Weitermachen, wo Willy Brandt aufgehört hat

Ukraine-Konflikt Die neue Außenministerin Annalena Baerbock täte gut daran, im Umgang mit Russland an die Entspannungspolitik des Altkanzlers anzuknüpfen. Helfen könnte dabei ausgerechnet eine ökologische Umdeutung von Nord Stream 2
Ausgabe 03/2022
Die Außenministerin in Moskau, Januar 2022: Wenn Annalena Baerbock bei Nord Stream 2 an Willy Brandt denkt, wird sie viel bewirken
Die Außenministerin in Moskau, Januar 2022: Wenn Annalena Baerbock bei Nord Stream 2 an Willy Brandt denkt, wird sie viel bewirken

Foto: ITAR-TASS/IMAGO

Die „plötzliche“ Konfrontation zwischen den USA und Russland – fast acht Jahre nach der „Einfrierung“ des Konflikts in der Ostukraine und auf der Krim – mag viele überrascht haben. Denn bislang konnte das Schlimmste immer verhindert werden. Die OSZE-Beobachtermission hangelte sich von Waffenstillstand zu Waffenstillstandsverletzung und die Außenpolitiker der EU erinnerten immer mal wieder pflichtschuldig an die Minsker Vereinbarung, die es strikt einzuhalten gelte. Erst im Frühjahr 2021 verschärfte sich die Lage: Russische Manöver, amerikanische Waffenlieferungen und das Gesuch der Ukraine, den Beitrittsprozess des Landes zur NATO zu beschleunigen, führten zur Eskalation. Seither wird gewarnt und gedroht und von roten Linien gesprochen, die niemand übertreten dürfe. Sonst gibt es – Krieg?

Die Präsidenten Russlands und der USA demonstrieren Stärke, weil es innenpolitisch gerade nicht so gut läuft. Die Bürger beider Staaten sind unzufrieden. Die russische Wirtschaft stagniert seit 2014, der Strukturwandel bleibt aus, die Sparpolitik Wladimir Putins trifft breite Bevölkerungsschichten. Dazu kommen die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die Geldentwertung.

Ähnlich in den USA: Die Transformation der Altindustrien wird gebremst, die Reallöhne sinken wegen steigender Preise, bald sind eine Million US-Amerikaner an Corona gestorben. Die Zustimmung zu Joe Biden ist von 55 auf 39 Prozent gefallen.

Putin und Biden brauchen also dringend Erfolge. Das Kriegsgerassel soll die abtrünnigen Patrioten wieder hinter ihren Präsidenten versammeln. Es ist absurdes Retro-Theater: Großmachtgehabe wie im 19. Jahrhundert. Kann Annalena Baerbock, die neue Klima-Außenministerin, in dieser antiquierten Aufführung alter Männer eine wichtige Rolle spielen? Darf sie überhaupt mitspielen? Keine Sorge: Sie wird. Und sie wird mehr bewirken als ihr Vorgänger Heiko Maas.

Die neue Bundesregierung möchte an die sozialliberale Entspannungspolitik Willy Brandts anknüpfen: „Mehr Friedenspolitik wagen“. 50 Jahre nach dem Nobelpreis und dem Erdgas-Röhrengeschäft mit der Sowjetunion wäre das die richtige Antwort. Aber kann die Regierung dort anknüpfen, wo Willy Brandt aufgehört hat?

Damals war die öffentliche Meinung für Entspannung. Liberale Medien kämpften dafür, Intellektuelle unterstützten sie. Heute dominieren Scharfmacher, die wertebasierte mit waffenbasierter Politik verwechseln. Entspannungsanhänger haben es da schwer. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, was sich SPD-Politiker an Appeasement-Vorwürfen anhören müssen, wenn sie fordern, den Ukraine-Konflikt nicht mit der Gazprom-Pipeline zu vermengen. Deren Inbetriebnahme sehen sie als vertrauensbildende Maßnahme, so wie im Jahr 1970 Willy Brandt das Erdgas-Röhrengeschäft.

Nord Stream 2 könnte der Auftakt sein für die große ökologische Transformation: Denn Russland will mit seinen riesigen Energiekapazitäten Wasserstoff für die europäische Wirtschaft produzieren und durch Nord Stream verschicken. Mit technischer Hilfe könnte es auch grüner Wasserstoff sein.

Wären Biden und Putin für diesen „Wandel durch Annäherung“ zu gewinnen? Warum nicht. Trotz aller „harten“ Sanktionen kaufen die USA heute mehr russisches Öl denn je. Künftig eben Wasserstoff. Die Terminals dafür werden gerade gebaut. Angesichts solcher Herausforderungen ist Krieg wegen der NATO purer Anachronismus.

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