht alles zu schlucken und nicht alles zu glauben. Doch mittlerweile gibt es Tendenzen, diese Errungenschaften wieder aufs Spiel zu setzen. Der Krieg in der Ukraine und das fatale Gerede von der „Zeitenwende“ drohen das Fundament unserer postheroischen Gesellschaft zu sprengen. Schon behaupten bellizistische Salon-Kommentaristen, die Deutschen seien ein Volk von pazifistischen Weicheiern und Warmduschern. Das Wort „Resilienz“ wabert durch Parteitage, Politikerstatements und Talkshows. Die Deutschen, heißt es, müssten wieder mehr aushalten, durchhalten, an sich halten. Gemeint ist nicht die Stärkung der Widerstandskraft gegen falsches Regieren, gemeint ist eine Art Duldungsstarre zugunsten höherwertiger Ziele. Für „Freiheit und Demokratie“ sollen die Bürger Beschränkungen, Zumutungen und Wohlstandsverluste akzeptieren.Kein Zweifel: Bestimmen Ukraine-Krieg und Corona-Pandemie, Inflation und Klimakatastrophe auch den kommenden Winter, wird die Tugend der Genügsamkeit zur ersten Bürgerpflicht. Und welcher Philosoph könnte die fälligen Notverordnungen am überzeugendsten unters Volk bringen? Nein, nicht Richard David Precht, sondern Robert Habeck. Er wird als deutscher Churchill bereits in Stellung gebracht und könnte die Republik im Rahmen eines parteiübergreifenden Notkabinetts durch frei gehaltene Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden „zusammenhalten“.Es war der Durchhalte-Held Wolodymyr Selenskyj, der das Thema Resilienz erfolgreich aus der Psychologie in die Weltpolitik übertragen und zur Waffe gemacht hat. Meinte Resilienz bislang nur, sich besser gegen Stress, Depressionen und andere individuelle Krisen zu wappnen (die Tipps dafür kamen von Ärzten und Krankenkassen), so wird daraus nun ein politisches Programm für Mehrbelastungen der Bürger. Die Regierungs-Losung „Mehr Fortschritt wagen!“ verwandelt sich in den grimmig-trotzigen Appell „Mehr Zumutungen verkraften!“. Ministerinnen und Parteivorsitzende geben Tipps, wie man trotz einer Verdreifachung der Mietnebenkosten, ungeheizter Zimmer, nächtlicher Ausgangssperren, Klima-Soli und Mehlknappheit optimistisch und lösungsorientiert in die Zukunft blicken kann. Hausrezept Nr. 1: Kürzer duschen (Habeck)! Hausrezept Nr. 2: Mehr Überstunden machen (Lindner)!Demokratien werden autoritären Systemen ähnlicherDiese Politiker werben für eine Resilienz von oben, die den Bürgern die ganze Verantwortung zuschiebt. Kritik am Krisenmanagement der Regierung soll so in den Hintergrund treten. Die Bürger sollen glauben, dass sie bisher einfach zu bequem gewesen sind. Und dass sie ihr Scherflein in Form von Konsumverzicht und Mehrarbeit jetzt beitragen müssen, weil es – wie auf dem G7-Gipfel in Elmau bekräftigt – um die „Stärkung der Resilienz unserer Demokratien“ gegen autoritäre Systeme geht.Leider hat die westliche Sehnsucht nach Resilienz eine unangenehme Nebenfolge: Unter dem Druck der verordneten Einschränkungen verformen sich auch die Demokratien und werden den autoritären Systemen ähnlicher. Es kommt zu einem Dauerwettbewerb um härtere Maßnahmen, der auf allen Seiten nur Verlierer produziert. Es sei denn, die Bürger setzen sich gegen die Zumutungen ihrer Regierungen zur Wehr. In Russland, in der Ukraine und hier. Das wäre dann echte Resilienz von unten.