Nach den Grünen „erneuern“ sich die Christdemokraten. Und es ist sicher kein Zufall, dass die Parteien, die aller Voraussicht nach die nächste Bundesregierung bilden, mit gutem Beispiel vorangehen. Während SPD und Linke im Sinne von Karl Kautskys „revolutionärem Attentismus“ weiter abwarten, machen die „wertkonservativen Fortschrittsparteien“ schon mal Nägel mit Köpfen.
Oder sind es vernagelte Köpfe, die sich da in einem „munteren Wettstreit“ um den Vorsitz der letzten überlebenden Volkspartei bewerben und die Frage beantworten müssen: Wohin driftet die CDU? Driftet sie überhaupt? Oder bleibt sie unverrückbar in der Mitte, wie Friedrich Merz, Jens Spahn und Annegret Kramp-Karrenbauer unablässig behaupten? Keiner der drei will auch nur einen Millimeter von der Mitte abweichen.
Dieses Zaudern zeigt: Die großen Koalitionen unter Angela Merkel haben tiefe Spuren im Parteiensystem hinterlassen. SPD und CDU sind sich so nahegekommen, dass sie miteinander zu verwachsen drohen. Sie konkurrieren nicht mehr, sie ergänzen sich. Ihre Eigenständigkeit hat sich durch die Regierungszusammenarbeit und die parteivorstandsersetzenden Koalitionsausschüsse weitgehend aufgelöst. CDU und SPD sind Varianten derselben Mitte. Die „Richtungsentscheidung“, welche die CDU Anfang Dezember auf ihrem Parteitag in Hamburg zu fällen glaubt, gibt deshalb auch der unsicheren SPD die Richtung vor: Wird sie von der Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach links getrieben oder zwingt sie der gehobene Sauerländer Friedrich Merz, weiter in der Mitte zu bleiben?
Annegret Kramp-Karrenbauer kommt vom christlich-sozialen Flügel der CDU und sieht sich in der Tradition Heiner Geißlers und Norbert Blüms. In deren Geist erlebte sie als junge Frau eine „lebendige“, gerade frisch renovierte CDU, die sich von einer männerdominierten Honoratiorenpartei zu einer modernen Massenpartei gewandelt hatte. Die Erneuerung unter Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, die zwischen 1968 und 1978 400.000 Neumitglieder in die Partei spülte, war Kramp-Karrenbauers prägendes Polit-Erlebnis.
Diesem Erneuerungsverständnis blieb sie als Generalsekretärin treu. Mit ihrer „Zuhör-Tour“, die sie im vergangenen Sommer durch mehr als 40 Städte und Provinzen unternahm, hat sie die Herzen vieler Mitglieder gewonnen. Sie kennt jetzt die Sorgen der kleinen Leute in Cloppenburg-Vechta, in Cottbus, in Paderborn, Biberach und Fulda. Und wie damals, 1978, soll die innerparteiliche Diskussion in ein neues Grundsatzprogramm münden.
Dass ihre Zuhör-Tour eher einer Wohlfühlveranstaltung glich und die Fragen, welche die Mitglieder auf Karteikärtchen notieren durften, oben anders ankamen, als sie unten gemeint waren, ist bezeichnend für diese Art von „Mitbestimmungsprozess“. Fragte etwa ein CDU-Mitglied: „Wie lässt sich unser christlich-konservatives Wertebild mit der modernen Gesellschaft verbinden?“, so wandelten die Parteimanager des Konrad-Adenauer-Hauses die Fragestellung flugs in eine PR-Phrase für den Leitantrag um: „Wie gestalten wir als starke Volkspartei der Mitte erfolgreiche Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbilds?“ Mit derart smarten Methoden kanalisieren und „befrieden“ moderne Parteiapparate aufkeimenden Unmut. Die „Zuhör-Tour“, die Kramp-Karrenbauer immer wieder als Paradebeispiel ihrer „Basisnähe“ erwähnt, gilt deshalb manchen Beobachtern als Nachweis ihrer besonderen Eignung für den CDU-Vorsitz. Tatsächlich können weder Spahn noch Merz eine ähnliche „Parteinähe“ vorweisen.
Ökologie und Ökonomie
Von den sieben Bundesvereinigungen der CDU hat Kramp-Karrenbauer die Unterstützung der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und der Frauen-Union sicher. Ihr Diskussionsstil wird als warmherzig, bescheiden, integrativ und humorvoll gelobt, auch wenn ihre Aussagen meist so wolkig und inhaltsleer erscheinen wie die ihrer bewunderten Chefin. Anders als Merz bekennt sich Kramp-Karrenbauer klar zur Fortsetzung der Merkel’schen Machtstrategie, die in der nächsten Etappe Schwarz-Grün anstrebt, sollten die Grünen ihre guten Umfragewerte halten können.
Kramp-Karrenbauer verkörpert eher die ländliche, das hohe C betonende CDU, doch sie lässt, wie Merkel, auch der Selbstentfaltung und Ausdifferenzierung der urbanen Gesellschaft Raum. Sie könnte damit leben, eine Regierungsmehrheit aus gleich starken grünen und schwarzen Partnern zu bilden.
Gewinnt Kramp-Karrenbauer die Wahl und kommt es danach zu einer schwarz-grünen Koalition im Bund, wäre die SPD gezwungen, ein Stück weit nach links zu rücken und sich von Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün zu verabschieden. Sie müsste stattdessen die inneren Widersprüche einer schwarz-grünen Versöhnungskoalition, die glaubt, Ökologie und Ökonomie, Finanzkapitalismus und christliches Menschenbild versöhnen zu können, herausarbeiten und einer radikalen Kritik unterziehen. Mit einer CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer wäre eine Annäherung von SPD und Linkspartei also möglich.
Ganz anders sähe die Sache aus, würde Merz gewinnen. Merz repräsentiert den wirtschaftsliberalen Flügel und ist – wie sein Sherpa Ralph Brinkhaus als Fraktionsvorsitzender – ein typischer Vertreter des Finanzkapitals (Lesen Sie auch die Seiten 16 und 17). Merz hat die männerdominierten CDU-Vereinigungen des Wirtschaftsrats, der mittelständischen Unternehmer und der Jungen Union hinter sich. Für viele Leitartikler und Talkshow-Gastgeber ist er der Kandidat der reinen Vernunft. Ihm geht alles zu langsam in Deutschland, während China die Weltwirtschaft vor sich hertreibe. Wie sein Alter Ego Christian Lindner warnt er vor „erstickender Bürokratie“ und sieht die deutsche Wettbewerbsfähigkeit durch „Überregulierung“ bedroht. Seine Auftritte demonstrieren Klarheit, Durchsetzungsstärke und Kompetenz. Seine Ansichten beginnt er gern mit der Formel „Ich bin der festen Überzeugung“. Überreden liegt ihm sichtlich mehr als Zuhören. Von allen Kandidaten hat er die meiste Kreide gefressen, um die erwarteten Bekenntnisse zu „ökologischer Verantwortung“, „sozialpolitischem Engagement“ und „Bürgerbeteiligung“ so cremig wie möglich über die Lippen zu bringen. Merz will Merkels passiv-tolerante Machtstrategie, welche die Kanzlerschaft zwar gesichert, die CDU aber schwer beschädigt hat, durchkreuzen, indem er die Rückkehr zu einer 40-Prozent-Union verspricht. Im Kern läuft seine Strategie auf eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition hinaus. Die FDP würde ihre alte Rolle einnehmen und die sozialen Forderungen des christlich-sozialen Unionsflügels abwehren.
Als Wertkonservativer möchte Merz die Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch nicht so gleichmütig hinnehmen wie Merkel, deren Laissez-faire-Stil des Laufenlassens er zutiefst verachtet. Er will die Gesellschaft von oben „führen“, am besten per Leitkultur. Um seine Vorstellungen von einer formierten Gesellschaft nicht allzu negativ klingen zu lassen, benutzt er schlauerweise das Zauberwort, das alle Volkspartei-Vertreter – ganz besonders aber seine „Mitbewerberin“ Kramp-Karrenbauer – derzeit am häufigsten strapazieren: Zusammenhalt, Zusammenhalt, Zusammenhalt.
Allerdings will Merz die offensichtlichen Widersprüche zwischen seinem Gesellschaftsbild und der rigiden Wettbewerbsideologie, die jenen Zusammenhalt zerstört, der ihm so am Herzen liegt, genauso wenig sehen wie Kramp-Karrenbauer. Und so ist die CDU bei aller behaupteten „Offenheit“ noch immer jene Verdrängungspartei, die gesellschaftliche Widersprüche am liebsten mit Versöhnungsphrasen zudeckt. Um die viel beschworene „Bandbreite“ der Volksparteien trotzdem irgendwie zu retten, flüchten CDU- wie SPD-Manager in „Debattencamps“, die als wilde „Kulturrevolution“ des Parteilebens gefeiert werden, aber meist so nett und adrett daherkommen wie ein Stuhlkreis im Kindergarten.
Gewinnt Merz die Wahl und kommt es in der Folge zu einer schwarz-gelben Renaissance, wird die SPD nicht – wie Klaus von Dohnanyi und andere vorschnell vermuten – nach links rücken, sondern die einmal besetzte Mitte mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ihr Ex-Parteichef Sigmar Gabriel schreibt sich dafür schon die Finger wund.
Jens Spahn, der Joker
Obwohl der „Kapitalistenknecht“ Merz mit Sicherheit der attraktivere Gegner wäre, würde seine Wahl die Annäherung zwischen SPD und Linkspartei paradoxerweise erschweren. Die Linkspartei würde sich weiter an der „Verräterpartei“ SPD abarbeiten („links blinken, rechts abbiegen“), die SPD würde die Linkspartei auch künftig als anti-europäischen Populistenzirkel schmähen. Die Ohnmacht der Gesamtlinken würde bleiben. Es sieht ganz danach aus, als könnten die CDU-Delegierten am 7. Dezember auch über die Zukunft der Linken entscheiden.
Welcher Kandidat wird das Rennen gewinnen? Die Stimmung, die sich im Höhenflug der Grünen Luft macht, spricht für einen lockeren Sieg Kramp-Karrenbauers – doch da ist ja noch der unberechenbare Joker Jens Spahn. Der Gesundheitsminister weiß, dass ihm in Hamburg ein grottenschlechtes Ergebnis droht. Um der Blamage zu entgehen, könnte er im letzten Moment zugunsten von Merz verzichten und sich dafür etwas zusichern lassen. Kommt es zu einem spontanen Bündnis von Spahn- und Merz-Anhängern in den beiden größten Landesverbänden Baden-Württemberg und NRW (die Ostdeutschen spielen aufgrund ihrer geringen Delegiertenzahl keine Rolle), könnte Kramp-Karrenbauer überraschend unterliegen.
Doch wichtiger als das „Horse Race“ der drei Kandidaten ist die Veränderung des Parteiensystems, die sich im Windschatten ihrer Talkshow-Auftritte vollzieht. Es zeigt sich nämlich, dass CDU und SPD nur noch als Gespann wirklich funktionieren. Entweder gewinnen beide – wie in Niedersachsen –, oder beide verlieren wie in Hessen. CDU und SPD werden von außen als Einheit, als Fusionspartei wahrgenommen und könnten sich ähnlich weiterentwickeln wie der Partito Democratico (PD) in Italien, der aus den Überresten von Christdemokraten, Linksliberalen und Kommunisten hervorging.
Die Flügel dieser Fusionspartei SPCDU hätten nach dem Willen des Philosophen Jürgen Habermas längst eine „demokratische Polarisierung“ einleiten sollen, um der AfD durch leidenschaftlichen Streit die Themen abzujagen und sie als politische Alternative überflüssig zu machen. Im November 2016 sagte Habermas: „Die politische Polarisierung müsste sich wieder zwischen den etablierten Parteien um sachliche Gegensätze kristallisieren.“ Doch die Zeit ist über Habermas’ Demokratiebelebungsvorschlag hinweggegangen. Der Philosoph konnte nicht ahnen, dass mit den Grünen ein neues Zentrum heranreift, das sowohl SPD- als auch CDU-Wähler anzieht und gleichzeitig als Gegenpol zur rechten AfD fungiert.
Dass die Grünen diese Doppelrolle – Zentrum und Pol zugleich zu sein – unhinterfragt spielen können, zeigt die fundamentale Schwäche, in die SPD und CDU geraten sind. Zum grünen Erfolg fällt weder den drei CDU-Kandidaten für den Parteivorsitz noch den SPD-Erneuerern etwas ein. Keine fundierte Analyse, keine Theorie, nichts. Anstatt sich zu polarisieren, buhlen CDU und SPD um die Gunst der neuen Mitte und erkennen neidvoll an, dass die einst belächelte Partei die richtigen Themen für das 21. Jahrhundert setzt. Tragen CDU und SPD ihren inneren Richtungsstreit nicht endlich offen aus, wird der Anspruch auf Erneuerung bloß leeres Gerede bleiben.
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