Der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen fast ein Jahr und es sieht so aus, als würde er sich noch lange hinziehen. Beide Armeen graben sich ein, um den Winter in ihren vereisten oder verschlammten Schützengräben zu überdauern. Experten sprechen bereits von einem Stellungskrieg, der an den Ersten Weltkrieg erinnere. Die beiden Kriegsparteien versuchen, sich gegenseitig auszubluten wie bei der Schlacht um Verdun 1916. Damals fielen mehr als 300.000 Soldaten, 167.000 auf französischer und 150.000 auf deutscher Seite. 50 Millionen Artilleriegranaten verwandelten das Waldgebiet in eine surreale Kraterlandschaft, über die sich im Sommer unerträglicher Leichengestank legte. Die Soldaten, die hier von ihren Generälen regelrecht verheizt wurden, nannten da
Warum die Friedensforschung in einer tiefen Krise steckt
Wissenschaft Wie vermeidet und beendet man Kriege? Die Friedensforschung müsste Antworten liefern. Doch die Disziplin steckt in der tiefsten Krise ihrer jahrzehntelangen Geschichte. Dafür gibt es Gründe

Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Friedensforschungsinstituts bringt Aussortiertes in die Rumpelkammer der Uni
Foto: Micha Bar-Am/Magnum Photos/Agentur Focus
stank legte. Die Soldaten, die hier von ihren Generälen regelrecht verheizt wurden, nannten das Schlachtfeld „Knochenmühle“ und „Blutpumpe“.Die „Hölle von Verdun“ sollte sich nie wiederholen. Aktivisten der Friedensbewegung und die vom Krieg erschütterten Politiker drängten deshalb bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 darauf, die Analyse von Konfliktursachen und die Bedingungen des Friedens künftig in eigens zu gründenden Instituten systematisch erforschen zu lassen. US-Präsident Woodrow Wilson hatte in seinen „14 Punkten“ im Januar 1918 die Einrichtung eines Völkerbundes vorgeschlagen, dessen Aufgabe es sein sollte, Streitschlichtung zwischen den Staaten zu organisieren und zu moderieren, und dafür brauchte es – neben viel gutem Willen und diplomatischem Geschick – wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ursachen von Krieg und Frieden.Am 30. Mai 1919 verabredeten die Delegationen der beiden Siegermächte USA und Großbritannien, solche Forschungsinstitute in ihren Ländern einzurichten. Das war die Geburtsstunde der Friedens- und Konfliktforschung im Rahmen der akademischen Disziplin „Internationale Beziehungen“. Das neue Teilgebiet der Politikwissenschaft war gedacht als eine vom Völkerrecht inspirierte idealistische „Friedenswissenschaft“. In Zeiten opportunistischer Regierungsberatung ist das leider weitgehend vergessen.Als SIPRI gegründet wurdeWährend sich die Friedens- und Konfliktforschung in den angelsächsischen Ländern in den 1920er Jahren fest etablierte, brauchte es noch einen weiteren Weltkrieg, bis die neue Fachrichtung – mit tatkräftiger Unterstützung zurückkehrender Emigranten – auch in Europa Wurzeln schlagen konnte. Als Gründervater der europäischen Friedensforschung gilt der Soziologe und Gandhi-Verehrer Johan Galtung, der 1959 mit seinem Peace Research Institute Oslo (PRIO) einen ersten Pflock einschlug. 1966 folgte das von den sozialdemokratischen Vordenkern Alva und Gunnar Myrdal mithilfe der schwedischen Regierung gegründete Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), das heute weltweit am bekanntesten ist, vor allem wegen seines jährlich publizierten Berichts zu den internationalen Rüstungsausgaben.Die deutschen Professoren benötigten sogar noch einen dritten Krieg, dazu einen kräftigen Anstoß durch die Studentenbewegung und einen politischen Machtwechsel in Bonn, um den Frieden als eigenständiges Forschungsthema akzeptieren zu können. Der Vietnamkrieg vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Ost-West-Konflikts, die Antikriegs-Proteste der Jugend und ein pazifistischer Bundespräsident, der als Rechtsanwalt Kriegsdienstverweigerer verteidigt und sich der deutschen Wiederbewaffnung wie dem NATO-Beitritt vehement widersetzt hatte, lösten schließlich den Knoten. In seiner Antrittsrede am 1. Juli 1969 sagte der neue Bundespräsident Gustav Heinemann: „Ich sehe als Erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall…, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben.“ Heinemann forderte, endlich auch in Deutschland Friedensforschung zu betreiben. Denn sie und die Entspannungspolitik sollten sich gegenseitig befruchten.Hessen, Hamburg, Bonn und Duisburg-EssenDrei SPD-Ministerpräsidenten, die den Krieg noch am eigenen Leib erfahren hatten, ergriffen schließlich die Initiative und ermöglichten gegen den heftigen Widerstand der Unionsparteien, die eine Unterwanderung durch „linke Kaderschmieden“ fürchteten, die Gründung der ersten westdeutschen Friedensforschungsinstitute. In Hessen überreichte Albert Osswald im Oktober 1970 die Stiftungsurkunde an das Professorentrio Ernst-Otto Czempiel, Dieter Senghaas und Hans Nicklas. In Hamburg überließ Herbert Weichmann im Juni 1971 auf Drängen des Philosophie-Professors Carl Friedrich von Weizsäcker den zukünftigen Friedensforschern um General a.D. Wolf Graf von Baudissin eine Villa in Blankenese und in Nordrhein-Westfalen förderte Johannes Rau in den 1990er Jahren die Gründung der auf Friedens- und Entwicklungspolitik spezialisierten Institute in Bonn und Duisburg-Essen.Diese vier Institute bilden heute den Kern der deutschen Friedensforschung inner- wie außerhalb des Universitätsbetriebs. Sie beraten die Politik, kooperieren eng mit einzelnen Bundesministerien und geben seit 1987 das viel beachtete jährliche Friedensgutachten heraus, in dem sich neben Analysen und Arbeitsberichten zahlreiche Handlungsempfehlungen für die Politik befinden. In diesem Jahr aber gab es eine Premiere der besonderen Art. Erstmals mussten sich die Friedensforscher, abseits ihrer Routine, zu einem Krieg äußern, der vor ihrer Haustür stattfindet, an dem die Bundesregierung mit Sanktionen, Waffenlieferungen, Finanzhilfen und Soldatenausbildung aktiv beteiligt ist. Ein Krieg also, der das ganze Know-how der Friedensforschung zur Erklärung von Kriegsursachen sowie zu innovativen Friedenslösungen einfordern würde. Genau hier beginnt die Enttäuschung.So vage wie Olaf ScholzWeder analysierten die Friedensforscher die Ursachen des Krieges, also die kriegsauslösenden Prozesse und Entscheidungen, noch boten sie Lösungen an, wie die Konfliktparteien aus der Situation wieder herausfinden könnten. Sie blieben so vage und nichtssagend wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seinen Reden. Sie trauten sich nicht, auch nur ein Grad von der offiziellen Regierungslinie abzuweichen, und sie vermieden in ihren Handlungsempfehlungen jegliche eigene Handschrift.Der berühmte Ernstfall ließ die Friedensforscher ziemlich alt aussehen. Was zu der bitteren Frage führt: Ist die deutsche Friedensforschung im Verlauf ihres 50-jährigen Bestehens so behäbig und selbstgenügsam geworden, dass sie ihren Gründungsimpuls nicht mehr spürt? Will sie die Zeitenwende von der einst gelobten Entspannungs- zur forsch formulierten Kriegsvorbereitungspolitik ähnlich verdruckst und schuldbeladen mitgehen wie die aktuelle Führung der Sozialdemokratie? Oder gibt es strukturelle Gründe, die eine eigenständige Positionierung verhindern? Zugespitzt formuliert: Hat die Friedens- und Konfliktforschung ihre Ursprünge verraten?Was Insider sagenWer mit Insidern darüber spricht, stößt auf ein ganzes Bündel von Gründen. Am bedeutendsten vielleicht: Die erste Generation ist nicht mehr aktiv. Galtung ist 92, Senghaas 82, Czempiel starb 2017. Bei diesen Initiatoren war die Friedensforschung noch mit jenem Imperativ verbunden, der als Kontrapunkt zu klassischen Militärstrategen wie Clausewitz fungierte. „Wer den Frieden will“, so die Logik der Friedensforschung, darf nicht den Krieg, er „muss den Frieden vorbereiten“. Czempiel, wie Galtung Strukturalist, sah in einer konsequenten Demokratisierung sowie in der Aufwertung internationaler Organisationen wie der OSZE die Voraussetzungen für ein erfolgreiches „Frieden machen“. Militärbündnisse wie die NATO seien dagegen kontraproduktiv. 1997 schrieb Czempiel in seinem Essay „Alle Macht dem Frieden“: „China wurde durch den taiwanesischen Präsidenten Lee und dessen Besuchsdiplomatie provoziert, darauf hat es reagiert. Russland wurde, nachdem es zur ‚Partnerschaft für den Frieden‘ eingeladen worden war, durch den plötzlichen Schwenk der USA in Richtung Osterweiterung der NATO düpiert.“Wie nahezu alle Friedensforscher seiner Generation, wie nahezu alle pensionierten Politiker, von Helmut Schmidt über Hans Dietrich Genscher, Günter Verheugen und Erhard Eppler bis zu Helmut Kohl, benannte er klar die Fehler des Westens, die – so die Befürchtung – über kurz oder lang zu einer gewaltsamen Konfrontation mit Russland führen müssten. Doch das Studium der Vorgeschichte von Kriegen ist bei heutigen Friedensforscherinnen und Friedensforschern ein blinder Fleck. Sie reagieren ad hoc, ohne tieferes Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge.Berater der RegierungMitursache dieser Entwicklung mag sein, dass sich die bestehenden Friedensforschungsinstitute immer stärker in die Politikberatung einbinden lassen. Direkte Kooperationen mit Regierungsstellen, etwa mit dem Auswärtigen Amt oder mit dem Innenministerium, wurden in den vergangenen Jahrzehnten gezielt ausgebaut, die größer werdende finanzielle Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen bewirkt darüber hinaus ein weitgehendes Wohlverhalten gegenüber den Geldgebern und führt zu einer vorauseilenden Anpassung an die Erwartungen der jeweils Regierenden.Überdies, so vermuten insbesondere ältere Friedensforscher, habe die fortschreitende Akademisierung des Fachs zugleich seine Entpolitisierung bewirkt. Durch die Einrichtung von Masterstudiengängen und das Bestreben mancher Institute, in die nationale Forschungselite der Leibniz-Gemeinschaft aufgenommen zu werden, konzentrierten sich jüngere Wissenschaftler heute mehr auf ihre Universitätskarriere als auf den ursprünglich mit der Friedensforschung verbundenen idealistischen Ansatz des „Friedenmachens“ und der Kriegsvermeidung. Der jungen Generation komme es mehr auf das Sammeln von wissenschaftlichen Reputationspunkten an, die durch gutachterlich bewertete (also Peer-Review-) Aufsätze in einschlägigen Fachpublikationen erlangt werden. Diese Art der Qualitätskontrolle durch bewährte Fachkollegen fördere nicht nur die wissenschaftliche Qualität des Nachwuchses, sondern auch dessen Anpassung an das Bestehende, weniger die Risikobereitschaft, neue ungewöhnliche Wege zu gehen.Die Sprache der NATOAm gravierendsten aber ist die Entwicklung, dass sich bei heutigen Friedensforschern eine Desillusionierung gegenüber dem eigenen Gründungsmythos breitmacht. Der idealistische Ansatz eines Woodrow Wilson 1918 oder eines Gustav Heinemann 1969 wird, angesichts weltweiter Krisen und vergleichbar der Tendenz in den 1930er Jahren, immer häufiger von anti-idealistischen Einschätzungen überlagert. Die Friedensforschung, so könnte man die (unbewusste?) Gemütslage auf den Punkt bringen, zweifelt an sich selbst. Als psychologischer Ausweg und als Verdrängungsmechanismus bietet sich da der Unterschlupf in der Politikberatung quasi von selbst an. Nur so glaubt man, die eigene Bedeutung erhalten und sich gleichzeitig davor schützen zu können, in die Ecke der „Putin-Propagandisten“ oder der „idealistischen Traumtänzer“ abgedrängt zu werden.Es ist jedenfalls auffällig, wie problemlos sich die Friedensforschungsinstitute in ihrem jüngsten Friedensgutachten dem allgemeinen Druck nach Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet beugten, wie blind man sich dem Eskalationspotential der Kriegsparteien ergab und wie bereitwillig die Sprachregelungen der Regierung und der NATO übernommen wurden. In ihren Anfangsjahren hatten die Friedensforscher damit zu kämpfen, als „linke Kaderschmieden“ diffamiert und ausgegrenzt zu werden, jetzt wäre es an der Zeit, sich auf diese Ursprünge zu besinnen und sich als wissenschaftlicher Arm der Friedensbewegung und nicht als ziviles Feigenblatt einer militarisierten Außenpolitik zu begreifen.