Die Furcht des Westens vor den Anarchisten

Julian Assange Den Nationalisten Alexei Nawalny überhäuft Europa mit Mitgefühl, Lob und Preisen. Im Fall des Wikileaks-Gründers dagegen zieht die EU feige den Kopf ein. Woher kommt dieses Messen mit zweierlei Maß?
Ausgabe 50/2021
Eine Demonstrantin vor dem Gericht in London, in dem die Auslieferung entschieden werden könnte
Eine Demonstrantin vor dem Gericht in London, in dem die Auslieferung entschieden werden könnte

Foto: Tolga Akmen/AFP/Getty Images

Ende letzten Jahres erhielt Julian Assange vom EU-Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit. Kurz zuvor war ihm der M100 Media Award der europäischen Presse verliehen worden. Christian Lindner in seiner Laudatio: Der öffentliche und politische Druck müsse aufrechterhalten werden, denn Assange sei nur in Haft, „weil er es wagt, offensichtliche Missstände, Machtmissbrauch und Korruption anzuzeigen“. Die EU habe daher harte Sanktionen gegen Assanges Unterdrücker beschlossen.

Leider sind das Fake News. Die EU und die europäische Presse kämpfen mitnichten für den in London im Belmarsh-Gefängnis inhaftierten Anarchisten Julian Assange. Ihr Mitgefühl, ihre Lobreden und ihre Preise gelten allein dem in der Nähe von Moskau festgehaltenen Nationalisten Alexei Nawalny.

Den beiden Häftlingen wird vorgeworfen, der Öffentlichkeit „vertrauliche Dokumente“ (Staatsgeheimnisse!) zugänglich gemacht zu haben: der eine auf seiner Enthüllungsplattform Wikileaks, der andere auf seiner Enthüllungsplattform Rospil. Beide fielen bisweilen durch politische Ansichten auf, die nicht jedermanns Geschmack sind, hochfahrend libertär der eine, hochfahrend nationalistisch der andere. Warum also misst „der Westen“ die beiden mit zweierlei Maß? Der Westen fürchtet sich vor Anarchisten einfach mehr als vor Nationalisten. Denn Nationalisten haben gegen autoritäres Regieren nichts einzuwenden, Anarchisten sehr wohl. Deshalb zeigt die Staatsgewalt – egal ob demokratisch oder autoritär – gegenüber Anarchisten extreme Härte.

Das bekamen schon Julian Assanges anarchistische Vorgänger zu spüren, etwa Michail Alexandrowitsch Bakunin. Der hatte sich 1849 am Dresdner Mai-Aufstand beteiligt und war in Chemnitz verhaftet worden. Russland erzwang seine Auslieferung, so landete Bakunin 1851 im berüchtigten Staatsgefängnis von Sankt Petersburg. Aufgrund strenger Isolation und unmenschlicher Haftbedingungen erkrankte er an Skorbut. Gesundheitlich ruiniert, wurde er nach Sibirien verbannt, von wo ihm 1861 eine spektakuläre Flucht gelang. Niemals hätte ihn der Zar begnadigt. US-Präsident Joe Biden verhält sich gegenüber Julian Assange wie ein russischer Zar.

Pjotr Alexejewitsch Kropotkin hatte mehr Glück. Auch er saß im Petersburger Staatsgefängnis, auch er erkrankte an Skorbut, konnte aber nach wenigen Jahren fliehen. Als er in Frankreich erneut verhaftet wurde und sich seine Krankheit verschlimmerte, erhoben Prominente wie Victor Hugo ihre Stimme und forderten seine sofortige Freilassung. Der Protest zeigte Wirkung. Kropotkin (dessen Barttracht Assange übernommen hat) kam 1886 frei. Die Niederschrift seiner Erlebnisse „in russischen und französischen Gefängnissen“ wird den erkrankten Häftling Julian Assange aber kaum aufmuntern.

Es ist ein schöner Brauch, dass in Revolutionen die Staatsgefängnisse als erstes gestürmt werden. Das war so beim Sturm auf die Pariser Bastille 1789 und während der Februarrevolution 1917 in St. Petersburg. Ein Sturm auf „Her Majesty’s Prison Belmarsh“ dürfte – in Ermangelung einer revolutionären Situation – nicht sehr wahrscheinlich sein. Doch die EU könnte ihre bislang bloß behauptete Souveränität endlich unter Beweis stellen und sich mit der gleichen Vehemenz für eine Freilassung von Assange einsetzen wie für Nawalny. Gleiches gilt für die europäischen Medien und Parteivorsitzende wie Christian Lindner. Es diskreditiert ihr Engagement für Alexei Nawalny, wenn sie bei Assange immer nur feige den Kopf einziehen.

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