Im Rausch der Direktansprache

Amoklauf München Im Rausch der vielgelobten Direktansprache der Münchner Polizei vergaßen viele Bürger, dass diese auch ihre Nachrichten filtert und bisweilen Interessen verfolgt
Ausgabe 30/2016

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Polizei scheint sich seit Jan Böhmermanns Videohit Ich hab Polizei von distanziertem Respekt in wahre Liebe zu verwandeln. Die Zuneigung, die Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins in der Münchner Amoknacht entgegenschlug, war jedenfalls überwältigend. Nicht nur, weil der Mann – ungewöhnlich genug – die Bürger per Twitter und Facebook auf dem Laufenden hielt, er tat es in einer Sprache, die so verständlich, mitfühlend und beruhigend war, dass man von einer Sternstunde der psychologischen Betreuung der Öffentlichkeit sprechen kann. Egal worum es ging, ob es das Dementieren bizarrer Gerüchte oder die Ermahnung war, nicht leichtfertig Handyvideos vom Tatort ins Netz zu stellen – Marcus da Gloria Martins traf immer den richtigen Ton. Die Bürger dankten es, indem sie die Zahl der Follower binnen Stunden auf 200.000 katapultierten.

Verlierer der Nacht waren die Journalisten. Ihr Liveticker-Alarmismus aus zweiter Hand wurde nicht mehr gebraucht. Die Bürger wollten direkt zur Quelle, dorthin, wo „die echten Informationen“ geboten wurden. Im Handstreich übernahm die Polizei in dieser Nacht die Aufgaben des klassischen Polizeireporters. Während die Presse brav ins Pressezelt dackelte, nutzte sie ihr Informationsmonopol und verbreitete Exklusivnachrichten aus eigener Kraft.

Im Rausch dieser Direktansprache vergaßen viele Bürger allerdings, dass auch die Polizei ihre Nachrichten filtert und bisweilen Interessen verfolgt, die Teilen der Gesellschaft zuwiderlaufen. Sie ist eben Staatsorgan und kein Presseclub. Bei einem Amoklauf oder einem Terroranschlag mag das nicht weiter auffallen, weil alle Sympathien auf Seiten der Polizei sind, aber bei Staatsbesuchen, G7-Gipfeln, Großdemonstrationen oder Hausbesetzungen wäre das Problem sichtbar. In der Türkei erleben wir gerade, was passiert, wenn Staat und Polizei die Berichterstattung übernehmen. In den USA sehen wir, wie die Polizei durch militantes Auftreten Teil eines gesellschaftlichen Konflikts ist. Wie hätte ein „Cop-TV“ in diesen Fällen informiert? Welchen „Sachstand“ hätte die Berliner Polizei beim Einsatz in der Rigaer Straße getwittert?

Wenn Berichterstattung der „Sicherheitslage“ untergeordnet wird, bewegen sich kritische Fragen schon halb im Bereich des Unerlaubten. Wie die Frage, ob es wirklich nötig war, mit 2.300 Polizisten halb München lahmzulegen und der Polizei den Diskurs über das Ereignis zu überlassen. Hätte die Polizeiführung nicht früher sagen müssen, dass es nur einen Täter gab? Was veranlasste den Polizeisprecher dazu, noch gegen Mitternacht offen zu lassen, ob der aufgefundene „neunte Tote“ Opfer oder Täter war, obwohl sich der Mann vor den Augen der Polizisten erschossen hatte? Warum wurde nicht schneller bekannt gegeben, dass zwei der drei vermuteten Attentäter in Wahrheit Polizisten in Zivil waren? Die schwarz gekleideten, „Langwaffen“ tragenden Dunkelmänner waren von Bürgern irrtümlicherweise für Terroristen gehalten worden. Das heißt, die Polizei hat jene Panik, die sie auf Twitter souverän in Schach hielt, teilweise selbst erzeugt.

München zeigte – neben den unbestreitbar positiven Seiten – auch diese problematische Tendenz: Wenn die Polizei die Informationshoheit beansprucht und die Bürger per Twitter zu Hilfspolizisten macht, verschmilzt alles zu einem Aktenzeichen-XY-Livestream. Mit dem Unterschied, dass dieser nicht von einem Journalisten moderiert wird, sondern von einem „Info-Helden“ der Polizei.

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