„Wir wollen prüfen, ob Deutschland ein Schlaraffenland werden kann“

Ampel 177 Seiten lang ist der Koalitionsvertrag. Wer ihn liest, braucht starke Nerven – und kann sich auf herbe Enttäuschungen gefasst machen, trotz der guten Seiten
Dieser Vertrag wurde Ihnen von Michael, Norbert, Annalena, Robert, Olaf, Christian, Volker, Saskia und Lars präsentiert. Sie haben sich ganz doll lieb.
Dieser Vertrag wurde Ihnen von Michael, Norbert, Annalena, Robert, Olaf, Christian, Volker, Saskia und Lars präsentiert. Sie haben sich ganz doll lieb.

Foto: Odd Andersen/AFP via Getty Images

Was wurde für ein Aufhebens gemacht um diese Ampelverhandlungen! Wie viele Leitartikel, Talkshows, Live-Blogs, Eil- und Exklusivmeldungen haben sie produziert? Dabei schlossen Grüne, Liberale und Sozialdemokraten gar keinen Vertrag, sie formulierten lediglich eine Absichtserklärung. Früher nannte man solche „Verträge“ weniger hochtrabend „Vereinbarungen“ oder „Abkommen“. Sie glichen einem Handschlag, umfassten nur wenige Seiten und erregten kaum die Neugier von Journalisten. Entscheidend waren die Regierungserklärungen.
Erst in den 1990er Jahren schwollen die Koalitionsvereinbarungen zu regelrechten Broschüren an, lagen aber noch unter 100 Seiten. 2005 füllte der „Koalitionsvertrag“ zwischen Angela Merkel und Franz Müntefering – ohne „Anlagen“ – 166 Seiten, 2013 waren es 185, jetzt sind es 177, aber so eng bedruckt und in so kleiner Schriftgröße, dass man von einem dicken Schmöker reden muss.

Können die Koalitionäre von heute das Wasser nicht mehr halten? Müssen sie jedes Politikfeld bis ins kleinste Detail regeln, weil sich die beteiligten Parteien ohne schriftliche Vereinbarungen nicht über den Weg trauen würden? Wird Regieren nicht zu einem bloßen Abarbeiten langer Auftragslisten?

Wer den aktuellen Koalitionsvertrag liest, braucht starke Nerven. Und Durchhaltewillen. Denn der Text besteht zu 90 Prozent aus Phrasengeblubber, das direkt aus einem Management-Seminar für Marketingfachleute stammen könnte. Das Wirtschaftskapitel enthält das komplette Arsenal inhaltsloser Imponiervokabeln von „Best-Practice-Projekten“ bis zu „Science-Entrepreneurship-Initiativen“, von „Transformationsclustern“ bis zu „One Stop Shops“, von „Easy Tax-Modellen“ bis zu „Shared Service-Plattformen“. Alle englischsprachigen Schlagworte werden aufgefahren, um die eigene Modernität zu behaupten, jede gesellschaftliche Regung wird von dieser Koalition gefördert und gestärkt, staatliches Handeln entbürokratisiert, vereinfacht und beschleunigt, nationale Aktionspläne, Masterpläne und Strategien gibt es im Dutzend (von der Resilienz- bis zur Eiweißpflanzen-Strategie), Konzepte werden vorangetrieben, Effizienzpotentiale gehoben und Zukunftspakete geschnürt.

Die guten Seiten

Wenn 300 Fachpolitiker in 22 Arbeitsgruppen an einem gemeinsamen Koalitionsvertrag werkeln, möchte eben jede Gruppe ihre Duftmarken hinterlassen und so gibt es in diesem Vertrag von allem zu viel. Zu viel „wir wollen“, „wir prüfen“, „wir evaluieren“, „wir modernisieren“, „wir beschleunigen“. Wegen dieses Übermaßes an Vorhaben (es sind, geschätzt, wohl über 1.000) entsteht bei der Lektüre spontan der Verdacht: Hier veräppeln uns überehrgeizige Politiker mit der Illusion, sie könnten die real existierende Bundesrepublik Deutschland in wenigen Jahren in ein demokratiepolitisches Schlaraffenland verwandeln, in dem alle die gleichen Chancen genießen, respektvoll und fair miteinander umgehen, sich klimaneutral verhalten und mit ihrer wohlstandsgesicherten Nachhaltigkeitsmoral Europa und die Welt beglücken.

Dass ein solcher Eindruck entsteht, ist schade, weil der Koalitionsvertrag auch gute Seiten hat, wenn auch selten konkrete. Da wäre als erstes zu nennen: die Einrichtung eines Krisenstabs beim Bundeskanzleramt, um die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in Zukunft besser aufeinander abstimmen zu können. Da wäre die Anpassung des Familienrechts an eine längst existierende gesellschaftliche Diversität, ein Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik, die Einführung einer Kindergrundsicherung, die Anhebung des Mindestlohns. Ob das Versprechen, staatliche Förderungen und Forderungen zu vereinfachen und zu beschleunigen heiße Luft ist, steht noch dahin, bislang endeten alle Entbürokratisierungs- und Entfesselungsankündigungen in noch umständlicheren Verfahren. Der Beschleunigungs- und Vereinfachungsdrang dieser Koalition richtet sich denn auch mehr an die Wirtschaft als an die Bürger. Der Wirtschaft wird auf fast jeder Seite des Vertrags zu verstehen gegeben, dass die Planung und Durchführung von Projekten künftig nicht mehr an irgendwelchen Hemmnissen, Verzögerungen oder Einsprüchen scheitern werde. Es gehe schließlich darum, immer effizienter, immer innovativer, immer wettbewerbsfähiger zu werden.

Im Zentrum des Koalitionsvertrags steht also die Wirtschaft. Von dort kommt logischerweise auch der lauteste Beifall. Die Wirtschaft wird mit Forschungssubventionen, Fördertöpfen und Transformationsfonds geradezu überhäuft, denn sie ist es, die nach Ansicht des Koalitionsbündnisses für den Weg zur Klimaneutralität gewonnen und deshalb entsprechend umgarnt werden muss. Ergo: keine Steuererhöhungen, sondern „Superabschreibungen“ und Entlastungen. Die Mobilisierung des erforderlichen Geldes für die Transformation scheint dennoch kein Problem zu sein, die Finanzierung läuft – oft am Haushalt vorbei - über Staatsfonds und staatliche Förderbanken. Die Frage ist nur, wo die ganzen Bauarbeiter, Handwerker und IT-Fachleute herkommen sollen, die all die schönen Schreibtisch-Programme umsetzen müssen: den Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr, den beschleunigten Ausbau von Solarenergie und Windkraft, den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft, die Digitalisierung sämtlicher Behörden, des Gesundheitswesens, der Schulen und der Energiewirtschaft, die Errichtung neuer Stromnetze, Eisenbahnstrecken, Mobilfunkmasten und E-Ladesäulen, von der Modernisierung der veralteten Infrastruktur ganz zu schweigen.

Grün-gelbe Selfie-Koalitionäre

Wer den Vertrag etwas genauer studiert, kommt um die Einsicht nicht herum: dies ist ein Langzeitprogramm wie der 1975 von der SPD beschlossene „Orientierungsrahmen 85“, kein Programm für nur eine Legislaturperiode. Das von der Ampelkoalition geforderte „Innovations- und Investitionsjahrzehnt“ beansprucht ja auch die kompletten zwanziger Jahre, man könnte den Vertrag sogar als „Agenda 2045“ bezeichnen. Allerdings hätte die Koalition dies bei der Vorstellung des Vertrags viel deutlicher herausstellen müssen, als vierjähriges Regierungsprogramm wirkt das Ganze überladen, ja überfrachtet und wird zu herben Enttäuschungen führen.

Wie Joe Bidens US-Agenda ist das „Erneuerungsprogramm“ der Ampelkoalition ganz auf die Innenpolitik gerichtet. Außenpolitisch enthält der Vertrag keine einzige interessante Idee, er beschränkt sich auf ein bräsiges Weiter so, garniert mit den üblichen Ehrerbietungen gegenüber den Verbündeten. Zwar ist von einer „wertebasierten“ Außenpolitik und einer wiederauflebenden „Systemkonkurrenz“ die Rede - gemeint sind vor allem Russland und China -, aber auch gegenüber diesen Ländern dominieren letztlich die Wirtschaftsinteressen.

Der Kontrast zwischen der völlig ambitionslosen Außenpolitik und dem Überschwang, mit dem die Koalitionäre „Aufbruch und Erneuerung“ im Inneren beschwören, könnte nicht größer sein. Der Grund dafür liegt in der Vorgängerregierung. Auch 1998, als die endlose Ära Helmut Kohls endlich vorbei war, lautete die Überschrift über dem rot-grünen Koalitionsvertrag „Aufbruch und Erneuerung“; Gerhard Schröder und Joschka Fischer gebärdeten sich so „modern“ und „hip“ wie die grün-gelben Selfie-Koalitionäre von heute. Vielleicht lässt sich ihre sonderbare Gier, jede popelige Detailregelung im Koalitionsvertrag mit der Aura der Modernisierung zu umgeben, ihre peinliche Sucht, überall „Dynamiken auslösen“ und „Umbrüche gestalten“ zu wollen, nur damit erklären, dass die bleierne Endzeit einer 16-jährigen Kanzlerschaft nicht anders verscheucht werden kann als mit dem inflationären Gebrauch von Erneuerungsvokabeln, neuem Outfit und neuem Umgangston: Dieser Vertrag wurde Ihnen von Olaf, Annalena, Robert, Michael, Christian, Volker, Saskia, Norbert und Lars präsentiert. Sie haben sich ganz doll lieb.

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